Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Mitsteuerzahler! Wenn jemand so schwer krank ist, wie es die Gemeindefinanzen sind, dann reicht es doch nicht aus, Herr Kollege Bernrath, mit dem Rezept zu wedeln oder, Herr von Schmude, zu behaupten, der Gärtner sei
Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Freitag, den 2. Dezember 1983 2829
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schuld, oder zu versprechen, der Arzt käme in ein paar Monaten.
Wir GRÜNEN sehen es als eine unserer wesentlichen Aufgaben im Bundestag an, die zentralstaatliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur zu stoppen, sondern einen Prozeß der Dezentralisierung einzuleiten.
— Nicht unbedingt.
Hierzu gehört eine Änderung der Steuerverteilung zugunsten der kommunalen Ebene. Allerdings ist es hiermit allein nicht getan. Erforderlich ist vielmehr eine Stärkung der Finanzautonomie der Gemeinden sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite des Haushalts.
Auf der Gemeindeebene, meine Damen und Herren, wird unser Lebensumfeld am spürbarsten gestaltet. Dies ist auch die Ebene, auf der der Bürger am ehesten ansetzen kann, um auf die Gestaltung seiner Umwelt selber Einfluß zu nehmen. Dies ist auch der Grundgedanke unserer Finanzverfassung.
Aber entspricht denn eigentlich die heutige Realität noch dieser Idee? Welchen Regeln und Gesetzen folgt die Politik der Stadträte, der Gemeinderäte, der Kreistage? Waren etwa die Lebensbedürfnisse der Bewohner dafür entscheidend, daß sich dort, wo ehemals Plätze der Begegnung waren, heute die Pfeiler der Stadtautobahn erheben, daß reizvolle Grünflächen als Ansiedlungsfläche für Industrieunternehmen verteilt wurden, daß Städte mit menschenunwürdigen Betonsilos umrandet sind, daß diejenigen, die, von diesem Lebensumfeld sozial geschädigt, die Hilfe des Sozialarbeiters suchen, inzwischen erfahren müssen, daß dessen Stelle leider gestrichen werden mußte?
Wer das Bild, das viele Städte und Gemeinden heute bieten, allein mit den vielzitierten ökonomischen Sachzwängen erklärt, verschweigt die Schuld der Finanzpolitik, verschweigt insbesondere die Finanzzwänge, die vom Bund den Gemeinden auferlegt werden.
So stellen die Finanzhilfen für Investitionen, insbesondere im Straßenbaubereich, das reinste Prämiensystem für gigantomanische und ökologisch schädliche Projekte dar.
Durch die ständige bundesgesetzliche Verringerung der Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer sind die Gemeinden teilweise zu einem geradezu selbstmordverdächtigen Verhalten gezwungen; selbstmordverdächtig sowohl in dem Sinne, daß alle ökologischen Schäden in Kauf genommen werden, als auch im haushaltspolitischen Sinne, daß oft infrastrukturelle Vorleistungen erbracht werden, die die Gemeinden auf Jahre hinaus in die desolatesten Haushaltslagen versetzen. Zudem werden ruinöse Wettbewerbe zwischen den konkurrierenden Gemeinden ausgetragen, die zu volkswirtschaftlicher Verschwendung führen.
Auch wird die Idee des Hebesatzrechts bei der Gewerbesteuer ad absurdum geführt. Die Höhe des Hebesatzes stellt kein Spiegelbild der Kosten dar, die ein Betrieb in seinem Ansiedlungsort verursacht, sondern ein Spiegelbild der Erpreßbarkeit der Gemeinde.
Das Hebesatzrecht, das als Beweis der finanziellen Unabhängigkeit der Gemeinden gegenüber den übergeordneten staatlichen Ebenen angeführt wird, kann als solches nicht funktionieren, wenn statt dessen die totale finanzielle Abhängigkeit von wenigen Gewerbebetrieben oder gar nur einem Gewerbebetrieb besteht. Es ist ja bekannt, daß inzwischen nur noch ein Drittel aller Betriebe Gewerbesteuer zahlt.
Insgesamt führten diese Entwicklungen dazu, daß der Anteil der gemeindlichen Steuereinnahmen an ihren Gesamteinnahmen nur noch ein Drittel ausmacht. Hiervon entfällt nur noch die Hälfte auf die Realsteuern, also auf die Steuern, die die Gemeinden angeblich autonom variieren können. Dadurch sind die Gemeinden gezwungen, ständig an der Gebührenschraube für kommunale Dienste zu drehen.
Diesem engen Einnahmenkorsett steht ein mindestens ebenso enges Ausgabenkorsett gegenüber, das von der Finanzpolitik des Bundes ständig fester geschnürt wird. Die am Ende der nächsten Woche aller Voraussicht nach verabschiedeten Haushaltsbegleitgesetze werden erneut die Auswirkungen eines verfehlten wirtschaftspolitischen Konzepts auf die Gemeinden abwälzen. Dann werden wieder weitere Teile der Gemeindefinanzen durch die Sozialhilfe absorbiert. Wie sollen die Gemeinden anders reagieren, als weiterhin die wenigen Ausgabenbereiche, über die sie autonom bestimmen können, zu kürzen? Das bedeutet dann ganz konkret — und das können wir und vielleicht auch Sie in der Heimatgemeinde spüren —: weitere Schließung von Seniorentagesheimen, geringere Ausgaben für Landschaftspflege, kein Ausbau des Bestandes der öffentlichen Büchereien, Verringerung der Investitionen im Umweltschutz,
kein Ausbau von Radwegenetzen oder, wie in unserer Gemeinde, Erhöhung der Kindergartengebühren auf ein Niveau, das es vielen Eltern nicht mehr ermöglicht, ihre Kinder dort hinzuschicken,
— um fast das Doppelte — Kürzung von Recyclingversuchen in der Abfallwirtschaft, Kürzung von Zuschüssen für Volkshochschulen und eine ganze Reihe von weiteren Maßnahmen mehr.
Aber diese Entwicklungen sind nicht erst mit dem Regierungswechsel in Gang gekommen. Bei diesen Entwicklungen gab es keine Wende. Das ist sehr zu bedauern. Sie sind vielmehr schon während der SPD/FDP-Regierung in Gang gesetzt worden. Auch unter Ihrem Bundeskanzler wurden Haushaltsstrukturgesetze verabschiedet, für die man als
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Synonym auch das Wort „Gemeindebelastungsgesetz" verwenden könnte. Insbesondere beim Abbau der Gewerbesteuer hat sich die SPD hervorgetan. So ist es eigentlich verwunderlich, finden wir, daß die SPD heute einen Gesetzentwurf zur Stärkung der Gemeindefinanzen vorlegt. Nichtsdestoweniger begrüßen wir diesen Gesetzentwurf.
Insbesondere halten wir es für unbedingt erforderlich, daß die Kürzungen bei der Hinzurechnung von Dauerschulden bzw. Dauerschuldzinsen für die Gewerbekapitalsteuer bzw. Gewerbeertragsteuer rückgängig gemacht werden. Aber auch der von der SPD/FDP-Regierung eingeführte Freibetrag bei. der Hinzurechnung der Dauerschulden ist unseres Erachtens zu streichen. Als richtig bewerten wir auch den Vorschlag, größere Betriebe von Freiberuflern in die Gewerbesteuerpflicht einzubeziehen. Nur durch Vergrößerung des Kreises der Steuerpflichtigen wird die Abhängigkeit der Gemeinden von einigen wenigen Steuerpflichtigen aufgehoben.
Wir schlagen darüber hinaus vor, die jetzigen Freibeträge bei der Gewerbesteuer zu überprüfen und statt der Freibeträge Freigrenzen einzuführen. Hierdurch käme der Verzicht auf die Besteuerung des Gewerbeertrages und -kapitals tatsächlich nur den kleinen Betrieben zugute und begünstigte nicht gleichzeitig Großbetriebe. Auch schlagen wir vor, zu prüfen, welche Wirkungen Steuersätze haben, die nach Größenklassen des Gewerbekapitals gestaffelt sind.
Wir begrüßen auch den Vorschlag der SPD, den Gemeindeanteil an der Einkommensteuer anzuheben. Allerdings ist dies wegen der regionalen Wirkungen zur Zeit noch nicht das Nonplusultra. Der Verteilungsschlüssel für den Einkommensteueranteil begünstigt wohlhabende Gemeinden und benachteiligt relativ gerade die sozialen Brennpunkte, deren Haushalte besonders belastet sind. Wir schlagen deshalb vor, für die Verteilung der Einkommensteuer unter den Gemeinden nicht nur das bisherige Kriterium „Örtliches Einkommensteueraufkommen", sondern auch das Kriterium „Örtliche Arbeitslosenrate" anzuwenden.
Für die Gemeinden und Städte muß eine finanzielle Lage geschaffen werden, die die Gemeindewirtschaft nicht mehr reduziert auf Gewerbeansiedlungsprogramme, kostenlose Flächenerschließung für die Großindustrie, Vernachlässigung von ökologischen Notwendigkeiten durch mangelnden Umweltschutz, Gewährung von Sondertarifen bei Wasser und Strom und große Sozialhilfebürokratie. Gemeindewirtschaft in unserem Sinne sollte z. B. beinhalten: Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs, Verbesserung der Wasserwirtschaft, Schaffung neuer Energieversorgungssysteme und von Recyclingverfahren der Abfallwirtschaft.
Gemeindewirtschaft sollte aber nicht auf diese investive Tätigkeit begrenzt sein. Vielmehr gehört hierzu unseres Erachtens auch die Unterstützung von selbstverwalteten Kollektiven, die im gewerblichen und im sozialen Bereich tätig sind. Die Gemeinden könnten die örtlichen Projekte und Initiativgruppen durch Beratungsstellen und Verpachtung von Betrieben und Ausrüstung fördern.
Meine Damen und Herren, kanadische Programme haben bewiesen, daß örtliche Arbeitsbeschaffungsprogramme erfolgreich sind. Hier wurden von selbstverwalteten Gruppen selbst erdachte Projekte durchgeführt, die Lücken in öffentlichen Leistungen aufgezeigt haben, die die Bürokratie auf Grund ihrer Strukturen nicht erkennen und nicht in gleicher Weise erfolgreich schließen konnte. Die Finanzierung dieser Maßnahmen in diesem kanadischen Modell erfolgte aus Fonds, an denen die Kommune beteiligt war.
Wir halten solche Initiativenfonds für ein übertragbares Modell. Wir sehen hierin die Chance, Selbsthilfegruppen zu fördern, die von den christlichen Parteien nur als Trittbrett für den Abbau von Sozialleistungen mißbraucht werden.
Finanzautonomie der Gemeinden beinhaltet für uns auch die Autonomie, solche Initiativen zu fördern, um so dem Ziel, die Städte wieder lebenswerter zu machen und dem Begriff der örtlichen Gemeinschaft wieder einen Sinn zu geben, ein Stück näherzukommen.
Schönen Dank!