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ID1000402800

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    Plenarprotokoll 10/4 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 4. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 4. Mai 1983 Inhalt: Nachruf auf den Abg. Dallmeyer . . . . 55 A Eintritt des Abg. Saurin in den Deutschen Bundestag 55 B Glückwünsche zum Geburtstag des Abg Franke (Hannover) 55 C Begrüßung des Ministerpräsidenten von Spanien, Herrn Felipe González-Márques, seiner Gattin und der Mitglieder seiner Delegation 55 C Wahl der Schriftführer — Drucksache 10/44 — 55 D Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Dr. Kohl, Bundeskanzler 56 A Dr. Vogel SPD 74 D Dr. Waigel CDU/CSU 93 A Genscher, Bundesminister AA 104 B Frau Beck-Oberdorf GRÜNE 112 D Dr. Ehmke (Bonn) SPD 117C Rühe CDU/CSU 124 B Frau Kelly GRÜNE 128 D Schäfer (Mainz) FDP 131 B Voigt (Frankfurt) SPD 133 B Bastian GRÜNE 135C Klein (München) CDU/CSU 138 B Büchler (Hof) SPD 139 B Lintner CDU/CSU 141 B Schneider (Berlin) GRÜNE 143A Ronneburger FDP 144A Präsident Dr. Barzel 71 C Nächste Sitzung 145 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 146*A Anlage 2 Amtliche Mitteilungen 146* A Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 4. Mai 1983 55 4. Sitzung Bonn, den 4. Mai 1983 Beginn: 10.00 Uhr
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    Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens* 6. 5. Berschkeit 6. 5. Böhm (Melsungen) * 6. 5. Büchner (Speyer) 6. 5. Dr. Enders* 6. 5. Dr. Engelsberger 6. 5. Hartmann 6. 5. Dr. Hornhues 6. 5. Kittelmann* 5. 5. Lahnstein 5. 5. Lemmrich* 5. 5. Frau Pack* 4. 5. Rösch* 4. 5. Schröer (Mülheim) 4. 5. Spilker 6. 5. Frau Steinhauer 6. 5. Vogt (Duren) 5. 5. Dr. Vohrer* 4. 5. * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlage 2 Amtliche Mitteilungen Der Präsident des Bundesrates hat mit Schreiben vom 29. April 1983 mitgeteilt, daß die Regierungen der Länder folgende Mitglieder und stellvertretenden Mitglieder des Bundesrates für den Ausschuß nach Artikel 77 Abs. 2 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) bestellt haben: Baden-Württemberg Bayern Berlin Bremen Hamburg Hessen Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Schleswig-Holstein Mitglied Ministerpräsident Späth Staatsminister Schmidhuber Senator Prof. Dr. Scholz Senator Dr.-Ing. Czichon Senatorin Maring Ministerpräsident Börner Ministerpräsident Dr. Albrecht Minister Dr. Posser Staatsminister Gaddum Frau Minister Dr. Scheurlen Ministerpräsident Dr. Dr. Barschel Vertreter Frau Minister Griesinger Staatssekretär Dr. Vorndran Senator Oxfort Senator Kahrs Präsident des Senats Erster Bürgermeister Dr. von Dohnanyi Frau Staatsminister Dr. Rüdiger Minister Hasselmann Minister Dr. Haak Ministerpräsident Dr. Vogel Minister Prof. Dr. Becker Minister Dr. Schwarz Die Fraktion DIE GRÜNEN hat mit Schreiben vom 20. April 1983 mitgeteilt, daß sie die Änderungsanträge auf Drucksachen 10/11 und 10/12 zurückzieht. Der Bundeskanzler hat mit Schreiben vom 14. April 1983 gemäß § 30 Abs. 4 des Bundesbahngesetzes vom 13. Dezember 1951 den Wirtschaftsplan der Deutschen Bundesbahn nebst Anlagenband und Stellenplan für das Geschäftsjahr 1983 mit der Bitte um Kenntnisnahme übersandt. Der Wirtschaftsplan liegt im Parlamentsarchiv zur Einsicht aus.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Hans-Dietrich Genscher


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Bundeskanzler hat heute für die Bundesregierung eine Regierungserklärung abgegeben, die sich auszeichnet durch Nüchternheit in der Darstellung der Probleme

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Lachen bei der SPD)

    — Ihre Heiterkeit bei der Problembehandlung zeigt, wie groß Ihre Realitätsferne schon geworden ist —,

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    aber auch in der Darstellung der Lösungsmöglichkeiten und durch Zuversicht.

    (Zuruf von der SPD)

    Meine Damen und Herren, diese Zuversicht in das Regierungsprogramm, die Ihnen fehlt, haben die Wähler am 6. März in diese Politik investiert.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf von der SPD)

    Sie wollen eine Politik, die in dieser Regierungserklärung formuliert worden ist: eine Politik für Freiheit und Frieden; Freiheit nach innen und nach außen, Frieden nach innen und nach außen. Die Freiheit, Herr Kollege Vogel, umfaßt die Menschenwürde, aber auch noch einige zusätzliche Rechte, die wir miterkennen müssen. Freiheit und Frieden sind die Maxime der Koalition der Mitte. Zur inneren Freiheit gehört, daß wir nicht nur das BürgerStaat-Verhältnis erkennen müssen, nicht nur das Verhältnis des Bürgers zu seinem Staat. Ich sage ganz bewußt: zu „seinem" Staat; denn dieser demokratische Staat steht dem Bürger nicht feindlich gegenüber, sondern es ist sein Staat, den er durch Sie als gewählte Abgeordnete des Deutschen Bundestags kontrolliert.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Aber es ist genauso die Freiheit des Bürgers in der Gesellschaft. Es würde nicht ausreichen, die Freiheit im Bürger-Staat-Verhältnis zu sichern, wenn sie in der Gesellschaft für den Bürger verlorenginge.
    Ich war betroffen darüber, daß heute zuerst Heiterkeit und später ironische Kommentierung aufkamen, als der Bundeskanzler sagte, daß die größte Bürgerinitiative in unserem Lande die Sportbewegung sei. Ich bin froh darüber, daß der Bundeskanzler dem persönlichen, privaten Engagement, das in der Sportbewegung von Millionen Menschen sichtbar wird, hier seine Anerkennung gezollt hat.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

    Als Sie zu diesem Thema gesprochen haben, Herr Kollege Dr. Vogel, hätte es nahegelegen, wenn Sie schon etwas hinzufügen wollten, nicht nur die Bürgerinitiative Sportbewegung zu erwähnen. Es gibt noch andere Beweise, andere Zusammenschlüsse staatsbürgerlichen Engagements. Sehen Sie sich einmal an — überlegen Sie einmal, was das heißt —, wenn junge Menschen in den freiwilligen Feuerwehren ihre Freizeit für die Gemeinschaft opfern.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD — Lachen bei den GRÜNEN)




    Bundesminister Genscher
    Sehen Sie sich einmal an — überlegen Sie einmal, was das heißt —, wenn junge Menschen ihre Freizeit im Technischen Hilfswerk für die Gemeinschaft opfern. Das ist alles wirkliche Bürgerinitiative aus gesellschaftlicher Solidarität.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Sie wollen wir fördern, weil ihr Engagement ein Stück unserer gemeinsamen Freiheit ausmacht.
    Genauso geht es darum, unsere Wirtschaft als eine Freiheitsordnung zu verstehen und zu begreifen. Bei der Auseinandersetzung, die hier geführt worden ist über die Zweckmäßigkeit dieser oder jener von der Regierung vorgeschlagenen wirtschaftlichen Maßnahme, bei den Bedenken, die gegenüber diesen Maßnahmen vorgebracht worden sind, wird übersehen, daß die Soziale Marktwirtschaft nicht nur die effektivste Wirtschaftsordnung, sondern zuallererst eine Freiheitsordnung für alle Bürger in unserem Lande ist,

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    eine Freiheitsordnung für Arbeiter, Angestellte und Unternehmer.

    (Zuruf von der SPD: Jeder hat das Recht, sich in der freiwilligen Feuerwehr zu organisieren! — Weitere Zurufe von den GRÜNEN)

    — Ja, das ist in der Tat so. Ich rate Ihnen, das zu tun. Dann würden Sie nicht mehr Ihre Witze über die jungen Menschen machen — wie Sie das eben durch Ihre Bemerkung gemacht haben —, die Ihren Dienst in der freiwilligen Feuerwehr leisten.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Es gehört auch zu Ihrer Realitätsferne, daß Sie das als einen lächerlich zu machenden Tatbestand im Deutschen Bundestag behandeln.

    (Widerspruch bei der SPD)

    Ich sage Ihnen: Ich ziehe den Hut vor all den jungen Menschen, die in der Sportbewegung, in der Feuerwehr, im Technischen Hilfswerk ihre Leistungen für die Gesellschaft erbringen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

    Wenn wir die Soziale Marktwirtschaft als eine Freiheitsordnung verstehen, dann müssen wir wissen, daß diese Soziale Marktwirtschaft, daß diese Freiheitsordnung um so freiheitlicher ist, je mehr selbständige Existenzen es in dieser gesellschaftlichen Ordnung gibt. Die Zahl der selbständigen Existenzen in Handel, Handwerk, Gewerbe und freien Berufen gibt Auskunft darüber, welche Initiativen, persönlichen Entwicklungen für unsere Bürger möglich sind. Eine große Zahl von selbständigen Existenzen — was auch heißt: eine große Zahl von Arbeitgebern — zwingt den einzelnen Arbeitnehmer nicht mehr, zwischen wenigen Großunternehmen zu wählen. Das gibt ihm mehr Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der nur noch wenige mächtige
    Gewerkschaften wenigen ebenso mächtigen Großunternehmen gegenüberstehen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Deshalb ist die Förderung der Mittel- und Kleinbetriebe und der selbständigen Existenzen mehr als nur ein ökonomischer Vorgang. Es ist eine der Maßnahmen und Notwendigkeiten, um den freiheitlichen Charakter, die Liberalität unserer Gesellschaft zu stärken.

    (Zuruf von der SPD: Das ist ganz unbestritten!)

    — Sie sagen, das sei ganz unbestritten. Aber so unbestritten ist das nicht. Dieselbe Heiterkeit, dieselbe Ironie hat der Bundeskanzler geerntet, als er hier vom bäuerlichen Familienbetrieb gesprochen hat. Ich sage Ihnen: Eine der größten Reformleistungen in diesem Land nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Agrarstrukturreform, die es ohne einen Radikalismus geschafft hat, daß wir heute gesunde bäuerliche Familienbetriebe haben.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

    Sie sollten einmal sehen, welch große Umweltschutz- und Landschaftspflegeleistung die deutschen Bauern für unsere Gesellschaft erbringen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Auch das bedarf der gesellschaftlichen Anerkennung.
    Ich will an dieser Stelle gern meinem Freund Josef Ertl dafür danken, daß er gerade dieser Aufgabe, der Stärkung des bäuerlichen Familienbetriebs, in seiner Amtszeit so große Aufmerksamkeit und Fürsorge gewidmet hat.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Er hat gewußt, daß die soziale Abfederung notwendig ist, um ohne gesellschaftliche Verwerfungen, ohne soziale Härten diese große Reformleistung möglich zu machen.
    Auch diese selbständigen Existenzen im ländlichen Raum sind ein Stück Freiheit für uns alle. Nur wenn wir das erkennen, werden wir in der Lage sein, aus diesem Bild einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung heraus die richtigen Maßnahmen zu treffen, um das Kernproblem unserer innenpolitischen Aufgaben, nämlich die Überwindung der Arbeitslosigkeit, zu lösen.
    Herr Kollege Dr. Vogel, Sie haben gesagt, in der Erkenntnis, daß die Friedenssicherung und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die beiden zentralen Probleme seien, stimmten wir überein, aber dann schieden sich die Wege in der Tat. Das stimmt. Denn das, was Sie heute vorgetragen und was Sie in den letzten Tagen zur Überwindung der Arbeitslosigkeit präsentiert haben, sind samt und sonders Vorschläge, die genau das Gegenteil von dem bewirken würden, was Sie vorgeben. Zusätzliche Belastungen bei Steuern und Abgaben würden die Konkurrenzfähigkeit der Betriebe weiter herabsetzen. Höhere Staatsverschuldung würde zusätzlichen Druck auf die Zinsen, und zwar nach oben, ausüben



    Bundesminister Genscher
    und das rückgängig machen, was wir eingeleitet haben. Zusätzliche Bürokratisierung würde den Entscheidungsraum des einzelnen einschränken, und die Eingriffe in den Wirtschaftsablauf schließlich würden die Investoren entmutigen.
    Ich will Ihnen dazu noch etwas sagen. Sie wollen eine Ergänzungsabgabe zusätzlich erheben. Aber die Sachverständigen rügen die Regierung, daß sie nicht noch stärkere steuerliche Entlastungen vorgenommen hat. Das heißt also, wir sind auch nach Auffassung der Sachverständigengutachter auf dem richtigen Wege. Wir gehen nach ihrer Meinung nur nicht weit genug. Ihr Weg jedoch würde in die absolut falsche Richtung gehen und die Investoren zusätzlich belasten und damit den wirtschaftlichen Aufschwung hemmen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Bezüglich der Sozialpolitik haben Sie sich völlig der Notwendigkeit verschlossen, auch hier strukturelle Veränderungen vorzunehmen. Sie haben nicht einsehen wollen, daß es nur durch strukturelle Veränderungen möglich sein wird, die soziale Sicherheit auf Dauer durch eine gesunde und wachsende Wirtschaft zu garantieren. Wenn wir alle Ihre Ablehnungsvorschläge mitmachen würden, wäre das Ergebnis, daß nicht nur die Steuern für die Staatszuschüsse zu den Sozialversicherungsträgern steigen würden, sondern daß auch die Beiträge steigen würden, was die Arbeitgeber zusätzlich belastet, was die Arbeitnehmer zusätzlich belastet. Und wir wissen doch: Die Lohnnebenkosten sind es, die unsere Wirtschaft strangulieren und belasten.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Und die müssen wir abbauen; die dürfen wir nicht erhöhen.

    (Zurufe von der SPD)

    Spüren Sie denn gar nicht, wie mit zusätzlicher Erhöhung von Steuern und Belastungen am Ende eine immer größere Flucht in die Schwarzarbeit eintreten würde? Auch das ist eine Form der Entsolidarisierung. Denn derjenige, der in die Schwarzarbeit hineingeht, zahlt dafür weder Steuern noch Sozialabgaben. Er trägt nicht dazu bei, daß unser soziales System überleben und bestehen kann. Der Staat darf nicht durch seine Gesetzgebung einer solchen Entwicklung noch Vorschub leisten, ja geradezu dazu anreizen und auffordern.
    Deshalb war es notwendig, daß wir hier durch Entscheidungen — weitere Entscheidungen sind notwendig — dazu beitragen, daß die Belastungen nicht erhöht werden,

    (Zuruf von den GRÜNEN)

    daß die steuerlichen Belastungen reduziert werden können. — Sie können ja im Lauf der zwei Jahre, die Sie hier sein werden — leider wollen Sie uns j a im Weg der Rotation nach zwei Jahren verlassen —, zu dieser Frage noch Stellung nehmen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von den GRÜNEN)

    Zu dem, was Sie, Herr Kollege Dr. Vogel, hier über ein Arbeitszeitgesetz mit der Beschränkung der Arbeitszeit und mit einer staatlich kontrollierten und dirigierten Überstundenregelung vorgetragen haben: Fragen Sie mal den Handwerksbetrieb, was es für ihn bedeutet, wenn er mit einem umständlichen Antragsverfahren Überstunden genehmigt haben muß, nur um eine saisonale Leistung oder eine Leistung in einer bestimmten Drucklage erbringen zu können. Diese Betriebe haben keine große Bürokratie, die das noch erledigen kann. Da muß es die Frau des Handwerkers selber machen. Und dann kommt die Bewilligung noch zu spät, und ein anderer hat die Arbeit übernommen und, wie ich fürchte, schwarz erledigt.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Sie kritisieren den Bundeskanzler, daß er in der Regierungserklärung nichts über den Ausbau der Mitbestimmung gesagt hat. Herr Kollege Dr. Vogel, was meinen Sie denn damit? Wie wollen Sie denn die Mitbestimmung ausbauen?

    (Zuruf von der SPD)

    Sie können immer mit uns reden, die Rechte des einzelnen Arbeitnehmers zu stärken. Aber Sie werden mit uns nicht reden können, wenn es Ihnen darum gehen sollte, mächtige gesellschaftliche Organisationen

    (Zuruf von der SPD)

    noch mächtiger in unserer Gesellschaft zu machen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Liberalität bedeutet nämlich Stärkung der persönlichen Rechte.

    (Widerspruch bei der SPD — Beifall bei der FDP)

    Liberalität bedeutet aber nicht die Stärkung der Organisationsmacht.
    Ich sage noch einmal: Sie blicken, wenn Sie Gefahren für die persönliche Freiheit sehen, immer nur auf den Staat, der unser Staat ist und der parlamentarisch kontrolliert ist. Wir blicken auch auf die Gefahren, die sich aus gesellschaftlicher Machtkonzentration, aus zu starker Organisationsmacht, aus zu starker Verbändemacht ergeben können. Und wir blicken auch auf die Gefahren, die sich dann ergeben, wenn durch immer höhere Steuer- und Abgabenbelastung, durch immer größere Bürokratisierung der Entscheidungsraum des einzelnen Schritt für Schritt eingeschränkt und erstickt wird. Auch so kann eine freie Gesellschaft ihren freiheitlichen Inhalt verlieren.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Das ist der Grund, warum die hier zu treffenden Entscheidungen mehr sind als die Diskussion über diese oder jene richtige, weniger oder mehr wirksame ökonomische Entscheidung. Hier geht es um eine Freiheitsentscheidung, um diese Freiheitsordnung „Soziale Marktwirtschaft" als Teil unserer freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnung auszubauen und zu erweitern. Nur wenn uns das gelingt, werden wir auch die großen Antriebskräfte,



    Bundesminister Genscher
    die in unseren Bürgern stecken, ganz gleich, welcher wirtschaftlichen Gruppe sie angehören, für den wirtschaftlichen Aufschwung mobilisieren können. Es gibt keinen Zweifel, daß die Bundesrepublik Deutschland, verglichen mit anderen Staaten, im Prozeß einer sich auch weltwirtschaftlich abzeichnenden Erholung auf jeden Fall günstigere Ausgangsdaten hat als solche Länder, die eher Ihren Vorstellungen, meine Damen und Herren von der SPD, folgen. Nur mein Amt als Außenminister hindert mich daran, hier bestimmte Länder zu nennen; das können vielleicht andere Kollegen später in die Debatte einführen.

    (Zurufe von der SPD)

    Es muß also unsere Aufgabe sein, durch die Stärkung des freiheitlichen Charakters unserer Gesellschaft, es muß unsere Aufgabe sein, nicht durch zusätzliche Belastungen, sondern durch Entlastung, nicht durch zusätzliche Bürokratisierung, sondern durch Entbürokratisierung dazu beizutragen, daß sich die gesellschaftlichen, daß sich die wirtschaftlichen Kräfte entwickeln können.
    Nur eine wachsende Volkswirtschaft wird auch in der Lage sein, die großen ökologischen Probleme zu lösen, die ganz unbestreitbar vorhanden sind.

    (Anhaltende Zurufe von der SPD)

    Es ist auch kein Geheimnis, daß unsere Bundesrepublik Deutschland, schon verglichen mit den anderen europäischen Staaten, in der Umweltschutzgesetzgebung eine führende Position hat, aber wenn ich sie vergleiche mit den sozialistischen Ländern, meine Damen und Herren, dann ist das, was wir hier an Umweltschutz geschaffen haben, eine kaum noch vergleichbare Größe,

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    weil eben für uns zu einer menschenwürdigen Ordnung auch eine menschenwürdige Umwelt gehört und weil wir bestreiten, daß Ökonomie und Ökologie sich ausschließende Ziele sind. Sie sind vereinbar, aber nur dort, wo eine wirklich leistungsfähige Wirtschaftsordnung vorhanden ist. Und das ist hier in unserer Sozialen Marktwirtschaft der Fall.
    Diese Soziale Marktwirtschaft ist auch eine der Voraussetzungen dafür, daß wir unsere wirtschaftliche und damit unsere soziale Stabilität bewahren können. Und das wiederum ist die Voraussetzung für die politische Stabilität in der Bundesrepublik Deutschland.
    Das alles zusammengenommen ermöglicht es uns, unsere Aufgaben auch in der internationalen Politik zu erfüllen.
    Es ist für uns alle erkennbar — damit komme ich zu dem Schwerpunkt, der Friedenssicherung —, daß das Jahr 1983 zu einem Entscheidungsjahr für Europa und die Welt werden wird.

    (Frau Kelly [GRÜNE]: Stationierung!)

    Die Fragen des West-Ost-Verhältnisses, der NordSüd-Konflikt, die europäische Einigung, aber eben auch im Ost-West-Verhältnis die deutsch-deutsche Frage machen das offenkundig. Für die deutsche Politik ist in einer solchen Lage die Bestimmung
    ihres Standortes besonders wichtig. Wir werden unsere nationale und unsere europäische Friedensaufgabe nur dann erfüllen können, wenn wir uns als Volk und als Staat im Herzen Europas begreifen, wenn wir begreifen, daß es für uns angesichts der Größe unseres Landes, angesichts unseres politischen, wirtschaftlichen, aber auch verteidigungspolitischen Gewichts und angesichts unserer geographischen Lage keine Flucht in den Winkel der Geschichte gibt. Aber es gibt für uns auch nicht die Alternative der Selbstüberschätzung, die vergißt, daß das Schicksal der Deutschen immer das Schicksal Europas war und umgekehrt, und vor allen Dingen, daß unsere Nachbarn in West und Ost unser Schicksal, unsere Politik auch als Teil ihrer Politik und ihres Schicksals empfinden.
    Wenn ich das so sage, Herr Kollege Dr. Vogel, dann möchte ich ein Wort noch zu Ihren Hinweisen anschließen, die nicht unerwartet kamen, den Hinweisen auf die Diskussion und Kontroversen in der Koalition zur Deutschlandpolitik. Die Regierungserklärung entscheidet über diese Politik. Es ist ein ganz normaler Vorgang, daß man sich in einer Koalition, die eben gebildet wurde, deren Partner bekanntlich in vielen entscheidenden Fragen der Außenpolitik auf verschiedenen Seiten gestanden haben, zusammenfinden muß. Entscheidend ist, daß man sich über das Regierungsprogramm einigen kann.
    Nun muß ich Ihnen offen sagen, wenn Sie den Bundeskanzler rügen, daß er darüber nicht gesprochen habe: Ich habe von Ihnen im Wahlkampf gehört, wie Sie der Welt und vor allem unseren Wählern klarmachen wollten, daß Ihre Koordinierungsfähigkeit, Ihre Zusammenführungsfähigkeit, so weit gehe, daß Sie auch die Sowjetunion und die Amerikaner noch zusammenbrächten. Man hat es j a förmlich gesehen. Ich hätte mir gewünscht, daß Sie in der Sicherheitspolitik wenigstens Ihre eigene Partei bis auf den heutigen Tag hätten zusammenführen können.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Da wäre eine Menge zu sagen, nicht nur über das, was hier geschieht, sondern auch darüber, was draußen gesagt wird. Ich werde aber auch noch Bemerkungen zu Ihrem Vortrag hier machen.
    Wichtig ist, meine Damen und Herren, daß wir als Bundesrepublik Deutschland niemals Ursache oder Objekt von Rivalität in Europa sein dürfen; denn das würde uns in Gegensatz zu unserem Ziel bringen, dem Frieden in Europa zu dienen. Die Grundentscheidungen der deutschen Nachkriegsaußenpolitik haben die Antwort auf diese Herausforderung gegeben. Es sind Grundentscheidungen, die weit über den Tag hinausführten, die auch nicht kurzfristigen Interessenbeurteilungen unterworfen sind. Wir haben eine Wertentscheidung für die Zugehörigkeit zum Westen getroffen. Und das gründet sich zuallererst auf die gemeinsame Überzeugung von Freiheit, Menschenwürde und Selbstbestimmungsrecht. Deshalb ist die Europäische Gemeinschaft mehr als eine ökonomische Wohlstandsgemeinschaft. Und deshalb ist das westliche Bündnis, die NATO, mehr als eine militärische Allianz alten



    Bundesminister Genscher
    Stils. Beide Schicksalsgemeinschaften sind geprägt durch die Begriffe Freiheit und Frieden.

    (Stratmann [GRÜNE]: Diktatur der Türkei!)

    — Sie sagen „Türkei". Sehen Sie, da liegt der Unterschied zwischen unserem Bündnis und dem Warschauer Pakt: Wir drängen darauf, daß in der Türkei die Freiheitsrechte wiedereingeführt werden, und die Mächte des Warschauer Paktes drängen darauf, daß in Polen die Gewerkschaftsrechte unterdrückt werden. Das ist der Unterschied.

    (Lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Weiterer Zuruf des Abg. Stratmann [GRÜNE])

    Meine Damen und Herren, ich wiederhole: Beide, die Europäische Gemeinschaft und das westliche Bündnis, sind Schicksalsgemeinschaften für Freiheit und Frieden. Und diejenigen, die uns in die Lage versetzen, im westlichen Bündnis unseren Beitrag für die gemeinsame Sicherheit zu erbringen — ich meine unsere Soldaten in der Bundeswehr —, leisten deshalb Friedensdienst und Freiheitsdienst. Deshalb sollte das Bild der Bundeswehr unter dieser Aufgabenstellung, Friedensdienst und Freiheitsdienst, in unseren Schulen unseren Schülern, also der heranwachsenden Generation, vermittelt werden.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Wir wollen ganz gewiß nicht eine Jugend, die zur unkritischen Anbetung der Institutionen des Staates erzogen wird; aber wir wollen auch nicht, daß unkritische Ablehnung und unkritische Verweigerung zur Maxime werden und als solche noch gepriesen werden.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, es besteht kein Zweifel, daß diese beiden Gemeinschaften, Europäische Gemeinschaft und NATO, seit ihrer Gründung zu einem Pfeiler europäischer Stabilität geworden sind, übrigens nicht nur für Westeuropa, sondern für ganz Europa. Die Ideale, denen wir uns in diesen Gemeinschaften verpflichtet fühlen, Freiheit, Menschenrechte, sind die Hoffnung für die vielen, die in anderen Teilen Europas auf diese Rechte noch warten.
    Diese Wertentscheidung der Bundesrepublik Deutschland hat uns zum Teil, zum Bestandteil der Gemeinschaft westlicher Demokratien werden lassen. Diese Zugehörigkeit hat uns unsere Sicherheit bis auf den heutigen Tag garantiert, und — vor allem — sie hat uns aus der Rivalität zwischen West und Ost herausgehalten.
    Diese Zugehörigkeit hat uns auch einen Zuwachs an internationaler Handlungsfähigkeit gebracht. Es ist eben nicht wahr, daß unsere Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft und zur NATO die Wahrnehmung unserer nationalen Interessen behindert; das Gegenteil ist richtig! In dem gegenwärtigen West-Ost-Gegensatz, der Europa nun schon seit Ende des Zweiten Weltkrieges beherrscht und dessen Ende noch nicht abzusehen ist, ist eine Interessenwahrnehmung für uns überhaupt nur als
    Teil des Westens möglich. Wir haben das in guten und in schlechten Tagen zu spüren bekommen; dafür ist übrigens auch Berlin ein Prüfstein. Denn in Berlin wurde — wie im Marshallplan zum Wiederaufbau Europas — ein neues Kapitel deutsch-amerikanischer Freundschaft aufgeschlagen. Diese deutsch-amerikanische Freundschaft ist ein unverzichtbarer Pfeiler unserer Freiheit in Sicherheit. Nicht das Maß an Gegensätzen, nicht das Maß an Polemik und Kritik, sondern das Maß an Übereinstimmung und Verbundenheit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten stärkt unsere internationale Position, stärkt unsere Position im übrigen auch im Gespräch — im dringend notwendigen Gespräch — mit der Führung der Sowjetunion. Das Wort von der Wahrnehmung der deutschen Interessen — im Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft — ist so lange unbestreitbar richtig, wie darunter die auch unter Freunden unverzichtbare Geltendmachung eigener Vorstellungen und Ziele verstanden wird — aber eben unter Freunden und wie unter Freunden üblich. Die gleiche Forderung nach Geltendmachung unserer Interessen führt dann in die Irre, wenn sie besonders kritisch wahrgenommen werden soll gegenüber dem Freund, den Vereinigten Staaten, aber besonders unkritisch gegenüber der Sowjetunion.

    (Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

    Eine solche Haltung, eine solche Politik leistet der gefährlichen Illusion Vorschub, als seien wir von den Vereinigten Staaten und von der Sowjetunion gleich weit entfernt. Der künstlich geschürte Eindruck vom gleich weiten Abstand von Moskau und Washington ist einer der außenpolitischen Schleichwege, die zu verdecktem und auch offenem Eintreten für eine neutralistische Bundesrepublik Deutschland hinführen sollen. Das würde für uns den Verlust der Sicherheit und Handlungsfähigkeit, für Europa die Gefahr von Instabilität bedeuten.
    Deshalb ist es wichtig, daß diese Bundesrepublik Deutschland ihre Vorstellungen im Bündnis geltend macht und dann, wenn die Entscheidungen im Bündnis gefallen sind, ihre Verpflichtungen auch konsequent erfüllt. Deshalb wird die konsequente Durchführung des NATO-Doppelbeschlusses — konsequent im Verhandlungsteil ebenso wie in seinem Stationierungsteil — für unsere Glaubwürdigkeit und für unser Gewicht im westlichen Bündnis entscheidend sein.
    Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Verhandlungsziele, die in Genf verhandelt werden, sind gemeinsame Ziele des Bündnisses. Der Verzicht auf die landgestützten Mittelstreckenraketen der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, also die sogenannte Null-Lösung, ist doch nicht eine amerikanische Erfindung, wie das auch in der in Ihrer Fraktion, Herr Kollege Dr. Vogel, gebrauchten Formulierung „die Reagansche Null-Option" anklingt. Nein, diese Null-Lösung ist ein deutscher Vorschlag. Wir haben ihn eingeführt — die Amerikaner haben ihn übernommen —, weil uns Deutschen doch am meisten daran gelegen sein muß, daß es weder sowjeti-



    Bundesminister Genscher
    sche noch amerikanische Mittelstreckenraketen gibt.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Das gleiche gilt auch für den Vorschlag eines Zwischenergebnisses. Es gibt doch gar keinen Zweifel: Jede sowjetische Rakete weniger, die stationiert bleibt, und als Folge davon jede amerikanische Rakete weniger, die stationiert werden muß, ist ein Gewinn für uns alle und besonders für uns hier in Mitteleuropa.
    Die Stationierung bei Ausbleiben konkreter Verhandlungsergebnisse zum vorgesehenen Zeitpunkt Ende 1983, diese Stationierung ist nicht das Nachgeben gegenüber amerikanischem Druck, sondern diese Stationierung ist die Konsequenz aus einer von der Bundesrepublik Deutschland 1979 miterarbeiteten und vom gesamten Bündnis im Dezember 1979 getroffenen Entscheidung. Damals, meine sehr geehrten Damen und Herren, im Dezember 1979, ist entschieden worden, daß Ende 1983 stationiert werden soll. Und nur für den Fall, daß bis dahin konkrete Verhandlungsergebnisse da sind, wäre eine Abänderung dieser Stationierungsentscheidung möglich. Deshalb, Herr Kollege Vogel, sollten Sie aufhören zu sagen, Sie seien gegen einen Automatismus bei der Stationierung. Sie selbst haben als Mitglied der damaligen Regierung aus guten Gründen diese Automatik mitbeschlossen.

    (Hört! Hört! und Beifall bei der FDP und bei der CDU/CSU)

    Sie wollen sich heute aus dieser gemeinsamen Verantwortung, der damals alle Fraktionen des Deutschen Bundestages zugestimmt haben, herausbegeben.

    (Voigt [Frankfurt] [SPD]: Brunnenvergiftung!)

    — Sie sind, Herr Kollege Voigt, auf der Flucht vor der Sicherheitspolitik, die Sie als Regierungspartei selbst mitbeschlossen haben.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Es ist Ihr gutes Recht, heute zu sagen, Sie sehen das heute anders. Aber tun Sie bitte nicht so, als ob die Stationierung Ende 1983, wenn sie denn notwendig würde, eine Erfindung dieser Regierung wäre. Nein, das hat die frühere Regierung beschlossen. Und wir führen diesen Beschluß — wenn notwendig, sage ich — aus. Wenn notwendig! Denn niemand wollte lieber auf das Ziel verzichten können — darauf kommen wir zurück —, nach Möglichkeit weder sowjetische noch amerikanische Mittelstrekkenraketen zu haben.

    (Stratmann [GRÜNE]: Und britische und französische?)

    Meine Damen und Herren, zu unserer Friedenspolitik gehören eben neben den Anstrengungen für die eigene Verteidigung der Wille zur Zusammenarbeit und das Ringen um Abrüstung. Es ist unbestreitbar, daß zu keiner Zeit zuvor an so vielen Verhandlungstischen zwischen West und Ost über Abrüstung verhandelt worden ist — über die interkontinentalen strategischen Waffen in Genf, über die
    Mittelstreckenraketen auch in Genf, in Wien über die Truppenreduzierung in Mitteleuropa. in Madrid über die Einsetzung einer europäischen Abrüstungskonferenz und über allgemeine Fragen der Abrüstung im Abrüstungsausschuß der Vereinten Nationen ebenfalls in Genf.
    Wir wissen: Ergebnisse werden wir bei all diesen Verhandlungen nur dann erzielen, wenn auch wir nicht nur die eigenen Sicherheitsinteressen, sondern auch die der anderen Seite sehen. Aber das muß auch umgekehrt gelten. Wir werden auf der Grundlage des Gleichgewichts beharrlich und unbeirrbar eine Politik fortsetzen, die auf wirkliche Entspannung zielt. Und die zielt hin auf eine Entwicklung zu einer europäischen Friedensordnung, in deren Verlauf der Nicht-Krieg durch Abschrekkung immer mehr ergänzt und am Ende ersetzt wird durch einen Frieden, der auf Vertrauen und Kooperation gegründet wird.
    Der Bundeskanzler hat sich heute in seiner Regierungserklärung zu dieser europäischen Friedensordnung bekannt, eben weil wir wissen, daß Abschreckung nicht die letzte Antwort für Sicherheit in Europa sein kann. Aber wir halten an dieser Abschreckung so lange fest, solange es keine andere, bessere Möglichkeit gibt, die Sicherheit zu garantieren, der wir friedliches Zusammenleben in Europa seit mehr als 30 Jahren verdanken.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, lassen Sie uns deshalb an den einmal gemeinsam formulierten Zielen Rüstungskontrolle und Abrüstung weiterarbeiten.
    Wir sind der Meinung, daß eine Verbesserung des Ost-West-Verhältnisses es erfordert, daß man eine möglichst breite Zusammenarbeit zwischen West und Ost anstrebt, weil man durch eine möglichst breite Zusammenarbeit auch die Chancen für Fortschritte in den Einzelbereichen erhöht. Deshalb gehören der politische Dialog, die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle zusammen. Der Grundsatz der Ausgewogenheit der Leistungen muß nicht nur die Einzelvereinbarungen bestimmen, sondern auch in ausgewogene Gesamtinteressen beider Seiten eingebettet sein. Deshalb haben wir wirtschaftlichen West- Ost- Beziehungen immer zuallererst eine politische Bedeutung gegeben.
    Herr Kollege Dr. Vogel hat heute in seinem Beitrag zu Recht darauf hingewiesen, daß die Eröffnung eines Handelskrieges mit der Sowjetunion nicht in unserem Interesse liegen würde. Er hat das aber nur ökonomisch begründet. Ich sage Ihnen: Wir müssen es zuallererst politisch sehen, weil auch wirtschaftliche Beziehungen ein Stück politischer Stabilisierung zwischen West und Ost bedeuten.

    (Beifall bei der FDP)

    Der Bundeskanzler hat das in der Regierungserklärung für die Bedeutung des innerdeutschen Handels dargelegt.
    Meine Damen und Herren, diese politische Bedeutung der West-Ost-Wirtschaftsbeziehungen muß auch dort gesehen werden, wo es um Entscheidun-



    Bundesminister Genscher
    gen über Entwicklung oder Begrenzung der wirtschaftlichen Beziehungen geht. Einschränkungen sind überall dort richtig und notwendig, wo unsere Sicherheitsinteressen gefährdet werden könnten. Einschränkungen würden aber dort die eigenen Interessen verletzen, wo sie die Gesamtentwicklung und die politisch stabilisierende Wirkung behindern.
    Das Bewußtsein, daß die gesamte Entwicklung der West-Ost-Beziehungen das Maß an Fortschritt auch in Einzelbereichen bestimmt, erklärt die Bedeutung, die wir dem KSZE-Prozeß und der Folgekonferenz in Madrid beimessen. Dabei steht jetzt mehr auf dem Spiel, als die einzelnen Formulierungen des Schlußdokuments erkennen lassen, um das jetzt in Madrid noch gerungen wird. Es geht darum, den Helsinki-Prozeß, den die Staaten Europas und Nordamerikas gemeinsam als Modell für Friedenssicherung und Zusammenarbeit geschaffen haben, nicht auseinanderbrechen oder versanden zu lassen, sondern diesen Prozeß lebensfähig zu erhalten und durch neue Impulse zu stärken.
    Die Bemühungen in Madrid werden erschwert von schwierigen und konfliktgeladenen internationalen Spannungen, von Enttäuschungen über schwerwiegende Verletzungen der Schlußakte durch Androhung und Anwendung von Gewalt, durch Mißachtung der Menschenrechte. Afghanistan und Polen sprechen eine deutliche und für viele auch ernüchternde Sprache.
    Doch wir alle wissen: Enttäuschungen und Rückschläge machen den KSZE-Prozeß nicht überflüssig. Die Schlußakte von Helsinki ist nicht nur ein politisches Instrument für Regierungen; sie ist auch in das Bewußtsein der Menschen eingegangen, und deshalb muß sie auch für die Menschen in ihren Ergebnissen erlebbar sein. Der Entwurf der neutralen und nichtgebundenen Länder für ein Schlußdokument sieht weitere Erleichterungen für menschliche Kontakte, für Besuche und die Zusammenführung von Familien vor. Wichtig bleibt, daß wir die Weichen nicht auf Abgrenzung und Abschottung stellen, sondern auf Öffnung der Grenzen für den Austausch von Menschen, Informationen und für Ideen, denn dem gehört die Zukunft.
    Meine Damen und Herren, auch die Tragik der deutsch-deutschen Grenze, an die uns die Tagesnachrichten immer wieder erinnern, kann nur durch eine Evolution im Sinne der Schlußakte überwunden werden. Beide deutschen Staaten sollten ihren besonderen Beitrag für den Frieden in Europa dadurch erbringen, daß sie gerade in der Erfüllung der Schlußakte von Helsinki ihre besondere Verantwortung sehen und sie auch wahrnehmen.
    Meine Damen und Herren, es gibt keinen Zweifel: Alle Fragen des West-Ost-Verhältnisses, der Abrüstung, der Friedessicherung hier bei uns in der Bundesrepublik Deutschland werden auch hier bei uns am intensivsten diskutiert. Ein geteiltes Land, das an der Schnittlinie zwischen dem freien Europa und den sozialistischen Staaten liegt, muß für die Gefahren steigender Spannungen besonders empfindsam sein. Es muß auch für die Gefahr eines Rückfalls in den Kalten Krieg und für die Gefahren der
    Aufrüstung besonders empfindsam sein. Die besondere Empfindlichkeit für diese Fragen bei den Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und auch in der DDR ist auch eine Realität der fortbestehenden deutschen Nation. Sie ist eine Realität in ihrer Sorge um den Frieden, die stärker als alle Versuche der Abgrenzung ist, eine Realität, für die weder Stacheldraht noch Minenfeld ein Hindernis bedeuten können.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Deshalb sollten wir der Versuchung widerstehen, aufrichtiges Friedensengagement bei uns zu verdächtigen, es aber in der DDR zu loben. In beiden Teilen Deutschlands bedarf es der Anerkennung und der ernsthaften Würdigung.
    In der Mittellage unseres Landes kann Deutschlandpolitik immer nur europäische Friedenspolitik sein. Schon die Väter des Grundgesetzes haben in der Präambel den Wunsch des deutschen Volkes formuliert, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Der Brief zur deutschen Einheit bezeichnet die Herstellung einer europäischen Friedensordnung als das Ziel deutscher Politik, und zwar mit den Worten: „auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt".
    Der Grundlagenvertrag hat den Rahmen für die Entwicklung des deutsch-deutschen Verhältnisses geschaffen. Aber wir würden die Verantwortung der Regierenden hier in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR verkürzen, wenn wir nicht die aus der gemeinsamen Geschichte gewachsene Verantwortungsgemeinschaft sehen und beachten würden, eine Verantwortungsgemeinschaft für das Schicksal der deutschen Nation, für den Frieden in Europa, d. h. eben auch für die deutsche und europäische Zukunft. Dieser Verantwortungsgemeinschaft entspricht es, alles zu tun, damit von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgeht. Dieser Verantwortungsgemeinschaft entspricht es auch, alles zu tun, um die Gefahren eines neuen Kalten Krieges abzuwenden.
    Der Grundlagenvertrag spricht von dem Wunsch, zum Wohl der Menschen, zum Wohl der Menschen in beiden deutschen Staaten, die Voraussetzungen für die Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu schaffen. Zum Wohl der Menschen, das muß für uns und für die DDR das Leitmotiv des Handelns sein. Deshalb ist es die Pflicht jeder Bundesregierung, darauf hinzuwirken, daß Erleichterungen für die Menschen geschaffen, Schikanen vermieden und Belastungen abgebaut werden. Die Ausweitung des Reiseverkehrs, die Erleichterung des Reiseverkehrs müssen deshalb ein zentrales Ziel deutsch-deutscher Politik sein.
    Daß Mauer und Stacheldraht weder Normalität bedeuten noch gar begründen können, ist ebenso offenkundig wie das unveränderte Ziel, daß man sie Schritt für Schritt durchlässiger machen muß, um sie schließlich überwinden zu können. Diese Ziele wie auch die anderen Ziele im deutsch-deutschen



    Bundesminister Genscher
    Verhältnis können im Wege der Konfrontation nicht erreicht werden.

    (Beifall bei der FDP)

    Nichts darf von unserer Seite geschehen, was das zwischen beiden deutschen Staaten Erreichte aufs Spiel setzt. Alles muß geschehen, damit die Möglichkeiten, die der Grundlagenvertrag bietet, auch voll genutzt werden. In Abwandlung eines anderen Wortes gilt für das deutsch-deutsche Verhältnis: Wer sich mit der Anomalität der Lage nicht abfinden will, j a, wer das Erreichte durch Stillstand nicht gefährden will, der muß verhandeln. Das gilt für alle staatlichen Ebenen bis hin zu den höchsten. Hier liegt der Grund, warum die Absage des Besuches des Staatsratsvorsitzenden Honecker in der Bundesrepublik Deutschland nicht das letzte Wort im deutsch-deutschen Verhältnis sein darf.

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Es ist gewiß richtig, daß Begegnungen nicht zum Selbstzweck werden dürfen. Aber es ist genauso richtig, daß die Nichtbegegnung kein Mittel konstruktiver Politik sein kann.
    Deshalb kann ich Befriedigung darüber, daß der Besuch des Staatsratsvorsitzenden Honecker jetzt nicht zustande kommt, nicht empfinden.

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

    Ganz sicher entspricht eine solche Befriedigung nicht den Gefühlen und dem Willen der Menschen in beiden Teilen unseres Landes. Die Briefe, die uns in den letzten Tagen aus der DDR erreichen, zeigen, was gedacht, was gesprochen wird in den Familien, in der Nachbarschaft und wohl auch im Kollegenkreise. Vielleicht ist dort das Bewußtsein dafür, was der Stand, was die Qualität der deutsch-deutschen Beziehungen für den eigenen, ganz persönlichen Lebensbereich bedeutet, tiefer und auch stärker entwickelt als gemeinhin bei uns.

    (Beifall bei der FDP)

    Das umfaßt mehr als verbesserte Reisemöglichkeiten. Es betrifft die ganz unmittelbaren Lebensverhältnisse, die sich bei einem Rückfall in den Kalten Krieg für unsere Mitbürger in der DDR verschlechtern würden.

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

    Das alles dürfen wir nicht außer acht lassen bei der Gestaltung unserer Beziehungen zur DDR. Keine Regierung der Bundesrepublik Deutschland darf je außer acht lassen, daß wir Teil des Westens sind, wenn wir nicht Frieden und Freiheit aufs Spiel setzen wollen. Aber keine Regierung der Bundesrepublik Deutschland darf je vergessen, daß in der DDR Deutsche wie wir wohnen. Es wird darauf ankommen, daß wir mit Festigkeit die Ziele unserer Politik vertreten, daß wir mit Nachdruck die Führung der DDR auf Geist und Inhalt des Grundlagenvertrages verweisen, daß wir darauf drängen, daß den Worten dieses Vertrages die Taten für die Menschen folgen. Deshalb sind Dialog und Zusammenarbeit für die den Menschen dienende Gestaltung des deutsch-deutschen Verhältnisses so wichtig.
    Deutschlandpolitik als europäische Friedenspolitik muß im Verhältnis der beiden Staaten zueinander das Ziel haben, das ohnehin belastete Verhältnis zwischen West und Ost nicht noch zusätzlich aus dem deutsch-deutschen Verhältnis heraus zu belasten. Eine Verschlechterung des West-Ost-Verhältnisses trifft die Deutschen zuallererst und zu allermeist. Unsere Mitbürger in der DDR trifft es stärker als uns. Aus unserer nationalen Verantwortung dürfen wir nie vergessen, daß unsere Mitbürger in der DDR den schwereren Teil des gemeinsamen nationalen Schicksals tragen.
    Die Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland als Wertentscheidung als Teil des Westens und die Definition der deutschen Frage als europäische Friedenspolitik hat eine neue, für uns Deutsche im Herzen Europas einzigartige Ausgangslage geschaffen, nämlich die Identifizierung unserer nationalen Ziele mit dem Willen und mit den Sehnsüchten der europäischen Völker. Hier liegen die geschichtliche Herausforderung und die historische Chance für uns, die wir auf gar keinen Fall verspielen dürfen. Wir werden die Herausforderung Europa, die zugleich die große Chance für die Europäer ist, nur meistern, wenn wir aus der Geschichte lernen und nicht geschichtslos von einer Tagesfrage zur nächsten hasten.
    Wir beobachten in der DDR ein ansteigendes Interesse an der Geschichte, dort gefördert von der Regierung und den Staatsparteien. Die DDR sucht geradezu ihren Staat als die Fortsetzung der guten Traditionen der deutschen Geschichte darzustellen. Das ist eine Art Alleinvertretungsanspruch auf die besseren Epochen der deutschen Geschichte, der da geltend gemacht wird. Manche bei uns fragen, ob das etwa heißt: deutsche Geschichte als Mittel der Abgrenzung, deutsche Geschichte als Mittel der Deklarierung einer DDR-Nation.
    Manche bei uns in der Bundesrepublik sind darüber besorgt. Ich kann ihnen sagen: Die deutsche Geschichte taugt nicht als Abgrenzungswerkzeug, und nicht Sorge über das staatlich neu formulierte Geschichtsbild in der DDR kann unsere Antwort sein. Statt kleinmütig-besorgt zu fragen, was die DDR denn damit will, sollten wir lieber hier bei uns das Interesse an deutscher Geschichte bei der heranwachsenden Generation wecken und stärken.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    In den Schulen muß das beginnen, aber in den Familien j a wohl auch, meine Damen und Herren!

    (Verheyen [Bielefeld] [GRÜNE]: Wieder Staat!)

    — Sie sagen „wieder Staat". Hier im Deutschen Bundestag ist ja einmal darüber diskutiert worden, was die Schule der Nation ist. Damals ist mit Recht gesagt worden: Die Schule der Nation ist die Schule.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sehr wahr!)




    Bundesminister Genscher
    Dann muß sie diesem hohen Anspruch auch gerecht werden.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Viele Eltern wetteifern darin, ihren Kindern Spanien, Frankreich, Italien und Jugoslawien zu zeigen. Nichts ist dagegen einzuwenden, schon gar nicht von mir als Außenminister. Aber sollte nicht auch einmal eine — vielleicht nur kurze — Reise auf die Wartburg oder in das Goethe-Haus in Weimar dabeisein?

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU)

    Dresden und Rostock, Greifswald und Halle, das ist auch Deutschland, genauso wie Warschau, Prag und Budapest auch Europa sind.
    Die Kultusministerkonferenz muß gefragt werden, ob der Unterricht in unseren Schulen wirklich unserer Geschichte, unserer Nation und unserer Verantwortung für die ganze Nation gerecht wird.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Wäre es nicht eine großartige Entscheidung der Kultusministerkonferenz, wenn sie dafür Sorge tragen würde, daß jeder unserer Schüler einmal in seiner Schulzeit nach Berlin und einmal in die DDR reist?

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Fischer [Frankfurt] [GRÜNE]: Das haben wir alles gemacht, und Sie sehen, wohin das geführt hat!)

    Kein Volk kann auf Dauer ohne Bewußtsein seiner Geschichte leben, und, meine Damen und Herren, kein Volk kann ohne das Bewußtsein der Verantwortung für die Zukunft leben. Beides gehört zusammen.
    Die unzerstörbare Einheit der deutschen Nation wird uns gerade in diesem Jahr 1983 bewußt, in dem Jahr, in dem die Deutschen in West und Ost den 500. Geburtstag Martin Luthers feiern. Eisleben, Wittenberg, die Wartburg, aber eben auch Coburg, Heidelberg, Augsburg und Worms, so heißen die großen historischen Stationen in Luthers Leben. Luther hat in ganz Deutschland gelebt, und er hat für ganz Deutschland gelebt. „Für meine Deutschen bin ich geboren, und ihnen diene ich auch", so sagte er immer wieder.

    (Stratmann [GRÜNE]: Bauernkriege!)

    Sosehr wir Luther zuallererst von seinem religiösen Antrieb her begreifen müssen, so ist doch der Theologe Luther nicht der ganze Luther. Er ist vielmehr auch der Mann, der das politische Bewußtsein der Deutschen und ihren Willen zur Freiheit wachrüttelte und damit ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl neue Ziele und Formen gab. Meine Damen und Herren, als Luther lebte, gab es auf deutschem Boden unzählige größere und kleinere Territorien, doch Luther fühlte sich nicht als Mansfelder, er fühlte sich als Deutscher.
    Zu den geschichtlichen Wahrheiten gehört eben auch: Völker können voneinander getrennt werden, sie sind auch von innen her teilbar, aber sie sind von außen her unteilbar. Die Polen haben das in ihrer wechselvollen Geschichte bewiesen.
    Die deutsche Nation lebt weiter in der Einheit ihrer Geschichte und ihrer Kultur und im Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen, in der gemeinsamen Verantwortung für die gemeinsame Zukunft. Wenn die Demokraten hier ihre Verantwortung nicht erkennen, können sie — da stimme ich Ihnen, Herr Kollege Waigel, voll zu — eines Tages aufwachen, um feststellen zu müssen, daß andere diese Aufgabe übernommen haben.

    (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

    Nur in einer wirklichen Friedensordnung in Europa kann unsere Nation ihre Trennung überwinden. Wir alle sind uns bewußt: Das ist ein langer Weg, aber es ist auch der einzige. Die Zukunft muß innerhalb einer europäischen Friedensordnung inmitten Europas ein Deutschland zeigen, dessen Existenz den Interessen seiner Nachbarn nicht widerspricht, sondern sie fördert.
    Meine Damen und Herren, Arnold Duckwitz, einer der großen Bremer Bürgermeister des 19. Jahrhunderts, schreibt in den „Denkwürdigkeiten aus meinem öffentlichen Leben" über die Staatsphilosophie eines kleinen Staates folgendes:
    Ein kleiner Staat wie Bremen darf nie als ein Hindernis des Wohlergehens der Gesamtheit der Nation erscheinen. Vielmehr soll er seine Stellung in solcher Weise nehmen, daß seine Selbständigkeit als ein Glück für das Ganze, seine Existenz als eine Notwendigkeit angesehen wird. Darin liegt die sicherste Bürgschaft seines Bestehens.
    Meine Damen und Herren, was wäre uns Deutschen, was wäre Europa erspart geblieben, wenn dieser Gedanke unsere Staatsräson über Jahrhunderte gewesen wäre, der Gedanke so formuliert:
    Ein Staat wie Deutschland, im Herzen Europas, darf nie als ein Hindernis für das Wohlergehen der Gesamtheit der europäischen Staaten erscheinen. Vielmehr soll er seine Stellung in solcher Weise nehmen, daß seine Selbständigkeit als ein Glück für das Ganze, seine Existenz als eine Notwendigkeit angesehen wird. Darin liegt die sicherste Bürgschaft seines Bestehens.
    Das ist der Geist, meine Damen und Herren, in dem wir für eine europäische Friedensordnung arbeiten wollen. Das ist der Geist, in dem wir unsere Verantwortung für die ganze, unteilbare deutsche Nation erfüllen wollen. — Ich danke Ihnen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Rede von Heinz Westphal
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat Frau BeckOberdorf von der Fraktion DIE GRÜNEN.

(Zuruf von der CDU/CSU)


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Marieluise Beck-Oberdorf


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Meine Anrede suche ich mir noch selber aus.
    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meines Wissens bin ich die erste Frau, die in diesem Haus als Sprecherin einer Oppositionsfraktion auf



    Frau Beck-Oberdorf
    die Regierungserklärung eines Bundeskanzlers antwortet.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Haase [Kassel] [CDU/CSU]: Ist ja toll!)

    Dies macht ein Stück jener politischen Kultur aus, für die die GRÜNEN eintreten.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Aber erst nach Kampfabstimmung!)

    Tragende Elemente unserer Politik sind Gewaltfreiheit, Herr Waigel, Toleranz und Sanftheit.

    (Zustimmung der Abg. Frau Dr. HammBrücher [FDP])

    Alle diejenigen, die sich gegen Unterdrückung von Menschen, Zerstörung der Natur und Friedlosigkeit nach innen und außen wehren, sollen hier mit uns zu Wort kommen.
    Viele Debatten, die in diesem Hause geführt worden sind, muten die Bürger und auch mich an, als handele es sich um einen Schaukampf von Politikern, die sich wie Hähne spreizen und die sich in ihren Grundeinstellungen letztlich doch einig waren.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Wir wollen uns auf diese billige Sorte Polemik, mit der die frischgebackene Regierung von heute die Regierung von gestern für alle Übel der Welt verantwortlich macht, nicht einlassen. Die Fragen, um die es hier geht, sind für politische Schau- und Konkurrenzkämpfe zu wichtig und zu ernst.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Sie, Herr Kohl, wurden im vergangenen Herbst als Kanzler für das Herz, als Mann des Vertrauens aufgebaut. Der Wunsch nach Hoffnung ist in der Bevölkerung groß. So wurden Sie denn am 6. März gewählt, weil Ihre Parole vom Aufschwung diese Hoffnung nährte.
    Wir jedoch haben Angst vor dem, was hinter Ihrem politischen Konzept steckt. Wir befinden uns in praktisch jeder politischen Frage in einem inhaltlichen Gegensatz zu Ihnen und Ihrer Regierung. Das, was Sie heute morgen in Ihrer Regierungserklärung vorgestellt haben, umreißt eine Ideologie, die mit dem Rückgriff auf Werte der 50er Jahre den Aufgaben der heutigen Zeit gerecht werden will. Sie bemühen viele große Worte wie Freiheit, Dynamik und Selbstverantwortung und pflegen dabei eine Unverbindlichkeit, die einzig und allein Ausdruck Ihrer Hilflosigkeit ist;

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

    Hilflosigkeit — da helfen auch keine starken Worte — in drei Themenbereichen, die ich hier nur kurz anreißen möchte: die Krise der internationalen Beziehungen, die Blockkonfrontation, aus der sich in Angst erregender Weise die Kriegsgefahr bis hin zur Gefahr eines atomaren Holocausts entwickelt hat; die ökologische Krise, die unser Leben bedroht und unseren Kindern die Zukunft raubt; die wirtschaftliche Krise, die Millionen von Menschen an den Rand dieser Gesellschaft drängt, wo das Geschwätz vom sozialen Netz zur Farce wird und Sie sich mehr um die Löcher dieses scheinbaren Netzes kümmern als um die Maschen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Ich bin überzeugt, es ist die historische Aufgabenstellung unserer Zukunft, daß wir bereit sind, die Realität wirklich wahrzunehmen, daß wir es ernst meinen mit einem wirklichen Neuansatz in der Politik, mit dem, was Sie mit dem Begriff der Wende karikiert haben. Immer mehr Menschen in diesem Lande erfahren, daß es um unseres eigenen Überlebens willen gilt, neue Formen unseres Zusammenlebens, neue Formen der gesellschaftlichen Organisation und eine menschengerechte Organisation auch des Wirtschaftslebens zu entwickeln.
    Diese Aufgabe aber, Herr Kohl, haben Sie sich offenbar nicht gestellt. Sie haben sich dieser Aufgabe nicht nur einfach entzogen, sondern Sie können sie nicht meistern.
    Ihre Politik nimmt für sich in Anspruch, eine konservative Politik zu sein. Konservativ sein hieße bewahren. Angesagt ist in der Praxis jedoch eine Politik der Betonierung unserer Landschaft, des Ausbaus unsinniger, umweltzerstörender Kanäle, der rücksichtslosen Beschleunigung des Atomprogramms, des Abbaus sozialer Leistungen und der Stationierung todbringender Raketen. Das ist keine Politik der Bewahrung, sondern der Zerstörung.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Sie lösen damit eben nicht Ihren Anspruch ein, konservativ, bewahrend zu wirken, sondern sind — das kann man nicht anders benennen — objektiv reaktionär, und das nicht nur angesichts der Reaktoren.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Dagegen ist es eine tragische Ironisierung Ihrer Politik, daß wir als diejenigen, die Sie als Systemveränderer und Mitglieder Ihrer Schwesterpartei als verdreckte, pseudoakademische Erscheinungen beschimpfen, in diesem Parlament auch auftreten müssen, um mit unserer radikalen, vorwärts gewandten Politik auch für Bewahrung einzutreten.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Was Sie als geistige Erneuerung verkaufen wollen und gleichzeitig die Wende nennen, ist eine Wende zu den Altvätern Adenauer und Erhard.

    (Zuruf von den GRÜNEN: Und Bismarck!)

    Adenauer war es, der von Wiedervereinigung sprach und gleichzeitig die Einbindung in den Westen betrieb. Das war keine Politik der Wiedervereinigung, sondern eine Politik der Trennung.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Wir wurden als Bollwerk gegen den Osten feilgeboten. Genannt wurde das Einbindung in die Gemeinschaft der freien Völker des Westens. Aber diese Gemeinschaft hat das Feindbild-Denken zur Grundlage ihrer Politik gemacht.

    (Beifall bei den GRÜNEN)




    Frau Beck-Oberdorf
    Anstatt daß diese Gesellschaft nach 1945 innehielt, um zu ergründen, wie es zum Faschismus, zu dem fürchterlichen Krieg kommen konnte, wurde mit in das große Geheul über den Feind aus dem Osten eingestimmt. Dieses Feindbild wird in Ihrer Regierung wieder gepflegt, Herr Kohl. Es bietet das Alibi für das, was Sie Frieden in Freiheit nennen.
    Frieden in Freiheit heißt für Sie wie für große Teile der SPD eine Politik der Abschreckung mit Atomwaffen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Abschreckung heißt, daß Sie bereit sein müssen, Ernst zu machen, Herr Kohl — aber darüber sind Herr Reagan und Sie ja wohl übereingekommen —, Ernst zu machen mit dem Abwurf von Atombomben auf die Menschen, die angeblich unsere Gegner sind. Das sind Menschen in der UdSSR, aber auch in Polen, Ungarn und der DDR, Herr Kohl.
    Wir sagen Ihnen, daß wir solch eine Strategie, die Bereitschaft, ganze Völker auszulöschen, für ein Verbrechen halten.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Was ist das für eine christliche Politik, die sich anmaßt, die Zerstörung der Schöpfung möglich zu machen!

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Angesichts dieser Politik nehmen wir Ihnen Ihr Klagen über das Schicksal von Solidarnosc, der Charta '77, der sogenannten Dissidenten in der UdSSR und der DDR-Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen" auch nicht ab, sondern halten es für Heuchelei.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Aber da sind Sie sich mit Herrn Honecker j a auch einig, wenn Sie die Menschen, die für einen gewaltfreien Frieden auf die Straße zu gehen gezwungen sind, Staatsfeinde oder gesellschaftszerstörende Elemente nennen.
    Die Menschen aus diesen Bewegungen sind unsere Partner, eine Außenpolitik von unten, die nicht darauf wartet, bis sich die Staaten einigen. Ohne diese Außenpolitik von unten werden sich die Staaten nie einigen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" tönten Sie im Wahlkampf, und die Rampen für die neuen Raketen werden bereits gebaut. In Vasallentreue wird unser Land der Regierung der USA für amerikanische Erstschlagswaffen angeboten. Jeder weiß inzwischen, daß in Genf nicht ernsthaft verhandelt wird.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Sie überhören geflissentlich die Ankündigung des führbaren und begrenzbaren Atomkriegs in Europa. Deswegen sind Sie für uns nicht ein Kanzler des Vertrauens, sondern ein Kanzler tiefsten Mißtrauens.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU)

    Vor diesem Hause zu schwören, Schaden vom Volk wenden zu wollen, und gleichzeitig dieses Land mit Atomraketen zu übersäen, das war für uns einer der Gründe, dem Schauspiel Ihrer Vereidigung nicht beizuwohnen.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Unverschämtheit!)

    Gegen Ihre Unsicherheitspolitik, die Sie Sicherheitspolitik nennen, setzen wir die Forderung nach der Aufkündigung jeder Partnerschaft an der nuklearen Abschreckung der NATO.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Was sie als neue deutsche Außenpolitik bezeichnet, ist die Fortführung des Alten mit gefährlichen Mitteln. Eine wirklich neue deutsche Außenpolitik würde heißen: Keine Pershing II und keine Cruise Missiles in diesem Land! Schritte zur Demilitarisierung bis zur Atomwaffenfreiheit, damit auch andere Länder aufgefordert sind, dasselbe zu tun!

    (Beifall bei den GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU)

    Uns geht es eben nicht nur um die Pershing II, sondern genauso um die SS 20.

    (Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Aber die wollt ihr!)

    Es würde heißen: Abrücken von der Bindung an den westlichen Block, damit sich auch der östliche bewegen kann.

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    Das würde auch heißen: Aufhören mit dem beschämenden Schauspiel, auf dem Rücken der Toten an der Grenze zur DDR Innen- und Deutschlandpolitik zu betreiben. Es würde heißen, endlich zur DDR normale zwischenstaatliche Beziehungen herzustellen, wie auch zu Frankreich. Das wäre Friedenspolitik.

    (Dr. Schäuble [CDU/CSU]: Liegt das an uns? — Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Sie sollten Außenminister werden!)

    Wir sind in dieses Parlament mit dem Auftrag von über 2 Millionen Menschen eingezogen, eine Politik der Gewaltlosigkeit zu vertreten und eben diese Strategie aus den Blöcken heraus zu entwikkeln. Wir werden in diesem Herbst den Anfang machen, wenn wir aus diesem Parlament herausgehen, um uns mit all unserer Kraft und physischen Existenz gegen die Stationierung der Raketen gewaltfrei zu wehren.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    So wie Ihre Sicherheitspolitik sich ins Gegenteil verkehrt und zu einer Schreckenspolitik wird, beruht Ihre Konzeption vom Aufschwung auf einer Illusion. Nicht etwa, daß die Wende auf dem Arbeitsmarkt eingetroffen wäre. Doch es ist Ihnen gelungen, auch hier Hoffnungen zu wecken mit der ach so einfachen und gängigen Parole „Wachstum schafft Arbeitsplätze". Sie erschwindelten das Vertrauen, Herr Stingl und viele Unternehmen halfen nach, und Herr Lambsdorff entwickelte das Konzept. Schon war der Aufschwung herbeigeredet.



    Frau Beck-Oberdorf
    Dieser Graf ist es, der behauptet — ich zitiere —: „Von Wachstumsgrenzen kann keine Rede sein." Sie ignorieren nach wie vor, daß es den Bericht „Global 2000" gibt, der uns zeigt, daß die Wachstumsideologie absurd ist. Ihr Wachstum in diesem Land tötet in den Ländern der Dritten Welt täglich Tausende von Kindern.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Zurufe von der CDU/CSU: Unerhört!)

    Sie haben immer noch nicht verstanden, daß das Wachsen einer chemischen und pharmazeutischen Industrie nicht auf Wohlstand schließen läßt, sondern Zeichen der zunehmenden Krankheit in unserer Gesellschaft ist.

    (Beifall bei den GRÜNEN) Gewinn ist kein neutraler Begriff, Herr Kohl.


    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Das Verheerende ist, daß sich in unserer Gesellschaft hinter dem Gewinn Zerstörung und Elend verbergen.

    (Beifall des Abg. Voigt [Frankfurt] [SPD])

    Sie setzen genau da an, wo die Sozialdemokratie scheiterte, nämlich an der Hoffnung auf höhere Wachstumsraten. Diese Ihre Wirtschaftspolitik hinterfragt nicht, wieweit diese wachstumsfördernden Maßnahmen sinnvoll für den Menschen sind, ob sie ökologisch verträglich, ob sie unter Beachtung des Nord-Süd-Gefälles moralisch überhaupt zu rechtfertigen sind.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Man sollte glauben, es gebe Ihnen zu denken, daß keiner der berufenen Prognostiker Wachstumsraten vorhersagt, die zu einer Beseitigung der Arbeitslosigkeit führen. Das haben Sie doch jetzt von den Wirtschaftsinstituten schriftlich. Man sollte glauben, es gebe Ihnen zu denken, wenn die Wirtschaftspropheten, unberührt von Ihrer Aufschwungseuphorie, ein im großen und ganzen stagnierendes Bruttosozialprodukt vorhersagen. Was Sie jetzt anbieten, ist eine hilflose Mischung aus neokonservativem Angebots- und keynesianistischen Nachfragekonzepten. Auch hier brauchen wir die Daten nicht zu bemühen.

    (Klein [München] [CDU/CSU]: Das wäre aber nötig!)

    Wir alle wissen, daß die Ihnen geistesverwandte Maggie Thatcher und Ronald Reagan vor einem Heer von Arbeitslosen stehen und daß nicht wie früher Kaugummi in die Zone, sondern Butterkekse nach Detroit geschickt worden sind.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Ach du meine Güte!)

    Die Jugendlichen, denen Sie als Kanzler des Vertrauens Lehrstellen versprachen, wissen jetzt als erste, was von Ihrem Versprechen zu halten ist.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Herr Lambsdorff rühmte sich damit, daß die Gewißheit bestehe, daß nach dem 6. März eine Wirtschaftspolitik betrieben wird, die investitions- und leistungsfreundlich ist, und Sie appellieren an die Einsicht der Bevölkerung, daß man vom Anspruchsdenken herunterkommen und den Sozialstaat tieferhängen müsse.

    (Beifall des Abg. Kleinert [Hannover] [FDP])

    Doch ein Konzept zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit ist von Ihnen nicht zu erwarten.

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Was ist denn Ihr Konzept?)

    Investitionen in Großprojekte wie die Verkabelung, Hochtemperaturreaktoren, den Schnellen Brüter und in die Rüstungsindustrie binden viel Kapital und schaffen wenig Arbeit für den Menschen.
    Die Einführung neuer Technologien entpuppt sich als der unkontrollierte Arbeitsplatzfresser größten Ausmaßes.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Wollen Sie Unternehmen, die wegen Mangels an Absatz krisengeschüttelt sind, noch erweitern, neue Kapazitäten in der Automobilindustrie oder der chemischen Industrie schaffen, obwohl die alten Anlagen bei weitem zu groß sind?
    Dies ist kein Konzept für die Zukunft, ein Konzept ohne Zukunft vor allem für Behinderte, sozial Schwache und Rentner, die sich einschränken sollen, damit dieses Programm zugunsten der Expansion bezahlbar wird. Es ist ohne Zukunft für die Frauen, die jetzt wieder an Heim und Herd geschickt werden, ohne Zukunft für die Ausländer, die fix zum Sündenbock der Krise gemacht wurden — das kennen wir schon aus der Geschichte —, weil sie angeblich Arbeit wegnehmen.
    Wenn dieses Parlament noch einen Sinn haben soll,

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    muß es Raum bieten für Utopien, die machbar sind.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU]: Utopien sind nicht machbar!)

    Es ist eine konkrete Utopie, die vorhandene Arbeit auf alle zu verteilen.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

    Die Senkung der Arbeitszeit schafft Raum für die notwendige Aufteilung der Erziehungs- und Hausarbeit zwischen Mann und Frau. Sie schafft Raum für eine soziale Sicherheit, in der nicht alle Versorgung staatlich vermittelt und bürokratisiert ist. Was wir brauchen, ist eine Wende zu einem menschenwürdigen Leben, welches nicht auf Kosten der Zukunft aufgebaut ist,

    (Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Das ist richtig!)




    Frau Beck-Oberdorf
    eine Wende, die von der maßlosen ökologischen Belastung der Umwelt und der forcierten Aufrüstungspolitik abkehren will,

    (Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Zurück auf die Bäume!)

    die damit aufhören will, unseren gesellschaftlichen Reichtum in unproduktive Wirtschaftskanäle zu lenken.
    Die neuen sozialen Bewegungen haben ihre Sache in die eigene Hand genommen, weil auf Politik wie bisher keine Hoffnungen mehr zu setzen sind. Diese Bewegungen sollen mit Intelligenz und großer Entschlossenheit eine tatsächliche Wende herbeiführen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Auch Ihre Regierung, Herr Kohl, hat den allgemeinen Trend entdeckt und redet vom Umweltschutz. Während vor wenigen Jahren noch die als „grüne Spinner" bezeichnet wurden, die das Sterben der Wälder bereits sahen, können selbst Sie heute über solche Erscheinungen nicht mehr hinwegreden. Auch Sie sprechen von der Notwendigkeit der Erhaltung unserer natürlichen Lebensgrundlagen, der Erhaltung einer gesunden Luft, eines gesunden Bodens und reinen Wassers.
    Doch wie sieht Ihr Umweltschutz aus? Zwischen Reden und Handeln besteht eine große Kluft. Sie können nicht hier die norddeutsche Küstenregion und das Wattenmeer zerstören und dort von Landschaftsschutz sprechen.

    (Stratmann [GRÜNE]: Das tun sie aber!)

    Sie können nicht den Flughafen um die Startbahn West und den Hafen in Hamburg erweitern und gleichzeitig Naturschutz predigen.

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das kann man!)

    Gleiches gilt für den Bau des sinnlosen RheinMain-Donau-Kanals.

    (Zustimmung bei den GRÜNEN)

    Es ist ein Skandal, wenn Sie von der Notwendigkeit der Nutzung der Atomenergie sprechen, weil dies die angeblich umweltfreundlichste Energieversorgung sei,

    (Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Nachweislich!)

    wo doch jeder wissen könnte, daß diese Technologie das größte Risiko in sich birgt, welches die Menschen jemals in Kauf genommen haben.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Objektiv falsch!)

    Umweltschutz muß radikal sein — Herr Kohl, ich weiß, daß Sie dieses Wort fürchten —,

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    radikal im urtümlichen Sinne, nämlich an die Wurzel gehend. Wenn sich dagegen Ihr technokratischer Umweltschutz weiterhin nach den Regelungen der Zumutbarkeit für die Wirtschaft bemißt, wenn Sie weiterhin Nachsorge vor Vorsorge stellen, wenn die Verfahren der Produktion nicht so geändert werden, daß sie Mensch und Natur angepaßt sind, wird die Zerstörung der Natur weitergehen. Hier, Herr Kohl, wäre der Einsatz von Forschungsgeldern sinnvoll, statt das Forschungsministerium zum aussichtslosen Atomministerium zu machen.

    (Beifall bei den GRÜNEN und des Abg. Voigt [Frankfurt] [SPD])

    Es werden nicht die Herren von BASF und Hoechst sein, die Ihnen diese Aufgabe abnehmen, auch wenn Herr Riesenhuber darauf vertraut.
    Nehmen Sie endlich ernst, was außerhalb dieses Hohen Hauses geschieht, und verteufeln und kriminalisieren Sie nicht länger die Menschen, die auf die Straße gehen, um für das Überleben künftiger Generationen zu kämpfen!

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Ihr Innenminister, Herr Bundeskanzler — es wird Sie nicht erstaunen, daß wir ihn nicht den unseren nennen —, heißt Zimmermann. Dieser Mann, nomen est omen, steht für ein Programm.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU)

    Über dieses innenpolitische Programm, das durch Herrn Zimmermann verkörpert wird, werden Sie sich nicht einfach hinwegreden können. Politik à la Zimmermann: Liegen wir falsch, wenn wir davon ausgehen, daß der Innenminister dem Umweltminister mit dem Einsatz des Bundesgrenzschutzes gegen Kernkraftgegner zu Hilfe kommen wird und dies für eine umweltpolitische Maßnahme hält?

    (Zuruf von der CDU/CSU: Ja!)

    Liegen wir falsch, wenn wir vermuten, daß er auf der Linie liegt, bei der in Baden-Württemberg bei der Einsatzplanung für Wyhl von vornherein Tote einkalkuliert werden, um den Bau eines weiteren überflüssigen Atomkraftwerkes durchzusetzen?

    (Hört! Hört! bei den GRÜNEN) Und liegen wir falsch,


    (Zuruf von der CDU/CSU: Ja!)

    wenn wir ihm zutrauen, aus Anlässen wie der jüngsten Erschießung eines Jugendlichen in Bayern nur einige belanglose Sätze zu finden?
    Wir haben erst vor kurzem erlebt, wie leicht dieser Minister mit dem Begriff der Verfassungsfeindlichkeit bei der Hand war, als er alle die, die sich gegen die staatliche Datensammelwut wandten, als Staats- und Verfassungsfeinde diffamierte.

    (Stratmann [GRÜNE]: Eure Demokratie!)

    Das Bundesverfassungsgericht hat nun die Einwände dieser „Verfassungsfeinde" immerhin so ernst nehmen müssen, daß es die Volkszählung gestoppt hat. Herr Zimmermann sollte, wenn er sich schon nicht entschuldigen kann, doch zumindest zugeben, daß er vorschnell geurteilt hat.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Ich glaube, mit diesem Minister, der in den nächsten Jahren darüber befinden soll, was dem Geist und dem Buchstaben der Verfassung entspricht, werden wir noch einige Überraschungen dahin ge-



    Frau Beck-Oberdorf
    hend erleben, was verfassungskonform ist und was nicht. Möglicherweise werden wir auch durch die Erfahrung überrascht, was für eine dehnbare Verfassung wir eigentlich haben.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Vermutlich hat uns das, was im Zusammenhang mit der Volkszählung geboten wurde, ein Vorspiel geliefert, mit welchem Geist in Zukunft Innenpolitik betrieben werden wird. Gegner einzelner staatlicher Maßnahmen werden zu Verfassungsgegnern erklärt. Politische Kontroverse wird zu einem Delikt, für das der Verfassungsschutz zuständig ist. Ich muß Ihnen sagen, daß sich unsere Gegnerschaft zu den neuen Informationstechnologien auch daraus speist, daß wir sie niemals in den Händen eines Mannes wie des Bundesministers Zimmermann sehen wollen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Wir vermuten, daß Sie trotz der Klage über sozialdemokratische Erblasten zumindest ein Erbe mit Handkuß übernehmen werden: das der Berufsverbote.

    (Zuruf von der SPD: Pfui!)

    — Das muß ich leider sagen, meine Herren von der SPD. Das ist ja wohl so.

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Mit dem ausdrücklichen Bedauern!)

    Diese Innenpolitik ist der Flankenschutz für das außen- und wirtschaftspolitische Programm dieser Bundesregierung. Sie ist Instrument für die Durchsetzung der Raketenstationierung bis hin zur Durchsetzung der Sparmaßnahmen gegen gewerkschaftlichen Widerstand.
    Herr Bundeskanzler, ich habe eingangs darauf hingewiesen, daß wir hier praktisch in jeder Frage eine inhaltliche Kontroverse bekommen werden. Das wird in den nächsten Jahren hier geschehen. Diese Kritik an Ihrer Regierung und an Ihrer Politik sehen wir als unsere Hauptaufgabe in diesem Parlament an.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Schade!)

    Ich möchte mich auch noch mit einem Wort an Herrn Vogel wenden. Das, was wir heute nachmittag von Ihnen gehört haben, Herr Vogel, die Kritik an der Aufrüstung, die Skepsis gegenüber der Großtechnologie, die Zurückhaltung gegenüber der Industriegesellschaft und der Hinweis, daß das vorher ja auch schon andere gesagt haben, zeigt uns, daß sich in Ihrer Partei anscheinend etwas bewegt hat.

    (Dr. Schäuble [CDU/CSU]: Ja, den Eindruck haben wir auch!)

    Ich möchte allerdings unserer Skepsis Ausdruck verleihen, ob Sie das auch so geäußert hätten, wenn die Wahlen am 6. März anders ausgeganen wären.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Hoffentlich wird sich dieser geistige Wandel, der
    sich hier heute angekündigt hat, auch in einer Politik der entsprechenden praktischen Schritte niederschlagen.

    (Dr. Schäuble [CDU/CSU]: Der Börner kommt morgen!)

    Ich denke, das werden wir in diesem Herbst sehen. Eines sollten Sie wissen: Im Herbst werden wir auf der Seite stehen, wo die Knüppel der Staatsgewalt auf die Menschen niedergehen werden, die die Stationierung neuer Raketen aus Verantwortung vor sich und ihren Kindern nicht hinnehmen können.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)