Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich möchte hier, wie ich hoffe und wie ich es versuchen werde, in aller Ruhe und aller Gelassenheit einige Berner-kungen zu dem machen, was wir im Laufe dieses Vormittags gehört haben.
Auch wir, meine Damen und Herren, wie alle hier im Hause haben sehr sorgfältig überlegt, welcher Weg zum angestrebten Ziel verfassungsrechtlich vertretbar und gangbar ist. Wenn ich die Diskussion heute morgen verfolge, dann scheint mir eines immer wieder zu kurz gekommen zu sein — Herr Dregger hat zu Recht darauf hingewiesen —: Wollen wir eigentlich wählen — jetzt und heute, am 6. März oder am 13., das spielt dabei gar keine Rolle —, soll gewählt werden? Sind wir übereinstimmend der Meinung, daß wir uns dem Votum des Wählers zu stellen haben nach dem Wechsel und nach dem Erledigen der dringend gebotenen gesetzgeberischen Arbeiten, oder nicht?
— Wenn Sie den Zwischenruf machen, das sei unser Problem, dann frage ich zurück, ob denn nicht Sie die Schilder aufgehängt haben „Wir wollen wählen — jetzt". Und warum sollten wir nicht dazu stehen?
— Ich komme auf das Thema 1. Oktober oder früher noch zurück.
Meine Damen und Herren, es ist gesagt worden, der Bundeskanzler hätte sich zum Rücktritt entschließen müssen, um Neuwahlen herbeizuführen. Warum ist das am 17. September nicht gleichfalls gesagt und gefordert worden?
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1982 8969
Dr. Graf Lambsdorff
Herr Kollege Brandt, Sie haben gesagt — ich glaube, ich habe es richtig notiert —, Sie werden genau beobachten, ob der Bundeskanzler mit seiner eigenen Mehrheit das vorzeitige Ende einer Legislaturperiode herbeiführen kann. Das ist gewiß eine gerechtfertigte Frage. Frau Schuchardt hat gemeint, am 17. September 1982 habe die FDP den Schlüssel zu einer Auflösung in der Hand gehabt.
Ich frage: Inwieweit unterscheidet sich die verfassungsrechtliche Qualität des damaligen Vorschlages eigentlich von dem, was heute beabsichtigt wird?
Meine Damen und Herren, Herr Professor Ehmke, „wer nach einem konstruktiven Mißtrauensvotum Kanzler wird oder bleibt, der hat das Recht, über Art. 68 nach einer Vertrauensfrage — wenn der Bundespräsident es so will — die Auflösung des Bundestages und Neuwahlen herbeizuführen". — So sagte Helmut Schmidt am 9. September 1982 an dieser Stelle im Deutschen Bundestag, ausweislich des Protokolls.
„Wer nach einem konstruktiven Mißtrauensvotum Bundeskanzler wird oder bleibt" — hören Sie bitte zu oder lesen Sie es nach! Genau der Zustand, der eingetreten ist, ist von Helmut Schmidt als der Grund für ein Vorgehen nach Art. 68 bezeichnet worden, um Neuwahlen herbeizuführen.
Warum gilt unter den obwaltenden Umständen anderes, als es damals nach Ihren Wunschvorstellungen hätte gelten sollen?
Herr Kollege Brandt, Sie haben gesagt: Die Koalition wählt den ihr günstig erscheinenden Neuwahlzeitpunkt.
Das ist eine gewagte Behauptung, Herr Brandt; denn ob der 6. März 1983 mit dem, was wir hier beschlossen und unserem Volk angeboten haben, was wir an Zumutungen, an Entbehrungen, an Leistungen, an Arbeitslosenziffern — wie wir alle wissen — im Febraur auf dem Tisch haben werden, ein unter wahlopportunistischen Gesichtspunkten günstig gewählter Zeitpunkt ist, Herr Brandt, das kann man wohl mit Fug und Recht bezweifeln.
Das gilt in gleichem Maße für die hier aufgestellte Behauptung, das Wahlrisiko am 17. September 1982 sei zu hoch gewesen. Ich wiederhole noch einmal die beiden damals möglichen Lösungen, die ich nicht für sachgerechte Lösungen gehalten habe und heute erst recht nicht halte, nämlich entweder ein Minderheitenkabinett — unvertretbar und unverantwortbar angesichts des schwierigsten Winters, in den wir wirtschafts- und beschäftigungspolitisch gehen — oder keine Verabschiedung des notwendigen Haushalts 1983, vor allem aber keine Verabschiedung der Begleitgesetze für den Haushalt 1983, die am 1. Januar ihre Einsparungswirkungen entfalten müssen, um uns vor einer schlimmen Haushaltsentwicklung im Jahre 1983 zu bewahren. Wer heute noch davon redet, 28 Milliarden DM seien im ersten Etatentwurf angepeilt worden, und jetzt seien es 40 Milliarden DM geworden, und meint, man hätte bei 28 Milliarden DM bleiben müssen, der hat von den sachlichen Arbeiten dieses Parlaments in den letzten Wochen genausowenig Kenntnis genommen wie in den früheren Jahren.
Deswegen, Herr Kollege Brandt, ist Ihre Formulierung, die FDP habe gemeint — so sagten Sie — „dem Wähler davonlaufen zu können", ungerechtfertigt und falsch. Wir stellen uns dem Wähler,
aber wir sind den Sachproblemen nicht davongelaufen, sowie die Sozialdemokratische Partei mit zunehmender Geschwindigkeit der Sicherheitspolitik Helmut Schmidts, den Einsichten Helmut Schmidts in die Haushaltspolitik und Wirtschaftspolitik,
der Energiepolitik, die die sozialliberale Koalition konzipiert hatte, all dem in einem 75-Tage-Marathon-Rennen davongelaufen ist, das kaum noch überboten werden kann.
Wenn Sie, verehrter Herr Kollege Brandt, das Stichwort „Depression" in unsere wirtschaftspolitische Diskussion einführen, warne ich dringend davor, dies zu tun. Ich weiß, daß es auch jemand anders in Ihrer Partei tut, dem ich weltökonomische Einsichten durchaus zubillige.
— Ja, ich weiß das, Herr Brandt. Ich warne dennoch
davor, mit diesem Begriff und mit diesem Wort in
einer Weise umzugehen, die self fulfilling prophecy
8970 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 141. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Dezember 1982
Dr. Graf Lambsdorff
werden kann. Daran kann keiner von uns ein Interesse haben.
Wenn Sie weiter sagen, die Schwierigkeiten, mit denen wir zu tun haben, seien Ausdruck internationaler Verwerfungen, dann bestreitet das in Teilbereichen niemand. Das ist nicht bestritten worden, und das wird auch nicht bestritten werden.
Aber ich darf ein Zitat hier wiederholen, im Verfahren Ihnen folgend Herr Brandt, obwohl auch ich mich nicht gern selber zitiere:
Diese weltweite Wachstumsschwäche darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die derzeitigen weltwirtschaftlichen Schwierigkeiten die Summe einzelstaatlicher Fehlentwicklungen sind und daß ein wesentlicher Teil der Ursachen unserer binnenwirtschaftlichen Probleme auch im eigenen Land zu suchen ist.
So habe ich es dem Bundeskanzler Helmut Schmidt am 9. September 1982 schriftlich formuliert auf den Tisch gelegt. Und das halte ich nach wie vor für richtig.
Wir haben lange vor dem 17. September Diskussionen über die Formulierung gehabt, die vorhin kritisiert wurde, weil Herr Genscher sie gebraucht hat, daß nämlich das Haus in Ordnung gebracht werden muß. Wir hatten kontroverse Diskussionen darüber. Einige der Kollegen im alten Kabinett werden sich daran erinnern. Aber wir haben das nicht erst jetzt gesagt, sondern wir haben im Zug der sich abzeichnenden Fehlentwicklungen die Notwendigkeit solcher Entscheidungen heraufkommen sehen und uns ihnen gestellt.
Ich sage auch hier noch einmal, ebenso wie es mein Freund Hans-Dietrich Genscher vorhin von dieser Stelle getan hat und wie ich es vor zwei Tagen tun konnte: Wir haben diesen Wechsel aus unserer Verantwortung, aus unserer Einsicht in die Notwendigkeiten unseres Landes für richtig, für unumgänglich gehalten. Und wir übernehmen die Verantwortung und stellen uns dieser Verantwortung, auch und gerade dem Urteil des Wählers am 6. März 1983.
Wenn Fehlentwicklungen eingetreten sind — und die kann doch keiner bestreiten —, dann, Herr Brandt, kann man es sich nicht so leicht machen, wie Sie es formuliert haben: Wenn schon, dann tragen Sie die Verantwortung, und wir kritisieren. Wir alle haben Verantwortung. Wir stellen uns dieser Verantwortung.