Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch die gegenwärtige Bundesregierung hat nichts daran ändern können, daß wir in einer Woche Weihnachten haben.
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Ich gehe davon aus, daß sie daran auch nichts hat ändern wollen.
Es ist ja im übrigen gut, wenn wir alle miteinander, Herr Bundeskanzler, wir alle in diesem Hause an die Begrenztheit dessen erinnert werden, was wir bei allem Engagement und bei allem mehr oder weniger guten Willen zu bewirken vermögen.
Aber dem Herrn Bundespräsidenten legen Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen der gegenwärtigen Koalition, wenn Sie dem Begehren von Bundeskanzler Kohl folgen, etwas auf den vorweihnachtlichen Tisch, was ihm wenig Freude bereiten kann, auch nach den Erläuterungen, die der Herr Bundeskanzler dazu eben gegeben hat.
Nun haben wir über den Gegenstand, um den es hier geht, also vorgezogene Neuwahlen, schon im September, als die sozialliberale Koalition auseinandergebrochen war, von dieser Stelle aus unsere Meinungen ausgetauscht. Wir Sozialdemokraten haben seitdem auch sonst unsere Meinung gesagt.
Ich bin weiterhin nicht sicher, ob unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger gut genug verstehen, worum es jetzt geht. Deshalb erscheint es mir unerläßlich, die Zusammenhänge aus meiner, aus unserer Sicht noch einmal aufzuzeigen.
Wir, die Sozialdemokraten in diesem Hause, waren und sind der Meinung, daß der Weg zu Neuwahlen hätte beschritten werden sollen, als die Koalition zerfiel, die im Oktober 1980 durch die Wähler erneut ins Amt berufen worden war.
Bundeskanzler Schmidt hatte Ihnen und uns vorgeschlagen, das Mandat in die Hände der Wähler zurückzugeben. Die Mehrheit dieses Hauses hat sich anders entschieden, und wir, die wir nicht die Mehrheit stellen, hatten uns dem zu beugen.
Wir haben ja auch nie die Rechtmäßigkeit des Regierungswechsels bestritten, der hier am 1. Oktober stattgefunden hat.
Natürlich erlaubt das Grundgesetz die Neuwahl eines Bundeskanzlers im Verlauf einer Legislaturperiode des Bundestags. Ob der Wechsel im konkreten Fall, also durch den Seitenwechsel derer, die die Mehrheit der FDP bilden, unter dem Gesichtspunkt politischer Klarheit und Wahrhaftigkeit gerechtfertigt war, daran haben wir unseren ersten Zweifel angemeldet.
Daran hat sich nichts geändert; denn es bleibt ein ungewöhnlicher Vorgang, ein, wie wir meinen, höchst zweifelhafter Vorgang, wenn eine Partei einen Teil ihrer Stimmen für das Versprechen erhält, mit Bundeskanzler Schmidt weiter zusammenzuarbeiten, sie ihn dann aber kaum zwei Jahre danach nicht stützt, sondern aus fadenscheinigen Gründen stürzt.
Nun hat ja Bundeskanzler Kohl von Anfang an auch das Empfinden gehabt, daß er nicht einfach weitermachen könne, als ob in bezug auf die innere Rechtfertigung des Regierungswechsels alles in Ordnung gewesen wäre. Also hat er in seiner Regierungserklärung vom 13. Oktober — er hat eben darauf Bezug genommen — Neuwahlen in Aussicht gestellt. Weil Sie, Herr Bundeskanzler, was ich wohl verstehen kann, sich erst einen Platzvorteil verschaffen wollten, haben Sie eine sich über zwei Monate erstreckende Phase der Spekulationen und Unklarheiten entstehen lassen,
nämlich darüber, wie die vorgezogenen Neuwahlen in die Wege geleitet werden sollten.
Erst seit Ihrem Antrag zu Beginn dieser Woche gibt es insoweit eine neue Situation.
Herr Bundeskanzler, vor dem von Ihnen jetzt vorgeschlagenen Weg, die Neuwahl zu erreichen, ist schon im September, also vor Ihrer Wahl zum Bundeskanzler, aus verfassungsrechtlicher, vor allen Dingen aus verfassungspolitischer Sicht ausdrücklich gewarnt worden. Die inzwischen mehrfach wiederholte Warnung hat ihren Zweck nicht erreicht. Gerade an diesem Weg, wie wir eben gehört haben, einer einfachen Vertrauensfrage halten Sie fest.
Dabei fehlte es nicht an Hinweisen, daß Sie, Herr Bundeskanzler, und Ihre politischen Freunde die rechtlichen Bedenken im Hinblick auf eine negativ beantwortete Vertrauensfrage trotz bestehender Mehrheit für die Regierung als erheblich angesehen haben oder vielleicht auch jetzt noch ansehen. Herr Ministerpräsident Strauß, der Vorsitzende einer der drei diese Regierung tragenden Parteien, hat noch am 2. Dezember — nicht irgendwann im frühen Herbst — in einem Fernsehgespräch betont, er sei für sofortige Neuwahlen gewesen. Von ihm stamme der Termin des 6. März nicht, und er trage auch nicht die Verantwortung dafür. Sein, wie er es sagt, liebster Weg zu Neuwahlen führe über die durch eine Grundgesetzänderung ermöglichte Selbstauflösung des Bundestages.
Sie selbst, Herr Bundeskanzler, hatten in Ihrer Regierungserklärung vom 13. Oktober eingeräumt, daß es verfassungsrechtlich nicht einfach sei, Ihre Absicht zur Wahl am 6. März nächsten Jahres zu verwirklichen. Gleichwohl haben Sie es sich mit Ihrem jetzigen Verfahren einfach gemacht, ich finde, vielleicht zu einfach.
Dies ist, Herr Bundeskanzler, im übrigen nicht die Situation von vor zehn Jahren. Damals ist — woran Sie uns eben erinnert haben — von Art. 68 des Grundgesetzes Gebrauch gemacht worden. Doch übersehen wir bitte nicht: Die damalige Regierung hatte es mit einem Patt zu tun. Damals haben wir uns darauf verständigt, das nicht erstrebte und in der gegebenen Situation auch nicht zu erreichende Vertrauensvotum nach Art. 68 des Grundgesetzes zu nutzen, um Gustav Heinemann, dem damaligen Bundespräsidenten, die Möglichkeit
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zu geben, den Bundestag aufzulösen; und so ist es ja dann auch erfolgt. Diesmal haben wir es mit einer, was den Ausgangspunkt angeht, anderen Lage zu tun. Niemand, der die Belastbarkeit unserer Verfassung geprüft hat, dürfte sich darüber im unklaren gewesen sein.
Es drängt sich hier die Frage auf, meine Damen und Herren, ob wirklich die zeitliche Begrenzung eines Regierungsmandats durch Koalitionsvereinbarung und ergänzende Fraktionserklärungen genügen soll, um die vorzeitige Auflösung des Bundestages zu ermöglichen. Wir Sozialdemokraten werden jedenfalls den weiteren Verlauf dieses Verfahrens mit aller Sorgfalt daraufhin beobachten, ob hier erstmalig ein Beispiel dafür gegeben wird, daß ein Bundeskanzler, egal aus welcher Partei er komme, mit seiner Parlamentsmehrheit das Ende einer Legislaturperiode des Bundestages nach eigenem Ermessen herbeiführen kann.
Meine Damen und Herren, politische Gründe für die zeitliche Begrenzung und die Erneuerung eines Regierungsmandats durch Wahlen lassen sich auch für andere, künftige Fälle denken. Wir alle können doch aber wohl — —
— Lassen Sie mich bitte jetzt meine Darlegungen hierzu in Ruhe auseinandersetzen. Das, wovon ich spreche, ist wichtig genug, nicht nur für uns heute, sondern für die Verfassungsentwicklung dieses Landes.
Ich wiederhole: Politische Gründe für die zeitliche Begrenzung und die Erneuerung eines Regierungsmandats durch Wahlen lassen sich auch für andere, künftige Fälle denken. Nun können wir doch alle wohl nicht wollen, daß eine jeweilige Regierung mit ihrer jeweiligen Mehrheit den ihr günstig erscheidenenden Neuwahlzeitpunkt selbst aussucht, statt in der vom Grundgesetz bestimmten Vierjahresfrist ihre Aufgaben zu erfüllen und sich danach den Wählern zu stellen; das ist die Grundlage der Verfassung.
— Nun muß ich Ihnen einmal was sagen. Wir haben den Bundeskanzler angehört, wie es sich gehört. Sie haben bitte den Sprecher der Opposition auch anzuhören, damit er seine Auffassung ruhig darlegen kann.
Nun haben Sie, Herr Bundeskanzler, im Laufe der zurückliegenden Wochen die Frage aufgeworfen, ob nicht das Grundgesetz so ergänzt werden sollte, daß für die Zukunft der Bundestag selbst das Recht erhielte, sich durch qualifizierten Mehrheitsbeschluß selbst aufzulösen und dadurch Neuwahlen möglich zu machen.
Ich habe Ihnen dazu gesagt, daß sich die Sozialdemokraten, ohne das Ergebnis vorwegzunehmen, einer späteren sorgfältigen Prüfung einer entsprechenden Verfassungsergänzung nicht entziehen würden. So habe ich es Ihnen gesagt. So wiederhole ich es hier. Wir Sozialdemokraten haben indes zu keinem Zeipunkt einen Zweifel daran aufkommen lassen, daß wir zu Neuwahlen bereit sind,
auch unter anderen als den im Frühherbst von Bundeskanzler Schmidt vorausgesetzten Bedingungen.
Wir haben auch gegenüber dem Herrn Bundespräsidenten keinen Zweifel daran gelassen, daß die Nein-Stimmen der Sozialdemokraten in diesem Haus Ihnen, Herr Bundeskanzler, jedenfalls sicher sind.
So haben wir es übereinstimmend erklärt, ich selbst für die Sozialdemokratische Partei, Herbert Wehner, der aus Krankheitsgründen heute leider nicht hier sein kann, und Hans-Jochen Vogel als unser erster Mann für die nächsten Wahlen, nämlich als unser Kandidat für das Amt des Bundeskanzlers. So sage ich es hier noch einmal: Bundeskanzler Kohl kann sich darauf verlassen, daß er das politische Vertrauen der sozialdemokratischen Abgeordneten im Deutschen Bundestag nicht hat.
Da Sie, Herr Bundeskanzler, auch schon das Empfinden hatten, daß es einer neuen Entscheidung der Wählerinnen und Wähler bedürfte, sage ich auch nach der heutigen Einlassung, daß Sie sich am besten zum verfassungsrechtlich ganz unproblematischen Rücktritt hätten entschließen sollen.
Denn Sie wären damit, Herr Bundeskanzler, gar nicht erst in die Verlegenheit geraten, Ihre gerade gestern bestätigte Gesetzgebungsmehrheit mit dem heute erstrebten fiktiven Vertrauensvotum, einem Nicht-Vertrauensvotum, in Einklang zu bringen und so das Grundgesetz zu strapazieren.
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— Aber verehrter Kollege — nun gehe ich doch auf den Zwischenruf ein —, ist es denn nicht verständlich,
daß eine andere Situation gegeben war, als es nicht eine Gesetzgebungsmehrheit gab, wie Sie sie gerade gestern hier festgestellt haben?
Damals saß der Herr Kollege Stücklen dort, nicht als Bundestagspräsident, sondern um für seine Fraktion, als dieser ganze Vorgang eingeleitet wurde, festzustellen, daß wir beim Haushalt unterlegen seien. Sie sind doch beim Haushalt gestern nicht unterlegen. Sie können die Dinge doch nicht auf den Kopf stellen.
Ich sage also, Sie hätten sich durch den anderen Weg einiges erspart; gewisse Peinlichkeiten im Verhältnis zu anderen Verfassungsorganen hätten vermieden werden können.
Mit Nachdruck will ich im übrigen feststellen, meine Damen und Herren, daß Sie — insbesondere Sie, Herr Bundeskanzler — Ihre Pflicht und Ihre Zusage nur erfüllt haben, wenn es wirklich zu Neuwahlen kommt.
Etwaige Hindernisse auf dem Weg dorthin wären von Ihnen verschuldet und müßten von Ihnen durch einen Rücktritt überwunden werden. Ich sage das vorsorglich.
Diejenigen, die skeptisch nach Bonn blicken und ihre Vorwürfe an alle Parteien, nämlich für den Fall des Scheiterns einer Neuwahl, schon jetzt ankündigen, mögen bitte zur Kenntnis nehmen, daß dieser Bundeskanzler und die ihn stützenden Fraktionen die alleinige Verantwortung für das heutige Geschehen tragen und deshalb auch allein als Adressaten für Vorwürfe dieser Art zu gelten haben.
Wir Sozialdemokraten wollen die Neuwahl, und wir bestehen auf ihr. Aber wir haben nicht Anteil an dem Risiko eines Scheiterns, das sich aus dem von der Regierung und den Regierungsparteien mit robuster Dickfelligkeit festgehaltenen Weg über die fiktive Vertrauensfrage ergeben kann.
Tritt bei einem Fehlschlag durch die Enttäuschung der Bürger politischer Schaden ein, so sind die Schuldigen allein auf der Regierungsbank und natürlich in den Fraktionen zu suchen, auf die sich der Bundeskanzler stützt.
Erst recht, Herr Bundeskanzler, verantworten Sie den Schaden, der dadurch entstanden ist, daß Sie sich einerseits der noch am 1. Oktober von Bundeskanzler Schmidt und seither von vielen Seiten wiederholt erhobenen Forderung, Ihren Weg zur Neuwahl klarzustellen, bis vor kurzem beharrlich entzogen haben, andererseits die Festlegung auf den 6. März als Wahltag gleichwohl ständig wiederholt haben. Ihnen muß doch klar gewesen sein, Herr Bundeskanzler, daß Sie damit den Versuch unternommen haben, nicht sich, sondern den Herrn Bundespräsidenten festzulegen.
Er löst den Bundestag auf. Er setzt den Tag der Neuwahl fest.
Und ich möchte dagen: Er hat sich in der bisherigen Diskussion vorbildlich zurückgehalten.
Und er hat Sie, Herr Bundeskanzler, offenkundig nicht ermächtigt, an seiner Stelle den Wahltag zu verkünden.
Ich frage für alle zukünftigen Fälle mit: Wird dem Herrn Bundespräsidenten sein Handeln durch die Regierung vorgeschrieben? Soll er unter öffentlichen Druck gesetzt und zum Vollzugsorgan von Koalitionsentscheidungen gemacht werden?
— Die Kollegen hier sagen: Nein. Ich wende mich dann dem Teil Ihrer Koalition zu und sage:
Ihr Innenminister Zimmermann, Herr Bundeskanzler, nähert sich auch sprachlich bereits dieser Sichtweise, bei der ich eben war, wenn er nach einem Hinweis auf den Willen einer übergroßen Mehrheit des Parlaments, wie er sagt, in einem Zeitungsinterview von vor drei Tagen davon ausgeht, daß der Bundespräsident — und ich zitiere wörtlich — „den Wunsch des Kanzlers vollzieht und den Neuwahltermin bestimmt".
Sie müssen sich bitte, meine verehrten Kollegen von der gegenwärtigen Mehrheit, deshalb sagen lassen: Wer von Staatsverdrossenheit spricht und sie beklagt, sollte solchen Umgang mit unserer Verfassung wirklich vermeiden.
Ich gehe davon aus, daß es zu Neuwahlen kommt. Dann werden viele sich und uns,
Ihnen und uns die Frage stellen, was die Bundesrepublik davon gehabt hat, daß ein so angesehener und kompetenter Regierungschef wie Helmut Schmidt, der unser Land mit sicherer Hand durch
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manche Fährnis der Weltwirtschaftskrise gesteuert hat,
aus dem Amt gedrängt wurde,
und ob es sich wirklich gelohnt hat, daß man die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland nicht vor der Bildung einer neuer Regierung an den Wahlurnen ihren Beitrag hat leisten lassen.
Dabei messen wir Sie, — —(Frau Pack [CDU/CSU]: Scheinheilig! —
Seiters [CDU/CSU]: Der Bibelverkäufer!)
— Ich würde mir solche Zwischenrufe, Frau Kollegin, wirklich ernsthaft überlegen.
Dabei messen wir Sie — ich wiederhole es —, die gegenwärtige Regierung und die sie tragende Koalition, an Ihren eigenen Ansprüchen. Sie haben die Notwendigkeit der Bildung dieser Übergangsregierung damit begründet — und haben jetzt eben darauf Bezug genommen , Herr Bundeskanzler —, Sie wollten und Sie könnten die Voraussetzungen schaffen, um die wirtschaftlichen Probleme unseres Landes zu bewältigen und vor allem, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Sie, Herr Bundeskanzler, haben in Ihrer Rede am Dienstag, die ich wegen einer Sitzung einer von mir zu leitenden Kommission leider nicht mit anhören konnte, aber natürlich nachgelesen habe — —
— Der das eben zugerufen hat, ist mir noch nicht weiter aufgefallen, als dadurch,
daß er, anstatt einen Kollegen nach einem bedauerlichen Sachverhalt zu fragen,
die für ihn günstige Gelegenheit nimmt, sich in die Bild-Zeitung reinzuspielen. Schämen sollten Sie sich.
Ich wiederhole:
Was heißt hier peinlich? Wenn Sie es schon genauer hören wollen — —
Wenn Sie es schon genauer hören wollen, anstatt etwas, was Sie für beanstandenswert halten — ich auch —, mit dem Betroffenen zu besprechen: Können Sie sich vorstellen, daß jemand eine Kassette, die ihm zum 60. Geburtstag von seinem Freund, dem Mainzer Oberbürgermeister, geschenkt wird, nicht mit einer Bibel, aber mit einem Nachdruck von zwei Seiten der Gutenberg-Bibel, auf den Markt bringt?
— Ja, das können Sie sich vorstellen; so ist Ihre Gesinnung!
Ich werde mir jetzt meine Zeit nicht hierdurch nehmen lassen.
Ich sage Ihnen nur: Mich erstaunt das Ausmaß an Böswilligkeit und Heuchelei, das hier zum Ausdruck kommt.
Ich sage — ich versuchte zu sagen —, daß ich die Rede des Herrn Bundeskanzlers am Dienstag nicht habe mit anhören können, aber natürlich nachgelesen habe. In dieser Rede haben Sie ebenso wie in der Erklärung heute früh gemeint, Herr Bundeskanzler, Sie hätten die Weichen richtig gestellt. Das kann ich für die, deutschen Sozialdemokraten nicht bestätigen.
Die von der neuen rechten Koalition vorbereiteten und verabschiedeten Gesetzentwürfe, vor allem aber der von Ihnen gestaltete Bundeshaushalt 1983, werden sich sehr rasch als ungeeignet erweisen, die Krise zu meistern.
Das hat zum einen wesentlich damit zu tun, worauf meine Freunde während der Haushaltsdebatte mehrfach hingewiesen haben.
Aus vordergründigen Motiven wollen Sie nicht zugestehen, wie sehr die Schwierigkeiten in der Bundesrepublik Ausdruck der schweren internationalen Verwerfungen sind, mit denen wir es seit einer Reihe von Jahren zu tun haben. Sie wollen den Ihnen so attraktiv erscheinenden Knüppel der Erblast nicht aus der Hand legen, dienen aber dem Gegenteil von Wahrhaftigkeit in der politischen Auseinandersetzung.
Die Fakten weisen nämlich aus: Das Gerede von
Schutt und Erblast war überwiegend eine Legen-
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denbildung, und darauf kann man keine vernünftige Politik bauen.
Und wenn die Diagnose nicht stimmt, kann man daraus auch keine richtige Therapie ableiten.
Der andere Grund ist in einer Voreingenommenheit zu sehen, die ebenso verheerend wirken muß. Als ob eine — und darauf läuft es eben doch hinaus — Umverteilung von unten nach oben neue Arbeitsplätze schaffen und den weiterhin notwendigen Modernisierungsprozeß unserer Volkswirtschaft voranbringen könnte! In Wirklichkeit sieht es so aus:
Sie vermindern die Massenkaufkraft um viele Milliarden Mark; Sie schwächen die Investitionskraft der Städte und Gemeinden, auf die es jetzt ganz besonders ankäme.
Der Abbau des sozialen Mietrechts wird mit ziemlicher Sicherheit nicht zu der erwarteten Belebung der Bauwirtschaft führen.
Millionen von Mietern wird das Geld aus der Tasche gezogen, ohne daß eine entsprechende Investitionstätigkeit angeregt würde.
Im Grunde werden Sie selbst es nicht leugnen können: für die breiten arbeitenden Schichten sind die Aussichten heute keineswegs freundlicher als am 1. Oktober 1982.
Nicht weniger, sondern mehr Menschen sind ohne Arbeit; nicht weniger, sondern mehr Menschen müssen noch um den Verlust ihres Arbeitsplatzes bangen.
Ich will nicht den Spieß umdrehen und behaupten, das sei Ihnen allein anzulasten.
— Ja, sind Sie nun Regierung, oder sind Sie es nicht?
— Sie möchten beides zugleich sein, das lassen wir nicht zu. Wenn schon, dann tragen Sie die Verantwortung, und wir sind die, die hier kritisieren.
Sie sollten noch einmal nachdenken über das, was unser Kollege Georg Leber hier am Dienstag gesagt hat als einer, der hohe staatliche Ämter wahrgenommen hat und sich dabei immer seiner Verankerung in der Arbeitnehmerschaft bewußt geblieben ist.
Er, mein Freund Georg Leber, hat einige Wahrheiten gesagt,
die uns alle angingen, an unser aller Adresse gerichtet waren. Zugleich hat er Ihnen in der jetzigen Koalition und Regierung vor Augen geführt, was die Arbeitnehmer erwarten.
Es reicht eben nicht, sage ich jetzt, den Menschen vorzugaukeln,
die Ablösung von Helmut Schmidt durch Helmut Kohl werde auf wunderbare Weise aus der Bundesrepublik eine Insel der Stabilität in dem sie umgebenden Meer von wirtschaftlichen Zusammenbrüchen machen.
Ich sage Ihnen, immer mehr Menschen erkennen in diesen Wochen,
daß Sie, meine Kollegen von der Koalition, Ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht werden.
Sie haben so getan, als wüßten Sie alles besser.
Jetzt haben Sie nicht einmal, wie sich gezeigt hat, ein Konzept der Beschäftigungs- und Haushaltspolitik, das den Problemen unserer Zeit gerecht wird, in der Schublade gehabt.
Zur auswärtigen Politik hieß es, es solle Kontinuität gewahrt werden. Andere, vorläufig noch im Hintergrund, stellen die nicht ganz unlogische Frage, ob sie denn nun unterstützen sollten, was sie 13 Jahre lang zum Teil verbissen bekämpft haben.
Derweil hat sich der neue Bundeskanzler in eine Vielzahl internationaler Aktivitäten gestürzt und eine ansehnliche Zahl von Reisen absolviert.
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Ich will daran nicht herumkritteln;
denn was könnten wir dagegen einzuwenden haben, wenn tatsächlich eine Politik weitergeführt worden ist, die unserem Land gut bekommen ist?
Aber, meine Damen und Herren von der Union, wundert es Sie wirklich, wenn sich bei nicht wenigen Menschen die Zweifel daran mehren, daß wir uns in den entscheidenden Fragen deutscher Friedens- und Sicherheitspolitik auf ein Kurshalten verlassen können? Ist es wirklich so erstaunlich, wenn zunehmend die Frage gestellt wird, ob unsere Interessen so entschieden und so kompetent wahrgenommen werden, wie man es vom bisherigen Bundeskanzler gewohnt war?
Ich stehe unter dem Eindruck mehrtägiger Beratungen über die internationale Krise besonders im Nord-Süd-Verhältnis,
Beratungen in Ottawa, von denen ich gestern morgen zurückgekehrt bin.
Wir haben einen Punkt erreicht, an dem auch konservative Kollegen in den Vereinigten Staaten — bis in die Regierung Reagan hinein — von der Notwendigkeit sprechen, sogar die internationalen Institutionen zu überprüfen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges errichtet wurden, um für die Währungssicherheit und für die Stabilität der internationalen Finanzen verantwortlich zu sein, von der Notwendigkeit, sie zu reformieren, um der internationalen Finanz- und Währungskrise endlich wirksamer begegnen zu können.
Wir haben es mit einer Situation zu tun, in der der Zusammenhang zwischen der Depression in den Industriestaaten — es ist mittlerweile eine Depression — und der katastrophalen Lage in einer großen Zahl von Entwicklungsländern immer deutlicher wird, mit einer Situation, in der auch vielen klarer wird, welche kaum noch zu verantwortende Last die immens gewachsenen Rüstungsausgaben selbst für die wirtschaftlich stärkste Nation geworden sind,
mit einer Situation, in der zunehmend erkannt wird, wie sehr die internationale Staatengemeinschaft gefordert ist, wo es darum geht, der Zerstörung der natürlichen Umwelt nicht nur in einem Teil der Welt, sondern in allen Teilen der Welt Einhalt zu gebieten.
Ich sage Ihnen: Demgegenüber nimmt sich manches, was im Namen der Bundesrepublik Deutschland erklärt wird, verstaubt und kleinkariert aus.
Wir in der Bundesrepublik Deutschland müssen aufpassen, daß wir auf der Höhe der internationalen Erfordernisse bleiben. Wir brauchen eine Regierung, die sich auf dem Niveau der zeitgemäßen Einsichten befindet
und die sich der sich daraus ergebenden Aufgaben annimmt.
Herr Bundeskanzler, Sie haben zu Beginn dieser Woche gemeint, uns Sozialdemokraten vorwerfen zu sollen, durch einen Beschluß des SPD-Vorstands vom 6. Dezember hätten wir den Verhandlungsansatz des Bündnisses für die Verhandlungen in Genf untergraben. Die zeugt — ich bitte um Entschuldigung — von wenig hinreichender Unterrichtung über das, was tatsächlich vorliegt.
Mein Parteivorstand hat am 6. Dezember nicht getagt und konnte also auch nichts beschließen. Was es gibt, ist eine Empfehlung des SPD-Präsidiums, die Vorschläge des langjährigen amerikanischen SALT-Unterhändlers, also eines Mannes, der etwas von der Sache versteht, der sich jahrelang mit den nuklearen Waffen befaßt hat, der mit der anderen Seite am Tisch gesessen hat, daraufhin zu prüfen, ob sie nicht einen Weg in Richtung nicht bloß auf Polemik, sondern auf ein Ergebnis der Genfer Verhandlungen weisen können, denn darauf kommt es an.
Wir wollen eben, Herr Bundeskanzler, meine Damen und Herren, alles tun, was sinnvollerweise möglich ist, um eine Stationierung neuer, zumal nuklearer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik Deutschland zu vermeiden.
Sie wissen so gut wir wir: Dies wird sich nur erreichen lassen, wenn sich die Verhandlungspartner bewegen und nicht stur auf ihren Ausgangspositionen beharren.
Und eben darin liegt der Unterschied zwischen der jetzigen Regierung und ihrer Vorgängerin. Es war gelungen, die Weltmächte zu veranlassen, sich in Genf an einen Tisch zu setzen. Der Sinn konnte nur sein, uns allen eine neuerliche Umdrehung der Rüstungsspirale zu ersparen.
Aus deutscher Sicht und Interessenlage müssen wir weiter drängen. Und das geht nicht, wenn man Ausgangspositionen für sakrosankt erklärt. Was wäre das, frage ich — und gucke den Außenminister dabei an —, für eine Außenpolitik, die Verhand-
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Lungen sagt und es an der Bereitschaft zum Kompromiß fehlen ließe?
Soweit ich das sehen kann, hat sich der Regierungswechsel auch aus diesem Grund bisher nicht als lohnend erwiesen.
Nun hat die deutsche Öffentlichkeit gewiß nicht übertriebene Hoffnungen in die Fähigkeit einer neuen Koalition gesetzt, entscheidende Probleme unseres Landes zu lösen. Aber auch die Hoffnungen, die manche sicher gehabt haben, sind schon zu einem wesentlichen Teil enttäuscht worden. Lohnt es sich noch, so frage ich mich und andere, in diesem Zusammenhang von dem zu sprechen, was von der FDP übriggeblieben ist?
Sie, Herr Genscher, und Sie, Graf Lambsdorff, haben gemeint, dem Wähler davonlaufen zu können. Sie haben dabei mit einem allzu kurzen Gedächtnis der Mitbürger gerechnet.
Dieser vordergründige Kalkül konnte nicht aufgehen. Die eher parteitaktischen Motive und der Stil, dessen Sie sich dabei bedienten, nämlich beim Regierungswechsel, hat sich den Menschen tief ins Gedächtnis eingegraben.
Der sich daraus ergebende, förmlich mit Händen zu greifende Kräfteschwund hat dazu geführt, daß Sie vom neuen Koalitionspartner so behandelt werden, wie es Herrn Strauß gefällt.
Sie werden von der Union als Leichtgewicht behandelt, auf das man, auch öffentlich erkennbar, kaum noch Rücksicht zu nehmen gedenkt. Aus einem eigenständigen Faktor der deutschen Politik wird so eine quantité négligeable, eine nicht mehr ins Gewicht fallende Größe.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie werden verstehen, daß ich ebenso wie der Bundeskanzler nachgelesen habe, was hier am 22. September 1972 aus Anlaß der erstmaligen Anwendung von Art. 68 des Grundgesetzes gesagt wurde. Und man mag mir nachsehen, daß ich mich auch für das interessiert habe, womit ich selber zur damaligen Debatte beitrug.
Das Protokoll weist aus, daß ich sagte:
Alle Industriegesellschaften des Westens stehen in diesen Jahren vor großen Problemen. Sie müssen diese Probleme lösen, ohne die persönliche Freiheit einzuschränken; denn dann wären sie nicht mehr demokratische Staaten
des Westens. Diese Lösung wird durch die Tatsache kompliziert, daß sich besonders bei der jüngeren Generation eine gewisse Wandlung der Wertvorstellungen vollzieht, durchaus nicht nur ... in Richtung auf unfruchtbaren, auf unsinnigen und deshalb zu verurteilenden Radikalismus, sondern bei sehr vielen und von viel Idealismus getragen in Richtung auf eine höhere Qualität des Lebens. Es ist politisch entscheidend, wie wir auf diese Veränderungen reagieren.
So im September 1972. Ich fuhr fort:
1969 hat unsere Gesellschaft aus meiner Sicht positiv geantwortet durch die Verlagerung der politischen Mehrheit von der rechten zur linken Mitte. Die Antwort der CDU/CSU darauf war, wie ich es in diesen Jahren gesehen habe, in einigen wesentlichen Punkten ein weiterer Ruck nach rechts. ... Ich bin davon überzeugt, daß jetzt nur das Lager der linken Mitte mit den Problemen der Zukunft fertig werden kann. Diesem Lager die eindeutige Mehrheit zu verschaffen, darin sehe ich das Ziel der Neuwahlen. Ein anderer Wahlausgang würde dazu führen, so meine ich, so befürchte ich, daß die Schwierigkeiten wachsen. Wenn die Bundesrepublik nicht hinter den Erfordernissen der Zeit zurückbleiben soll, müssen die Kräfte des Fortschritts und der Erneuerung gestärkt werden.
Das war vor zehn Jahren.
Vieles hat sich seither geändert. Vor allem hat sich die FDP aus dem Lager der linken Mitte verabschiedet.
Doch im Kern bleibe ich bei meiner Überzeugung, die ich hier vor zehn Jahren geäußert habe: Wie damals so auch heute braucht unser Land eine Politik der linken Mitte, mitgetragen von den breiten Arbeitnehmerschichten, von aufgeschlossenen liberalen Bürgern, von Frauen, die endlich gleichberechtigt sein wollen, und zwar nicht nur auf dem Papier
und heute noch mehr als gestern, von den vielen, die sich um den Frieden sorgen und über den weltweiten Rüstungswahnsinn empört sind,
und von denen, die dagegen aufbegehren, daß unsere natürliche Umwelt immer weiter zerstört wird,
[CDU/CSU]: Aha!)
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von jungen Menschen, die es beim Einstieg ins Berufsleben schwer haben und sich mit verkrusteten Besitzständen zu Recht nicht abfinden wollen.
Vor zehn Jahren, im Spätherbst 1972, ist es uns deutschen Sozialdemokraten bekanntlich gelungen, die Wahlen für uns zu entscheiden. Dabei hatten uns viele eine sichere Niederlage vorausgesagt.
Verlassen Sie sich darauf, meine Kollegen von der Union: Wir freuen uns darauf, mit Ihnen erneut unsere Argumente auszutauschen
— wenn es denn welche sind — und die Kräfte zu messen, wenn wir erneut um das Vertrauen der Mitbürgerinnen und Mitbürger ringen: am Sonntag in Hamburg, wo ich meinen Freunden mit Bürgermeister Klaus von Dohnanyi den verdienten Erfolg wünsche,
danach in Rheinland-Pfalz und in Schleswig-Holstein und dann in der ganzen Bundesrepublik.
Unser Kandidat Hans-Jochen Vogel stößt auf viel Zustimmung.
Wir sind personell gut gerüstet
und werden in den vor uns liegenden Wochen, wenn es endlich Klarheit gibt, die Bürgerinnen und Bürger damit vertraut machen, welche inhaltlichen Alternativen nach unserer Überzeugung zur Wahl stehen.
Zunächst und vor allem werden wir in der Wirtschafts- und Sozialpolitik darauf verweisen, daß jene Länder, in denen schon seit längerem konservative Rezepte praktiziert wurden, erheblich schlechter dastehen als die Bundesrepublik, deren Regierung Sie übernommen haben,
daß mithin der Weg, den diese Übergangsregierung eingeschlagen hat, in die Irre führt. Unsoziale Sparpolitik beseitigt die Haushaltsprobleme des Staates nicht, sondern treibt nur zusätzlich Hunderttausende in die Arbeitslosigkeit.
Eine ungerechte Umverteilung der Krisenlasten führt zur Zerstörung des sozialen Friedens.
Dem stellen wir Hans-Jochen Vogels und unsere Forderung nach einem internationalen Beschäftigungspakt gegenüber, in dessen Rahmen die Industriestaaten gemeinsam wieder eine expansive Wirtschaftspolitik betreiben.
Wir wollen an neuen weltwirtschaftlichen Strukturen mitarbeiten, die gemeinsamen Interessen, auch solchen von Nord und Süd, Rechnung tragen. Wir kämpfen für die Verwirklichung des kürzlich von uns vorgelegten Beschäftigungshaushalts 1983 bis 1985 mit der dort vorgeschlagenen Finanzierung. Wir unterstützen die vielfältigen Bemühungen der Gewerkschaften um Arbeitszeitverkürzungen, die nicht nur wegen der wachsenden Produktivität unserer Wirtschaft geboten sind. Ein Arbeitszeitgesetz, wie es von der sozialdemokratischen Fraktion vorgeschlagen worden ist, könnte hierzu ein Beitrag sein. Und natürlich treten wir gemeinsam mit vielen unserer Freunde in den Gewerkschaften für den Ausbau von Mitbestimmung und Vermögensbildung ein.
In wirtschaftlich schwieriger Zeit sind diese Elemente ökonomischer Demokratie wichtiger denn je.
In der Innen- und Rechtspolitik steht zur Entscheidung, ob das, was in den vergangenen 13 Jahren an konkreter Freiheit im Zusammenleben der Menschen geschaffen wurde — unzulänglich, wie es bleiben muß —, zurückgedreht wird oder ob es weiter ausgebaut wird. Der Weg, den viele von Ihnen in der Union offensichtlich zu gehen beabsichtigen, würde rasch zu mehr Bevormundung, zu mehr Mißtrauen gegenüber dem kritischen Bürger, zu wachsender Entfremdung zwischen vielen — vor allem jungen — Menschen und unserem staatlichen Gemeinwesen führen.
Wir dagegen wollen keine Rückwärtsentwicklung
im Ehe- und Familienrecht, keine Aushöhlung des Rechts auf friedliche Demonstration,
keine abschreckenden Bestimmungen zur Kriegsdienstverweigerung,
kein Duckmäusertum, sondern das Wagnis des kritisch mitwirkenden Bürgers.
In der Friedens- und Sicherheitspolitik schließlich steht die SPD in ihrer Tradition als große deutsche Friedenspartei. Unsere Politik des Abbaus von Spannungen hat der Bundesrepublik neues Ansehen verschafft. Der Frieden in Europa ist dadurch ein Stück sicherer geworden. Aber jetzt muß alle Kraft aufgewendet werden — in diesem Land wie
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anderswo in Europa —, damit das Wettrüsten endlich zum Stillstehen gebracht wird.
Unter sozialdemokratischer Führung wird diese Bundesrepublik ihr ganzes Gewicht in die Waagschale werfen, um den drohenden Rückfall in den Kalten Krieg und damit in einen Zustand sich verschärfender Spannungen zu vermeiden.
Im Atlantischen Bündnis, im freundschaftlichen Dialog mit den Vereinigten Staaten, mit den anderen Verbündeten und ganz besonders mit Frankreich treten wir dafür ein — davon lassen wir uns nicht abbringen —, daß eine Partnerschaft der Sicherheit zwischen West und Ost erreicht wird.
Dies bleibt die entscheidende Voraussetzung für alles andere, auch im Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten. Im Bündnis gilt es, deutsche Interessen wirkungsvoll zu vertreten und dem stärksten Verbündeten wie anderen Freunden nicht nach dem Munde zu reden, wo sie kritischer Begleitung bedürfen.
Ich weiß und ich würdige, daß die Kollegen der gegenwärtigen Mehrheit
das ihnen Mögliche aufbieten werden, damit die Regierungsmehrheit ihnen nicht schon im März wieder entgleitet. Wir werden uns bemühen, ihnen ein guter Partner im Streit der Meinungen zu sein. Möge sich unser aller Ringen um die Zustimmung, um das Vertrauen der wahlberechtigten Frauen und Männer unseres Landes so vollziehen, daß es dem Staatsganzen und dem Wohle unseres Volkes zugute kommt.