Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst eine Bemerkung zum Verteidigungsminister Dr. Wörner. Was Sie hier eben geboten haben, war schlicht und einfach semantischer Brei. Wenn Sie den Kollegen Meinike fragen, warum er nicht von den Raketen der Sowjetunion redet, die auf uns gerichtet sind: Wissen Sie nicht, daß seit 20 Jahren Raketen auch fast der gleichen Qualität auf uns gerichtet waren? Nur: Sie nennen das, was hier passiert, Modernisierung, und das, was dort passiert, Vorrüstung. Das nenne ich semantischen Brei und Verschleierung.
Ihnen liegt ein Änderungsantrag vom Kollegen Coppik und mir auf Streichung der im NATO-Infrastrukturprogramm vorgesehenen Mittel vor. Mit diesem Geld sollen die bereits begonnenen Baumaßnahmen für die Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen in amerikanischer Verfügungsgewait beschleunigt vorangetrieben und die Voraussetzungen geschaffen werden, zusätzliche amerikanische Truppen im Kriegsfall in Europa schneller einsatzbereit zu machen. Über die Erhöhung dieser Mittel hat sich der Verteidigungsminister in Washington j a bereits mit der amerikanischen Regierung abgestimmt.
Zahlreiche Äußerungen aus der Umgebung des amerikanischen Präsidenten und von Vertretern der NATO lassen keinen Zweifel daran, daß die US-Regierung fest entschlossen ist, mindestens die im NATO-Aufrüstungsbeschluß vom 12. Dezember 1979 genannte Zahl neuer Atomraketen in Europa zu stationieren.
Die Verhandlungsbedingungen in Genf waren von Anfang an von der US-Regierung so unangemessen hoch angesetzt, daß eine Störung der Stationierungsentscheidung durch Verhandlungsergebnisse nicht zu befürchten war. Aus amerikanischer Sicht ist das auch konsequent; denn spätestens seit dem Januar 1981, dem Amtsantritt des Präsidenten Reagan, gibt es eine neue amerikanische Nuklearstrategie. Sie will den Atomkrieg nicht
8660 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 138. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 14. Dezember 1982
Hansen
mehr nur verhindern, sondern ihn bis zu sechs Monaten führen und als Sieger beenden.
Der amerikanische Vizepräsident George Bush hat dazu schon 1980 gesagt — ich zitiere —:
Das ist für den sinnlos, der glaubt, daß es bei einem Atomkrieg keinen Sieger gibt. Meine Meinung ist das nicht. Wenn die militärische Kommandozentrale, ein bestimmtes Industriepotential und die Zivilbevölkerung zu einem gewissen Prozentsatz überlebt und wenn man mehr Schaden anrichten kann bei seinem Gegner als er bei uns, dann gibt es auch einen Sieger.
In dieser Kriegführungsstrategie spielt der begrenzte Atomkrieg eine zentrale Rolle. Der Gegner soll möglichst fern von den USA auf dem potentiellen Schlachtfeld Europa herausgefordert werden. Eines der militärischen Instrumente dazu sind die Pershing II und die Cruise missiles.
Herr Colin S. Gray, heute Berater des Präsidenten Reagan, dazu:
Im Kontext eines Atomkrieges über die Sowjetregierung zu sprechen, heißt, über einen bestimmten Zielkatalog sprechen. Nehmen wir an, es handelt sich um 100 Ziele. Wenn wir alle diese 100 Ziele treffen könnten, würden wir jedes Mitglied des Politbüros erwischen, jedes Mitglied des Zentralkomitees. Wir würden alle entscheidenden Bürokraten töten. Wir würden also dem sowjetischen Huhn den Kopf abschneiden.
Ergänzt wird diese Kriegführungsstrategie heute durch einen immer heißer werdenden Wirtschafts-und Handelskrieg gegen die Sowjetunion, um durch Druck von außen — so wörtlich — „innere Reformen in der Sowjetunion" zu bewirken. Das steht in einem Dokument des Nationalen Sicherheitsrates der USA.
Die Bundesregierung hat sich seit Jahren dieser agressiven Politik der USA ohne Rücksicht auf die Lebensinteressen des eigenen Volkes nicht nur unterworfen, sondern sie bemüht sich ständig, alles, was an offenen und öffentlichen Bekenntnissen aus Washington zu hören und zu lesen ist, herunterzuspielen und immer neue Beschwichtigungsargumente zu erfinden. Der Austausch der Bundesregierung ist in dieser Hinsicht nur eine Verschlechterung des Schlechten, ein Wandel vom vorauseilenden Gehorsam zu liebedienerischer Unterwürfigkeit gegenüber den USA.
Aber was die Herren Gray, Pipes, Weinberger, Bush, Rostow, Nitze — alle der Reagan-Administration zugehörig — unmißverständlich unter dem Motto „Victory is possible" von sich geben, läßt sich nun einmal nicht aus der Welt reden.
Der jüngste Beweis für die Gültigkeit der Kriegführungsdoktrin ist der geplante Rückzug des Führerhauptquartiers der US-Armee über den Ärmelkanal. Wohin soll sich eigentlich das im Stich gelassene Volk, wohin sollen sich eigentlich die potentiellen Schlachtopfer zurückziehen?
Aber trotz Beschwichtigungs- und Verschleierungspolitik Ihrer Regierung beginnt es immer mehr Menschen in Europa zu dämmern, was ihnen und ihren Kindern jeden Tag blühen kann. Sie wollen nicht länger hilflose Geiseln einer verantwortungslosen Politik sein, so z. B. die 3 Millionen Menschen in der Bundesrepublik, die mit dem Krefelder Appell fordern, „die Zustimmung zur Stationierung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern in Mitteleuropa zurückzuziehen und im Bündnis künftig eine Haltung einzunehmen, die unser Land nicht länger dem Verdacht aussetzt, Wegbereiter eines neuen, vor allem die Europäer gefährdenden nuklearen Wettrüstens sein zu wollen".
Nun hören Sie von der Rechten doch endlich auf, die Friedensbewegung als kommunistisch gesteuert und antiamerikanisch zu diffamieren! Oder seien Sie doch wenigstens konsequent
und bezichtigen auch die katholischen Bischöfe, Wissenschaftler und Bürger in der amerikanischen Freeze-Bewegung antiamerikanischer Umtriebe. Dann sind Sie bei McCarthy angekommen. Bezeichnen Sie dann doch auch die Mehrheit im Kongreß gegen MX-Raketen konsequenterweise als MoskauFraktion, wie Sie das sonst so gerne tun. Mit dieser Goebbels-Strategie werden Sie die Friedensbewegung jedenfalls nicht stoppen.
Es ist schon bedrückend zu sehen, wie sich Geschichte manchmal verhängnisvoll wiederholt.
— Bei mir ist das nur Wasser.
Die neue Rechte, die ohnehin den zwielichtigen Gestalten des „Committee on the Present Danger" im Umfeld von Präsident Reagan traditionell geistig näher steht als irgendeine andere politische Gruppierung, will in den kommenden Wochen einen Raketenwahlkampf führen.
Das hatten wir schon einmal. Schon im März 1952, als vom Totrüsten der Sowjetunion gesprochen wurde, vertraute Adenauer, auf den Sie sich j a heute so gern berufen, einem Journalisten von United Press an — wörtlich —:
Wer den Frieden will, der muß den Wettlauf mit der sowjetischen Atomrüstung veranstalten.
Und als es um die atomare Bewaffnung der Bundeswehr ging, lautete die Überschrift in der „New York Herold Tribune" vom 2. Mai 1958 — damals hatte Adenauer gerade seine Rede in Wipperfürth gehalten — wörtlich: „Adenauer eröffnet den Kampf für die Atomwaffen."
Damals die Verniedlichung der Atomwaffen als eine Weiterentwicklung der Artillerie; heute die
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Verharmlosung neuer amerikanischer Punkt-Feuer-Raketen als Defensivwaffen, die zur Erhaltung von „Frieden und Freiheit" dienen.
Diese Gebetsmühlenformel ist allerdings damals sehr viel offener erläutert worden, nämlich im Bundestag am 25. März 1958 von dem CDU-Abgeordneten Dr. Martin. Er sagte, die eigentliche Gefahr sei nicht die Atombombe, sondern die Existenz eines totalitären Systems.
Und jetzt kommt es: Die physische Vernichtung — ich weiß nicht, ob Sie dann auch noch nicken — sei leichter zu ertragen als die geistige Auslöschung. — Eine moralisch-theologische Rechtfertigung des gerechten Atomkriegs, was sonst! Die Christdemokraten sind auf dem Weg in die 50er Jahre also schon angekommen.
Das kann man von der SPD allerdings nicht sagen. Obwohl sie der Friedensbewegung — von Teilen, die vorher schon drin waren, einmal abgesehen — mit hängender Zunge hinterherläuft, ist der Wandel durch Annäherung an diese Friedensbewegung noch nicht so weit gediehen, daß damit neue Wählerstimmen zu gewinnen wären.
Damals, als es um die atomare Bewaffnung der Bundeswehr ging, hat die SPD viele von ihr regierte Gemeinden durch Ratsbeschlüsse zu „atomwaffenfreien Zonen" erklären lassen. Am 13. Mai 1958 hat die SPD-geführte Landesregierung von Nordrhein-Westfalen im Landtag ausgeführt:
Eine verantwortungsbewußte Landesregierung muß unter allen Umständen bestrebt sein, jeder zusätzlichen Erhöhung der Gefahren entgegenzuwirken. Eine solche zusätzliche Erhöhung der Gefahren für unser Land würde aber eintreten, wenn in Nordrhein-Westfalen atomare Waffen und Raketen stationiert würden. Dadurch würden strategisch bedeutende Ziele geschaffen, die den Einsatz relativ schwerer Atomwaffen gegen unser Land als sicher erscheinen lassen.
Heute aber verbietet die SPD-Alleinregierung in Nordrhein-Westfalen den Gemeinden, sich zu atomwaffenfreien Zonen zu erklären — unter Berufung auf die Gemeindeordnung, z. B. in Marl. Das hatte damals die CDU in dieser Diskussion getan.
Heute ist die Bundesrepublik dank der jahrelangen Mitwirkung der SPD mit atomaren Angriffswaffen und mit chemischen Waffen vollgestopft. Und heute hält die SPD wider besseres Wissen an der falschen Begründung für die Stationierung neuer amerikanischer Atomraketen fest. Es gibt zwar heute Streichungsanträge zum Verteidigungsetat. Aber auf eine namentliche Abstimmung haben Sie verzichtet, weil einige von Ihnen — so der ehemalige Verteidigungsminister Leber — konsequenterweise gesagt haben: Ich kann doch nach acht Wochen nicht ablehnen, wofür ich vor acht Wochen noch war. Sehr beachtlich. Ich finde das ja konsequent. Andere kriegen die Kurve da sehr viel schneller.
Heute wehren sich auch immer mehr Menschen gegen den NATO-Aufrüstungsbeschluß. Denn sie wollen keine falschen Begründungen in neuer Wahlkampfverpackung, sondern sie wollen eine neue Politik, eine andere Politik.
Und wir demokratischen Sozialisten fordern mit diesen Menschen: sofortige Einstellung der Stationierungsvorbereitungen — deshalb unser Änderungsantrag —, Abzug und Vernichtung der chemischen Waffen vom Boden der Bundesrepublik und vor allen Dingen eine aktive Politik für eine von ABC-waffenfreie Zone in Europa.
Wer die Unterwerfungspolitik gegenüber den USA weiter fortsetzt, schadet den Lebensinteressen des eigenen Volkes. Er stört den inneren Frieden und wird sich an Eskalationen mitschuldig machen, wenn eines Tages einige von den Menschen, die Angst vor dem haben, was hier passiert, die die Gehörlosigkeit der Politiker leid sind und die eben nicht alte Argumente in neuer Verpackung hören wollen, hingehen und selbst nachsehen wollen, welche Gefahren ihnen von den hier lagernden und den in Aufstellung begriffenen atomaren und chemischen Waffen drohen.
In den letzten Sätzen muß ich noch einmal auf die schnelle Wende des Kollegen Voigt eingehen, der sich jetzt ja auch — vor allen anderen — so vehement für die Offenlegung der Stationierungsorte ins Zeug legt. Vor einigen Tagen hat der Parlamentarische Staatssekretär Würzbach der neuen Rechtskoalition auf eine Frage in der Fragestunde hier im Bundestag erklärt, daß aus allen Parteien Einzelpersonen über diese Stationierungsorte bereits informiert seien. Kollege Voigt, machen Sie dann hier keine deklamatorischen Äußerungen mehr. Erkundigen Sie sich bei diesen Einzelpersonen, und erklären Sie den Menschen draußen, die an diesen Stationierungsorten wohnen, welche Gefahren ihnen drohen. Das wäre ehrlicher.
Weil das so ist, möchte ich Sie bitten, die Sie andere Streichungsanträge angenommen haben, auch dem Streichungsantrag betreffend die Mittel für das NATO-Infrastrukturprogramm zuzustimmen, damit keine festen, unumstößlichen Fakten geschaffen werden und die Stationierungsvorbereitungen für die Aufstellung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen gestoppt werden. — Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.