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ID0913804600

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    Plenarprotokoll 9/138 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 138. Sitzung Bonn, Dienstag, den 14. Dezember 1982 Inhalt: Eintritt der Abg. Ginsberg und Riebensahm in den Deutschen Bundestag . . . 8577 A Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1983 (Haushaltsgesetz 1983) — Drucksachen 9/1920, 9/2050, 9/2139 — Beschlußempfehlungen und Bericht des Haushaltsausschusses Einzelplan 01 Bundespräsident und Bundespräsidialamt — Drucksachen 9/2141, 9/2281 — . . . . 8577 B Einzelplan 02 Deutscher Bundestag — Drucksachen 9/2142, 9/2281 — . . . . 8577 C Einzelplan 03 Bundesrat — Drucksachen 9/2143, 9/2281 — . . . . 8577 D Einzelplan 04 Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes — Drucksachen 9/2144, 9/2281 — in Verbindung mit Einzelplan 05 Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts — Drucksachen 9/2145, 9/2281 — Dr. Dregger CDU/CSU 8578A Dr. Ehmke SPD 8584 B Hoppe FDP 8592 D Dr. Kohl, Bundeskanzler 8596 C Dr. h. c. Leber SPD 8607 D Dr. Blüm, Bundesminister BMA . . . 8616 C Rapp (Göppingen) SPD 8619 D Genscher, Bundesminister AA 8623 B Voigt (Frankfurt) SPD 8629 B Möllemann, Staatsminister AA 8633 D Picard CDU/CSU 8636 B Coppik fraktionslos 8638 B Wieczorek (Duisburg) SPD 8639 C Präsident Stücklen 8596 B Einzelplan 14 Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung — Drucksachen 9/2154, 9/2281 — in Verbindung mit Einzelplan 35 Verteidigungslasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte — Drucksachen 9/2165, 9/2281 — in Verbindung mit Einzelplan 23 Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit — Drucksachen 9/2158, 9/2281, 9/2289 — II Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 138. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 14. Dezember 1982 in Verbindung mit Einzelplan 27 Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen — Drucksachen 9/2160, 9/2281 — Dr. Stavenhagen CDU/CSU 8640 B Frau Traupe SPD 8641 C Dr. Zumpfort FDP 8644 D Dr. Wörner, Bundesminister BMVg 8644 B, 8659 B Neumann (Stelle) SPD 8651 C Hauser (Bonn-Bad Godesberg) CDU/CSU 8653 D Popp FDP 8655 B Meinike (Oberhausen) SPD 8656 D Hansen fraktionslos 8659C, 8682A Kolbow SPD 8661 D Schluckebier SPD 8663 C Schröder (Lüneburg) CDU/CSU 8665 A Dr. Vohrer FDP 8667 D Dr. Holtz SPD 8669 B Dr. Warnke, Bundesminister BMZ . . 8671 B Dr. Kreutzmann SPD 8673 D Frau Berger (Berlin) CDU/CSU 8675 D Ronneburger FDP 8677 B Dr. Barzel, Bundesminister BMB . . . 8679A Wieczorek (Duisburg) SPD 8682A, B Reddemann CDU/CSU 8682 C Vizepräsident Wurbs 8681 D Nächste Sitzung 8683 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . 8684* A Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 138. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 14. Dezember 1982 8577 138. Sitzung Bonn, den 14. Dezember 1982 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Abelein 14. 12. Dr. van Aerssen * 16. 12. Böhm (Melsungen) ** 15. 12. Brandt 16. 12. Junghans 17. 12. Lagershausen 17. 12. Lampersbach 17. 12. Liedtke 15. 12. Löffler 17. 12. Frau Luuk 14. 12. Mischnick 17. 12. Müller (Bayreuth) 17. 12. Rösch ** 16. 12. Schmidt (Wattenscheid) 14. 12. Schmöle 17. 12. Dr. Vohrer ** 16. 12. Weiskirch 17. 12. *für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments ** für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Hans-Dietrich Genscher


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Kollege, es wäre mir lieber, wenn wir in diesem Bereich in ganz Europa die Gesetze der Marktwirtschaft durchsetzen könnten,

    (Zuruf von der SPD: Aha!)

    das werden Sie mir doch wohl zugeben. Wir brauchen auch noch Branchen, die so wirksam und so effektiv sind, daß sie die Subventionen für andere bezahlen können, die es durch Einschränkung der marktwirtschaftlichen Gesetze in anderen Teilen leider notwendig machen, daß wir uns diesen Regelungen unterwerfen. Aber wir wollen doch um Himmels Willen diese Wirtschaftszweige und die dort geltenden Regelungen nicht als Vorbild für die Gestaltung der gesamten wirtschaftlichen Ordnung nehmen. Wer soll denn da noch die Erträge erwirtschaften, die wir brauchen, um diese Wirtschaftszweige am Leben zu erhalten, was unbedingt notwendig ist?

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Es geht um die ganz grundsätzliche Frage, wie wir im Rahmen unserer marktwirtschaftlichen Ordnung die Voraussetzungen dafür schaffen, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland durch eine Überwindung der staatlichen Verschuldung und auch durch Abbau von Investitionshemmnissen jene wirtschaftliche Entwicklung möglich machen, die uns dann nicht mehr zwingt, für jeden schmerzliche Eingriffe in soziale Leistungen vorzunehmen. Da muß ich sagen, meine Damen und Herren, daß die Frage der Staatsverschuldung doch nicht nur ein haushälterisches Problem ist, das sich irgendein Finanzminister ausdenkt. Das ist auch nicht nur eine Frage der konjunkturellen Auswirkungen für die nächsten sechs oder zwölf Monate.
    Hier geht es um ein Generationenproblem. Herr Kollege Leber hat zu Recht davon gesprochen, daß wir das Umlagesystem in der Sozialversicherung haben, daß wir mit dem Rücklagesystem nicht mehr arbeiten können. Aber wir dürfen bei der Finanzierung unseres Lebensstandards von heute auch nicht die Ausflucht nehmen zum Abladesystem, nämlich zum Abladen der Lasten unserer Zeit auf die Schultern unserer Kinder und Enkel. Das wäre nicht zu verantworten.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Deshalb ist auch hier der Frieden zwischen den Generationen herbeizuführen.
    Wie ich überhaupt finde, daß es in dieser schwierigen Lage darauf ankommt, daß wir nicht die einzelnen Gruppen gegeneinander aufbringen, sondern darauf, daß wir sie alle dafür gewinnen, eine gemeinsame Anstrengung zu machen, um die Notlage, in der wir uns befinden, zu überwinden. Und von daher habe ich überhaupt nicht verstehen können, daß auch von Ihrer Seite die Erwägungen, die mein Kabinettskollege Blüm angestellt hat, kritisiert worden sind, als er den Gewerkschaften angeraten hat, auch einmal über eine längere Laufzeit der Tarifverträge nachzudenken. Meine Damen und Herren, wem es wie jedem hier in diesem Raum so schwerfällt, die Anpassung der Renten um ein halbes Jahr zu verschieben, der darf auch an die im aktiven Arbeitsleben Stehenden appellieren, darüber nachzudenken, ob auch ihre Lohnanpassung ein bißchen später stattfinden kann.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

    Das ist das Gegenteil von einem Eingriff in die Tarifautonomie. Das ist die Diskussion, der Dialog zwischen den verantwortlichen gesellschaftlichen und staatlichen Kräften. Und diesen Dialog überhaupt möglich zu machen, das ist eine Wirkung unserer Marktwirtschaft.
    Ich betone es noch einmal: Wenn Unternehmer und Gewerkschaften in einer gesteuerten, von Meldepflichten erstickten, von Strukturräten bevormundeten Wirtschaft

    (Widerspruch bei der SPD)

    am Ende zum Staat kommen müssen, dann stehen die Tarifautonomie und die Rechte der Arbeitnehmer, die durch sie wahrgenommen werden sollen, nur noch auf dem Papier, aber sie können nicht mehr ausgeübt werden.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Deshalb ist für uns Marktwirtschaft — ich wiederhole es — nicht nur ein wirtschaftlicher Funktionsmechanismus, sie ist vielmehr ein Teil der freiheitlichen Wertordnung, zu der wir uns bekennen, die wegen ihres Zuwachses an Freiheit für den einzelnen und wegen ihrer Effektivität erhalten werden muß.

    (Dr. Soell [SPD]: Denken Sie mal darüber nach, warum Marktwirtschaft nicht im Grundgesetz steht, sondern Sozialstaat!)

    Wir stehen heute vor ganz schweren Herausforderungen. Deshalb brauchen wir als die entscheidende wirtschaftliche und soziale Aufgabe für die 80er Jahre mehr Investitionen, Investitionen, die Arbeitsplätze schaffen, Investitionen, die unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit erhalten und auch in Zukunft sichern. Meine Damen und Herren, um diese Investitionen geht es, um die privaten und die öffentlichen, für die privaten die Rahmenbedingungen zu schaffen, für die öffentlichen die Mittel freizumachen. Es geht nicht, wie Sie sagen, um eine Umverteilung von unten nach oben.

    (Zuruf von der SPD: Doch!)

    8626 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 138. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 14. Dezember 1982
    Bundesminister Genscher
    Die Umverteilung, um die es heute geht, ist die Umverteilung vom Verbrauch zu Investitionen,

    (Zuruf von der SPD: Wo denn!)

    von Konsum zu Arbeitsplätzen. Das ist die Aufgabe.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Und wenn wir mit dieser marktwirtschaftlichen Politik, wie schon einmal im Beginn der Bundesrepublik Deutschland, die Arbeitslosigkeit überwinden,

    (Zuruf des Abg. Waltemathe [SPD])

    dann wird das der stärkste Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit in unserer Bundesrepublik Deutschland sein.

    (Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Warum reduzieren Sie die Investitionen?)

    Wir brauchen und müssen den Menschen geben: mehr Mut zum Markt, mehr Bereitschaft zur Selbstverantwortung und Leistung, ein positives Verhältnis zum Wachstum und zur Technik, wobei wir erkennen müssen, daß uns Wachstum und technischer Fortschritt erst die Mittel in die Hand geben, um unsere Umwelt zu sichern und zu erhalten.

    (Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Phrasendrescherei ist das!)

    Wir brauchen mehr finanzielle Kraft und mehr Mut für die unternehmerischen Investitionen.

    (Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Hier ist doch keine Wahlkampfveranstaltung!)

    Und vor allen Dingen ist mehr Zuversicht, realistische Zuversicht, erforderlich.
    Meine Damen und Herren, Marktwirtschaft wird uns aus Rezession und Massenarbeitslosigkeit herausführen — im Gegensatz zu kurzatmigen Beschäftigungsprogrammen, die mit noch höherer Staatsverschuldung finanziert werden müßten.

    (Dr. Ehmke [SPD]: Das hat Ihnen alles der Lambsdorff aufgeschrieben!)

    Nur mit der Marktwirtschaft wird es uns gelingen, den Strukturwandel sozial abgefedert so durchzuführen, wie wir ihn im Interesse der Konkurrenzfähigkeit unserer Volkswirtschaft brauchen.
    Heute fließen über 50% des Volkseinkommens über staatliche Kassen. Mit dieser Überexpansion der Staatsquote ging einher — und da haben wir alle Verantwortung — eine Unzahl von Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften. Bürokratische Regelungen überziehen die Wirtschaft und hemmen sie. Das müssen wir abbauen. Wir müssen auch die Steuergesetze vereinfachen,

    (Westphal [SPD]: Das ist lächerlich! — Weitere Zurufe von der SPD)

    um es wieder lohnender zu machen, über Innovation und Investition nachzudenken. Wir müssen auch die Fehlleitung und Verschwendung von Ressourcen beseitigen, die durch Subventionen und andere Regelungen geschaffen werden.
    Aber ich sage es noch einmal: Dieser Wandel, so notwendig er ist, muß sozial zügig abgefedert werden.

    (Waltemathe [SPD]: Was heißt da „zügig"? Meinen Sie, zynisch?)

    „Zügig" heißt, Herr Kollege, daß man den Beginn davon nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschiebt, bis es nicht mehr geht, sondern daß man jetzt, wie wir, anfängt, wo es noch Zeit ist, die Probleme zu packen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Die Überwindung der Krise fordert, daß der Staat die Rahmenbedingungen wiederherstellt, unter denen die Marktwirtschaft voll zur Geltung kommen kann. Zu diesen Rahmenbedingungen gehört nicht zuletzt Stetigkeit und Konstanz der Politik.

    (Lachen bei der SPD — Waltemathe [SPD]: Aha!)

    Entscheidungen über die Investitionen hängen von den Erwartungen über die Zukunft ab. Ein Unternehmer, der ständig neue Lasten und einengende Regelungen befürchtet, läßt seine Finger von mancher für notwendig gehaltenen Investition.

    (Dr. Ehmke [SPD]: Und das alles zum Abschied!)

    Von diesem Hintergrund, meine Damen und Herren, war Ihr Münchener Parteitag eine einzige Investitionsabschreckungsveranstaltung.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

    Zum Mut zum Markt gehört allerdings auch der Mut zum Offenhalten unserer Märkte. Die Antwort auf die Herausforderung des weltwirtschaftlichen Strukturwandels darf nicht im Protektionismus liegen,

    (Dr. Soell [SPD]: Was machen Sie dagegen?)

    sondern in entschlossenen Anstrengungen, die die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie sichern und wiederherstellen.
    Dazu ist es erforderlich — das haben wir nicht leichten Herzens getan —, das System unserer sozialen Sicherung mit der Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft in Übereinstimmung zu bringen. Nur das ist verantwortliches Handeln für die Sicherung unserer Zukunft und die Zukunft unserer Kinder. Ich sage Ihnen: Soziale Demontage betreibt in Wahrheit derjenige, der mit der Überforderung der Wirtschaft weitermachen will, bis es nicht mehr geht, bis der Sozialstaat zusammenbricht, und genau das darf nicht eintreten.
    Herr Kollege Dr. Ehmke hat heute morgen — ich glaube, an den Bundeskanzler — die Frage gerichtet, was denn mit seinem Appell zur Leistungsbereitschaft eigentlich die Alten, Schwachen und Kinder anfangen sollen. Ich will Ihnen das sagen. Der Appell zur Leistungsbereitschaft ergeht nicht an die Alten, an die Schwachen und an die Kinder. Er ergeht für

    (Stahl [Kempen] [SPD]: Die Zahnärzte!)

    Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 138. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 14. Dezember 1982 8627
    Bundesminister Genscher
    die Alten, für die Kranken, für die Schwachen und für die Kinder.

    (Stahl [Kempen] [SPD]: Deshalb zahlen Sie denen das Geld auch wieder zurück!)

    Er ergeht für die Alten, weil sie ihre Lebensleistung mit eigener Leistung erbracht haben und deshalb einen Anspruch darauf haben, daß wir ihnen einen würdigen Lebensabend sichern.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Ehmke [SPD]: Anspruchsdenken!)

    Dieser Appell ergeht für die Schwachen und Behinderten, weil sie nicht selbst in der Lage sind, ausreichend für sich zu sorgen. Der Appell an die Leistungsbereitschaft ergeht im Interesse der Kinder, um ihnen einen Lebensweg, eine Ausbildung, einen Anfang zu ermöglichen, der sie wiederum in die Lage versetzt, für die dann Älteren und Schwächeren ihre solidarische Leistung erbringen zu können.
    Wenn wir von sozialer Gerechtigkeit sprechen, dann müssen wir allerdings auch an diejenigen denken, die die Leistungen erbringen. Es muß sich lohnen, sich anzustrengen und etwas zu leisten. Wer die Steuer- und Abgabenschraube weiter anziehen will, der beseitigt die Arbeitslosigkeit nicht.

    (Beifall bei der FDP und der CDU — Dr. Ehmke [SPD]: Sie erhöhen doch die Mehrwertsteuer! — Waltemathe [SPD]: Um so höher sind die Abschreibungen! — Weitere Zurufe von der SPD)

    Er schafft allenfalls neue Staatsverdrossenheit, er würgt den Leistungswillen ab, und er fördert die Schattenwirtschaft.
    Soziale Gerechtigkeit ebenso wie wirtschaftliche Vernunft fordern von uns eine Politik, die staatliche Transfereinkommen nicht vor die Leistungseinkommen stellt. Deshalb müssen wir auf die Notwendigkeit, die Leistung zu fördern, Selbstverantwortung zu übernehmen, immer wieder hinweisen.
    Gerade unsere Jugend will ja nicht mehr Staat, sondern mehr Freiheitsraum für den einzelnen, auch für kleinere Gruppen, weil die jungen Menschen wissen, daß viele Gemeinschaftsaufgaben dort sehr viel besser gelöst werden können als durch Bürokratien, staatliche und auch andere.

    (Zurufe von der SPD)

    Ich bin auch überzeugt, daß die große Mehrheit in unserem Lande die Politik unterstützen wird, wie wir hier sie vorgesehen haben. Wir haben ja in der Vergangenheit — damals gemeinsam — auch Änderungen in sozialen Gesetzen vorgenommen, wo wir der Meinung waren, Mißbrauchsmöglichkeiten könnten abgeschafft werden. Das liegt auch im Interesse des sozialen Konsenses. Man muß auch erkennen, daß mit der Überforderung — ich muß es wiederholen — am Ende die Grundlagen unseres sozialen Netzes beseitigt werden.
    Wir brauchen, um die ökonomischen Probleme zu überwinden, auch ein grundsätzlich positives Verhältnis zum Wachstum und zur Technik. Die Bundesrepublik Deutschland steht wie andere westliche Demokratien an der Schwelle einer neuen technologischen Revolution. Die neuen Informationstechnologien, die durch sie gegebenen neuen Möglichkeiten in der Telekommunikation und in der Automatisierung der Produktionsprozesse, die neuen Energietechnologien, die neuen Technologien für den Umweltschutz, das alles führt in ein neues Zeitalter.

    (Zuruf von der SPD: Und ein neuer Außenminister!)

    Die Grundbedingungen für einen großen wirtschaftlichen Aufschwung sind ja vorhanden. Es trifft nicht zu, wie oft behauptet wird, daß die gegenwärtige wirtschaftliche Stagnation allein oder überwiegend durch eine strukturelle Sättigung der Nachfrage verursacht ist. Das trifft übrigens nicht einmal für den traditionellen Bereich der Konsumgüter zu. Es stimmt ganz und gar nicht für den Bereich der neuen Produkte, der großen Investitionen, die notwendig sind, um die Infrastruktur für das Jahr 2000 zu schaffen.
    Es ist auch nicht richtig, jedenfalls für die überschaubare Zukunft — und die müssen wir im Auge behalten —, daß die neuen Technologien mehr Arbeitsplätze vernichten, als sie neu erzeugen. Im Gegenteil! Für die Europäische Gemeinschaft errechneten Experten zum Beispiel, daß eine Beherrschung der modernen Kommunikations- und Automationstechnologien in den nächsten acht bis zehn Jahren 4 Millionen bis 5 Millionen Arbeitsplätze schaffen könnte. Und für die Bundesrepublik Deutschland wurde errechnet, daß mit der Verkabelung allein in den nächsten drei Jahren 70 000 bis 80 000 Arbeitsplätze geschaffen werden können.
    Meine Damen und Herren, diese Technologien haben — darüber dürfen wir uns nicht täuschen — bei vielen Menschen Angst und Widerstand hervorgerufen. Statt die Technik rational nutzen zu wollen, lassen sich junge Menschen häufig von Desinteresse an Naturwissenschaft und Technik oder auch von Technikfeindlichkeit leiten.
    Ich glaube, es wird eine entscheidende gesellschaftliche Aufgabe sein, diese negative Einstellung zur Technik zu überwinden. Hier ist unsere Bildungspolitik gefordert. Hier ist aber auch eine Aufgabe für geistige und politische Führung für alle, die in Staat und Gesellschaft Verantwortung tragen. Wenn wir unsere Zukunft sichern wollen, ist eine rationale Einstellung zum technischen Fortschritt, ist ein grundsätzliches Ja aller gesellschaftlichen Gruppen zum technischen Fortschritt unabdingbar.
    Westeuropa und auch die Bundesrepublik Deutschland sind in der Gefahr, in wichtigen Bereichen der Spitzentechnologie von den Vereinigten Staaten und von Japan abgehängt zu werden. Eine Bilanz der Patente in Tokio und in München zeigt das. Die Europäische Gemeinschaft verbraucht dem Werte nach 23 % der in der Welt erzeugten integrierten Schaltkreise, aber sie produziert nur 5%. Meine Damen und Herren, die Gefahr ist deutlich: Westeuropa droht zu einer Industrieregion zweiten
    8628 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 138. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 14. Dezember 1982
    Bundesminister Genscher
    Ranges abzusinken mit einschneidenden Folgen für Wohlstand und Arbeitsplätze.

    (Zuruf von der SPD: Und deshalb BAföGKürzung!)

    Wir müssen die Rahmenbedingungen dafür schaffen, daß sich Erfindungsgeist und unternehmerischer Wagemut entfalten können. Das ist unser Ziel!
    Zu diesem Zweck müssen wir auch dafür sorgen, daß neue Investitionen durch eine gesunde Ausstattung der Unternehmen mit Eigenkapital möglich werden. Deshalb ist es falsch, wenn man bei der Betrachtung der Unternehmenserträge zu einer Gewinnverteufelung kommt. Dann, wenn es nicht mehr möglich ist, in einer marktwirtschaftlichen Ordnung Gewinne zu machen, gibt es keine neuen Investitionen und keine Arbeitsplätze, und das trifft nicht zuerst den Unternehmer, sondern zuallererst den Schwächsten in der Kette, nämlich den Arbeitnehmer. Zuerst für ihn werden die Investitionen gebraucht!

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, deshalb ist eine Steuerpolitik erforderlich, die diese Kapitalaustattung der Unternehmen verbessert, die Anreize zu Investitionen gibt, die aber auch und vor allen Dingen die Kapitalkraft der Mittel- und Kleinbetriebe stärkt; denn diese stellen zwei Drittel der Arbeitsplätze in unserer Wirtschaft bereit, sie hauptsächlich erbringen die Leistung, Arbeitsplätze zu schaffen. Sie — nicht die großen Konzerne — sind die Hauptträger des technologischen Fortschritts. Von den 60 Basiserfindungen dieses Jahrhunderts stammen 48, d. h. 80 %, von kleinen und mittleren Unternehmen. Die kleinen und mittleren Unternehmen in Kalifornien sind die Bannerträger der mikroelektronischen Revolution in den Vereinigten Staaten.
    Deshalb ist eine weitschauende Mittelstandspolitik, die günstige Rahmenbedingungen schafft, durch die die Kraft der kleinen und mittleren Unternehmen zu Innovation und Investition gestärkt und die Gründung neuer Unternehmen erleichtert werden, eine Mittelstandspoltik für die Stärkung unserer Volkswirtschaft, für mehr Arbeitsplätze.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, deshalb muß auch die Steuerpolitik rational gesehen werden. Sie muß der Leistungsfähigkeit und der Gerechtigkeit entsprechen.

    (Demonstrativer Beifall bei der SPD)

    Deutlich wird das in der Progression, die wir haben. Aber ich warne davor, leichtfertig mit dem Begriff von den Besserverdienenden, an die man herangehen müsse, umzugehen. Wer ist der Besserverdienende? Der Facharbeiter gegenüber dem nicht gelernten, der Meister gegenüber dem Facharbeiter — oder der Handwerksmeister, der nicht 8 Stunden, sondern 14 Stunden am Tag in seinem Betrieb arbeitet, um über die Schwierigkeiten dieser Zeit hinwegzukommen!

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Ihn wollen wir ermutigen, nicht entmutigen; ihn wollen wir nicht mit Arbeitszeitbestimmungen bevormunden, die die Flexibilität seiner Betriebsgestaltung einengen.
    Das alles müssen wir sehen, wenn wir uns der Aufgabe stellen wollen, im eigenen Hause die hausgemachten Ursachen der wirtschaftlichen Rezession zu überwinden. Dann bleibt noch genug zu tun, in internationaler Zusammenarbeit mit den anderen, die dazu in der Lage sind, den Weg aus der Krise heraus zu suchen. Wer dabei wartet, bis alle sich dazu entschlossen haben, wird sich selbst den Vorwurf machen müssen, daß er die Chance des Anfangs und der Initialzündung versäumt hat.
    Deshalb haben wir uns zu diesen wahrlich nicht leichten, auch im sozialen Bereich schwerwiegenden Entscheidungen durchgerungen. Die ersten Ergebnisse sind ja deutlich.

    (Zuruf von der SPD: Ja! — Bindig [SPD]: Die FDP geht nach unten!)

    — Meine Kollegen, die sinkenden Zinsen sind doch kein Glücksfall!

    (Waltemathe [SPD]: Sinkende Prozentzahlen!)

    Die sinkenden Zinsen sind doch kein Geschenk der Bundesbank an eine ihr genehme Regierung — ich weiß, daß Sie die Unabhängigkeit der Bundesbank immer gestört hat —, die sinkenden Zinsen sind eine Anerkennung für eine solide Haushaltspolitik.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Lachen bei der SPD)

    Je konsequenter wir das fortsetzen, um so wirkungsvoller wird das sein. Meine sehr verehrten Damen und Herren, so werden wir konsequent diese Politik fortsetzen,

    (Waltemathe [SPD]: Immer mehr Schulden! — Zuruf von der SPD: Sie nicht!)

    eine Politik, die darauf gerichtet ist, den freiheitlichen Gehalt nicht nur unserer staatlichen Ordnung, sondern auch unserer wirtschaftlichen Ordnung zu erhalten und auszubauen, Liberalität in Staat und Gesellschaft zu ermöglichen.
    Die Koalitionsparteien — Freie Demokraten, CDU und CSU — haben der Regierung einen sachlich begrenzten Auftrag gegeben. Dieser Auftrag wird nach der Zustimmung des Deutschen Bundestages zu dem Haushalt 1983 und zu den Begleitgesetzen erfüllt sein.

    (Zuruf von der SPD: Für Sie immer!)

    Mit dieser gemeinsamen Leistung wird die Koalition vor die Wähler treten.
    Sie kann dabei auch darauf verweisen, daß sie zusätzlich zu dem, was soeben genannt wurde, ihre Einigungs- und Entscheidungsfähigkeit unter Beweis gestellt hat: Die Verbesserung der Qualität der
    Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 138. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 14. Dezember 1982 8629
    Bundesminister Genscher
    Luft durch die TA Luft ist ein entscheidender Beitrag zu einem wirksamen Umweltschutz.

    (Waltemathe [SPD]: Der Baum, der taugte j a nichts; der hat das nicht hingekriegt!)

    Die Regelung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung hat endlich auch in diesem Bereich Rechtssicherheit geschaffen.

    (Zuruf von der SPD)

    — Ich weiß, daß Sie das alles nicht gern hören, meine Damen und Herren. Aber Sie müssen es ertragen. Dieses Parlament ist und bleibt Ort der Aussprache und des Dialogs. Wer Liberalität für sich in Anspruch nimmt, der muß als erstes beweisen, daß er auch einer anderen Auffassung, die er nicht teilt, zuhören kann.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Genauso bedeutsam ist, daß die Bundesregierung mit der Kontinuität der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik einen entscheidenden Beitrag zu Stabilität und Vertrauensbildung in Europa geleistet hat.
    Mit der Entscheidung über die Vertrauensfrage und dem Vorschlag zur Bundestagsauflösung erfüllt die Koalition der Mitte das bei ihrer Begründung gegebene Versprechen. Sie straft damit all jene Lügen, die Zweifel an der Ernsthaftigkeit dieses Willens geäußert haben. Meine Damen und Herren, wir werden uns nach Erledigung dieser Aufgaben bei den Wählern um ein neues Mandat bemühen — für eine wirksame, marktwirtschaftliche Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, für die Politik der Sozialen Marktwirtschaft, für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, für den Ausbau unseres freiheitlichen Rechtsstaates und für unsere Politik der aktiven Friedenssicherung.

    (Anhaltender Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Bindig [SPD]: Und die Abwahl von Genscher! — Zuruf von der SPD: Good-bye!)



Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Voigt (Frankfurt).

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Karsten D. Voigt


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Bundesaußenminister, Sie haben von Außenpolitik wenig, von Marktwirtschaft viel gesprochen. Ich habe darin das Bemühen erkannt, in einem kleiner werdenden Markt eine Marktlücke zu entdecken. Aber ich möchte Sie daran erinnern, daß es in der Marktwirtschaft so ist, daß normalerweise der Chef einer Firma entlassen wird, wenn die Produkte am Markt nicht mehr absetzbar sind.

    (Beifall bei der SPD)

    Deshalb wäre es konsequent gewesen, Sie wären zurückgetreten. Ich hätte mir heute eigentlich auch gewünscht, daß Sie bei Ihrer Abschiedsrede aus dem Deutschen Bundestag versöhnlichere Töne angeschlagen hätten.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein bißchen billig, Herr Voigt!)

    Zweieinhalb Monate Regierung Kohl/Zimmermann/Genscher haben viele berechtigte Zweifel an Ihren politischen Absichten und auch an Ihren politischen Fähigkeiten genährt. Aber wirkliche Klarheit haben Sie in den zweieinhalb Monaten nicht geschaffen, ja, Sie wollten sie auch nicht schaffen. Denn die Rechnung soll dem Wähler bewußt erst nach dem 6. März präsentiert werden. Und dann erweist sich — das zeichnet sich heute schon ab — das Gerede von der Kontinuität als Sand, der uns in die Augen gestreut werden soll, um den Mangel an demokratischer Legitimation für den Wechsel zu verdecken.
    Unsere Zweifel an dem Willen zur Kontinuität der neuen konservativ-liberalen Regierung auf dem Feld der Außen- und Sicherheitspolitik haben sich in den wenigen zurückliegenden Wochen leider bestätigt. Kontinuität in der Außen- und Sicherheitspolitik war die Devise, mit der Bundesaußenminister Genscher seinen Einstand in die neue konservativ-liberale Koalition feierte. Immer deutlicher aber wird, daß sich der Bundesaußenminister inzwischen auch außenpolitisch an die CDU/CSU angepaßt hat. Er gibt damit die letzten Überreste sozialliberaler Kontinuität preis.

    (Beifall bei der SPD)

    Dieser Außenminister hat dem jetzigen vom Wähler nicht legitimierten Bundeskanzler in den Sattel geholfen. Er hat sich zum Steigbügelhalter machen lassen. Dabei soll es nach dem Willen der Unionsparteien bleiben. Nach dem Vollzug der Wende wird es für die FDP — unabhängig davon, ob sie mehr oder weniger als 5 % bei den nächsten Bundestagswahlen erreicht — keine politisch eigenständige Rolle mehr geben, erst recht nicht mit einem Vorsitzenden Genscher.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Der innenpolitische Schock, der durch Ihr abruptes Wendemanöver verursacht worden ist, hat die deutsche Außenpolitik in ihrem bisherigen Charakter schon jetzt erheblich verändert. Sie haben ein Wahlversprechen gebrochen, nämlich daß Sie Helmut Schmidt als Bundeskanzler unterstützen.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Sie werden auch ein zweites Versprechen brechen, nämlich daß Sie eine von Franz Josef Strauß bestimmte Regierung in Bonn verhindern wollen.
    Herr Bundesaußenminister Genscher, Sie pflegen für die Notwendigkeit der Vertrauensbildung zwischen den Staaten zu werben. Wir Sozialdemokraten teilen und unterstützen dieses Ziel. Wie aber kann ein Bundesaußenminister glaubwürdig im Ausland für Vertrauensbildung werben, der im Inland zum Symbol des Vertrauensbruchs geworden ist?

    (Beifall bei der SPD)

    Herr Bundeskanzler Kohl, wir Sozialdemokraten haben kein Vertrauen in Ihre Politik und in Ihr Kabinett. Im Interesse unseres Landes aber warnen wir Sie davor, die Außenpolitik Ihrer Bundesregierung einem Mann anzuvertrauen, der aus taktischen Erwägungen frühere Bündnispartner ge-
    8630 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 138. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 14. Dezember 1982
    Voigt (Frankfurt)

    täuscht hat und deshalb auch in Zukunft wohl nicht davor zurückschrecken wird, gegenwärtige und künftige Bündnispartner im In- und Ausland erneut zu täuschen, wenn ihm das als taktisch opportun erscheint.
    Ich muß aber heute bereits feststellen, daß in den wenigen Wochen der konservativ-liberalen Regierung der Glaubwürdigkeit der deutschen Außenpolitik schwerwiegender Schaden zugefügt wurde.

    (Dr. Meyer zu Bentrup [CDU/CSU]: Wer hat Ihnen denn diesen Unsinn aufgeschrieben? — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

    Ich nenne einige Beispiele.
    Erstens die Abkehr von der Türkei-Entschließung des Deutschen Bundestages. Der Deutsche Bundestag hat am 5. Juni 1981 in einer einstimmig gefaßten und von allen drei Fraktionen gemeinsam getragenen Entschließung die Fortsetzung der TürkeiHilfe von der Rückkehr zur Demokratie und von der Einhaltung der Menschenrechte abhängig gemacht. Sie selber, Herr Außenminister, haben einen Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung in der Türkei zugesagt. Diesen Bericht haben Sie jetzt nach langem Zögern endlich vorgelegt. Darin stellen Sie selber fest, daß auf Grund der neuen türkischen Verfassung bisher nicht persönliche Freiheitsrechte, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, arbeitsrechtliche Bestimmungen wie Streikrecht, Bestimmungen über die Freiheit der politischen Betätigung und der politischen Parteien und Bestimmungen über das aktive und passive Wahlrecht in Kraft getreten sind.

    (Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Sie gehen zum Ballettabend nach Moskau!)

    Ebenfalls nicht in Kraft getreten sind die Bestimmungen über die Ausübung der gesetzesgebundenen Gewalt. Das alles steht in Ihrem eigenen Bericht. Das Urteil über diese Entwicklung in der Türkei konnte wohl auch gar nicht anders ausfallen. Dennoch haben Sie sich über die verfassungsrechtlichen und politischen Bedenken hinweggesetzt und mit der Mehrheit der Rechtskoalition im Auswärtigen Ausschuß, im Haushaltausschuß und im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit die Türkei-Hilfe in vollem Umfang durchgesetzt. Es bleibt das Geheimnis des Parteivorsitzenden der FDP, wie er als Liberaler glaubwürdig bleiben will, wenn er keine praktischen Konsequenzen aus der Verletzung demokratischer und rechtsstaatlicher Grundsätze in einem Mitgliedsland des Europarates und der NATO zu ziehen bereit ist.

    (Beifall bei der SPD)

    Wer wie Bundeskanzler Kohl von der NATO als Werte-Gemeinschaft spricht und zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Bewilligung von Mitteln der Soforthilfe und der Verteidigungshilfe für die Türkei verlangt, spricht dem hohen Anspruch der geistig-moralischen Erneuerung hohn.

    (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

    Solch politisches Fehlverhalten ist eine der wichtigsten Ursachen dafür, daß vor allem jüngere Menschen den Politikern mißtrauen, wenn sie von Moral reden, weil es im Widerspruch zu ihrer politischen Praxis steht. Solches Verhalten führt aber auch dazu, daß die demokratische Glaubwürdigkeit der NATO in Mißkredit gerät. So darf man sich nicht über Parlamentsbeschlüsse hinwegsetzen.
    Deshalb haben wir hier diese Frage noch einmal in einem Entschließungsantrag zur Entscheidung gestellt.
    Wie Sie wissen, hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaft auf Grund der Entwicklung in der Türkei ihre Hilfe bisher blockiert. Daran sehen Sie, daß woanders verfassungsrechtliche und politische Bedenken gegenüber der türkischen Staatsführung sehr viel ernster genommen werden als hier von der neuen Rechtskoalition.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Zweites Beispiel: die Wende in der Nord-Süd-Politik. In der sozialliberalen Koalition, Herr Außenminister, haben Sie sich damit gebrüstet, Dritte-WeltPolitik im Interesse der deutschen Außenpolitik zu führen und die deutsche Dritte-Welt-Politik an den Grundsätzen der Unabhängigkeit, der Blockfreiheit und der Solidarität mit den Entwicklungsländern zu orientieren. Sie wollten damals die Dritte Welt nicht in den Ost-West-Konflikt hineinziehen. Wir haben Sie in dieser Politik unterstützt, weil Sie damit sozialdemokratisches Gedankengut in die deutsche Außenpolitik aufgenommen haben.
    Daß Ihr Kontinuitätsversprechen nichts wert ist und die Öffentlichkeit bis zum 6. März nur hingehalten werden soll, läßt sich z. B. daran ablesen, daß Länder mit linksgerichteten Systemen wie Nicaragua durch die Kürzung der Entwicklungshilfe bestraft werden sollen — Simbabwe gehört übrigens auch dazu, obwohl die Vereinigten Staaten in diesem Fall sogar sehr viel großzügiger sind — und daß Länder mit rechtsgerichteten Systemen wie El Salvador aufgewertet werden sollen, und das, obwohl in den Vereinigten Staaten selber erwogen wird, die Hilfe zu kürzen.
    Mit Besorgnis muß uns auch erfüllen, daß Sicherheitsinteressen des Westens, der NATO, in die Dritte-Welt-Politik einfließen sollen und damit der Ost-West-Gegensatz in die Dritte Welt hineingetragen wird.
    Das alles kann man nicht mit der Ressortzuständigkeit des CSU-Ministers Warnke auf sich beruhen lassen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Ihre Rede ist eine Zumutung!)

    Denn es ist doch wohl klar, daß in diesen Änderungen der Entwicklungspolitik die außenpolitische Handschrift von Franz Josef Strauß bereits jetzt in der Regierung zu erkennen ist.

    (Beifall bei der SPD — Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Und bei Ihnen die Handschrift von Mies! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

    Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 138. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 14. Dezember 1982 8631
    Voigt (Frankfurt)

    Mir ist von Ihrem Widerstand gegen diese massive Veränderung von Grundsätzen der deutschen Außenpolitik

    (Kroll-Schlüter [CDU/CSU]: Sie lesen den „Spiegel"!)

    nichts bekannt. Vielleicht hören wir dafür von Ihnen später noch einiges, nämlich dann, wenn offenbar und bekannt wird, daß Sie zurückgesteckt haben und daß Sie Ihre eigene Politik und Ihre eigenen Grundsätze, so Sie welche gehabt haben sollten, begraben haben.
    Außerordentlich beunruhigend, besonders im Zusammenhang mit den Beziehungen der Bundesrepublik zu den Ländern der Dritten Welt, ist auch die Tatsache, daß die neue Bundesregierung bisher zur Unterzeichnung der Seerechtskonvention nicht bereit ist. Sie reiht sich damit in eine Linie der Konfrontation gegenüber den Entwicklungsländern ein. Auch das wird der deutschen Außenpolitik nicht gut bekommen. Im übrigen gefährdet sie damit auch Arbeitsplätze in Hamburg, nämlich den Seegerichtshof, der Hamburg im Rahmen der Seerechtskonvention zugesagt worden ist.
    Das dritte Beispiel: Doppeldeutigkeiten oder, wie Sie das nennen würden, Zwielicht in wichtigen Bündnisfragen. Hans-Jürgen Wischnewski hat in der Debatte vom 25. November eine Reihe von Fragen gestellt, von denen einige immer noch nicht oder nur unzureichend beantwortet worden sind. Nicht beantwortet ist z. B. die Frage, ob und, wenn ja, welche Verpflichtungen die Bundesregierung gegenüber den Vereinigten Staaten eingegangen ist, die zu einer Einschränkung des Osthandels führen könnten.
    Am 9. Dezember hat der amerikanische Botschafter in Bonn, Arthur Byrnes, erklärt, daß die NATO-Länder im Zusammenhang mit der Aufhebung der US-Sanktionen übereingekommen sind, keine neuen Verträge für die Lieferung von sowjetischem Erdgas abzuschließen.
    Eine solche Vereinbarung, wenn es sie gibt, wäre entweder eine überflüssige oder eine schädliche Einschränkung unserer energiepolitischen Zusammenarbeit mit Osteuropa. Sie wäre ein Bruch mit sozialliberaler Kontinuität, denn Bundeskanzler Helmut Schmidt ist früher öffentlich und intern für eine gesamteuropäische Energiekonferenz eingetreten — und das mit dem Ziel, die energiepolitische Zusammenarbeit mit Osteuropa nicht einzuschränken, sondern zu vertiefen und auszuweiten.
    Wir befinden uns übrigens mit unserer Haltung, die mit der Haltung der amerikanischen Regierung nicht identisch ist, in Übereinstimmung mit der französischen Regierung. Trotzdem behauptet Herr Kohl, daß es weder zwischen ihm und der französischen Regierung noch zwischen ihm und der amerikanischen Regierung Meinungsunterschiede gibt. Meiner Meinung ist das eine sehr kühne Behauptung, wenn man sich die realen Probleme zwischen Europa und den Vereinigten Staaten anschaut. Offenbar sind mit dieser Form der Übereinstimmung nur Allgemeinplätze gemeint. Bundeskanzler Kohl gilt ja aber als Spezialist für das Allgemeine und hat das durch seine heutige Rede auch noch einmal unterstrichen.

    (Beifall bei der SPD)

    Besorgniserregend ist, daß immer offensichtlicher wird, daß Vertreter der konservativ-liberalen Koalition dem Nachrüstungsteil des NATO-Doppelbeschlusses den Vorrang einräumen. Kollege Todenhöfer erklärt, die Sowjetunion werde erst dann Zugeständnisse machen, wenn hier stationiert ist. Diese Äußerung erweckt zwangsläufig den Eindruck, daß die CDU/CSU jetzt zu dem Konzept „Erst rüsten, dann verhandeln" zurückkehrt.

    (Dr. Marx [CDU/CSU]: Das ist doch eine Zwangsvorstellung!)

    Das ist es, was uns nach dem 6. März bevorsteht, falls Sie die Mehrheit erhalten, und das werden wir nicht mitmachen.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Marx [CDU/ CSU]: Die werden wir erhalten!)

    Wir Sozialdemokraten lehnen jeden Automatismus der Nachrüstung ab und fordern endlich die Offenlegung der geplanten Stationierungsorte. Wir Sozialdemokraten stehen zu dem, was Sozialdemokraten in der Regierung und auf ihren Bundesparteitagen beschlossen haben. Wir Sozialdemokraten geben aber den Verhandlungen den Vorrang vor der Nachrüstung. Im Unterschied zu Ihnen drängen wir auf Verhandlungskompromisse. Ja, wir bekennen uns offen dazu: Wir Sozialdemokraten sind die Partei der Verhandlungen.

    (Beifall bei der SPD)

    Die Sowjetunion hat jetzt in Genf einen Vorschlag vorgelegt, der darauf hinausläuft, die Hälfte der sowjetischen landgestützten Systeme abzubauen. Das ist ein Fortschritt. Er geht aber noch nicht so weit, wie wir es für nötig halten. Das Präsidium der SPD hat sich dafür ausgesprochen, die Warnke-Vorschläge eingehend zu prüfen, gegebenenfalls durch eigene Vorstellungen anzureichern und in den zuständigen Gremien der NATO zu erörtern. Die schlichte Ablehnung dieser Vorschläge durch die neue Rechtskoalition halten wir für unangemessen und für unbefriedigend.

    (Beifall bei der SPD)

    Sie zeugt unserer Meinung nach von mangelnder Verhandlungsbereitschaft. Wir fordern Sie deshalb noch einmal auf: Prüfen Sie Kompromißmöglichkeiten. Drängen Sie auf faire Kompromisse. Unsere Politik muß weiterhin — wie unter den Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt — die Vorhut der Abrüstungsbemühungen bilden.

    (Berger [Lahnstein] [CDU/CSU]: Seien Sie da unbesorgt!)

    Sie darf nicht zur Nachhut werden.
    Jetzt möchte ich ergänzend noch folgendes hinzufügen. Wer heute die „International Herald Tribune" gelesen hat, wird darin einen Bericht von John Vinocur, einem der Sozialdemokratie sicher-
    8632 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 138. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 14. Dezember 1982
    Voigt (Frankfurt)

    lich nicht wohlgesonnen Reporter finden, wonach auch François Mitterrand sagt, daß man sich in der Position der Verhandlungen bewegen muß und daß er eine Lösung zwischen der Reaganschen NullLösung und dem Vorschlag der Freeze-Bewegung vorschlage. — Ich sehe schon kommen, daß Sie neben Reagan, vielleicht sogar nach Reagan die letzten sein werden, die an der starren Ausgangsposition festhalten und sich gegen Verhandlungskompromisse aussprechen und damit Verhandlungsergebnisse erschweren und verunmöglichen.

    (Beifall bei der SPD)

    Wenn Sie sich so verhalten, dann ist es nur konsequent, wenn nicht wir, sondern der „Spiegel"

    (Lachen bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Gute Qualität!)

    in seiner Ausgabe vom 13. Dezember in einem Artikel feststellt: „Die Union neigt zur Raketenpartei." Das sind nicht wir, das sind Journalisten, die diese Konsequenz aus Ihrer bisherigen Praxis und Verhaltensweise ziehen.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Ich möchte eine weitere Äußerung des Bundesministers der Verteidigung, Manfred Wörner, aufgreifen. Er erklärte am 8. Dezember im Zweiten Deutschen Fernsehen:
    Ich lehne eine atomwaffenfreie Zone in Europa mit Entschiedenheit ab. Atomwaffenfreie Zonen verhindern nicht den Nuklearkrieg; ich fürchte, sie würden dazu führen, daß er kommen muß.
    Dann führte er weiter aus:
    Dafür gibt es ein historisches Beispiel: Die Amerikaner haben die Atombombe auf Hiroshima geworfen, weil die Japaner sie nicht hatten.
    Mit dieser fahrlässig vereinfachenden Aussage, Herr Verteidigungsminister, werden Sie der Forderung nach der Bildung einer atomwaffenfreien Zone sachlich nicht gerecht.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Im Umkehrschluß reden Sie mit Ihrer Argumentation indirekt einer schrankenlosen Weiterverbreitung von Atomwaffen das Wort. Wenn Ihr Argument stimmte, wäre der Atomwaffensperrvertrag sinnlos. Dann müßten alle Staaten dieser Erde, um vor Atomangriffen sicher zu sein, die Bombe haben. Das nenne ich verantwortungslos.

    (Zustimmung bei der SPD)