Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Grundsatzaussprache über den Haushalt des Bundeskanzlers bietet der Opposition die Gelegenheit, ihr Kritikrecht auszuüben und ihre
Kontrollpflicht zu erfüllen. Sie kann sich darauf beschränken.
Ich glaube aber, daß auch bei der Polemik, wie wir sie heute gehört haben,
die Pflicht besteht, zu sagen, wie man es dann selbst besser machen will.
Zwei Millionen Arbeitslose, eine uns alle doch bedrückende Staatsverschuldung — das sind Themen, auf die die Bürger die Antwort aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien und nicht nur der Regierungsparteien verlangen.
— Wenn Sie mir sagen, Herr Kollege, diese Antworten seien in Ihren Anträgen enthalten, so muß ich erwidern: Eine flüchtige Durchsicht der Anträge führt mich zu der Feststellung, daß es vornehmlich Ausgabenerhöhungsanträge sind.
Herr Kollege Leber hat heute morgen eine Rede gehalten,
die ganz gewiß nicht frei von Polemik war. Er wird nicht erwarten, daß ich ihm dort folge, wo er polemisiert hat. Aber man wird seine Besorgnis insoweit teilen müssen, als er aus der Erfahrung eines politischen und gewerkschaftlichen Lebens über die Probleme unserer demokratischen und die Stabilität unserer gesellschaftlichen Ordnung gesprochen hat. Bei aller Polemik in Ihrer heutigen Rede, Herr Kollege Leber — das war der alte kämpferische Georg Leber, wie wir ihn aus früherer Oppositionszeit kennen —, möchte ich sagen: Nicht nur Ihre eigenen politischen Freunde, wir alle werden Sie ganz gewiß vermissen, wenn Sie dem Deutschen Bundestag nicht mehr angehören.
Die Bundesrepublik Deutschland stellt sich der Herausforderung einer weltwirtschaftlichen Krise, aber auch den Aufgaben, die im eigenen Lande zu erfüllen sind.
Herr Kollege Dr. Ehmke, Sie sind heute wieder in den alten Fehler verfallen, die unbestreitbaren Auswirkungen von außen als Entschuldigung für eigene Untätigkeit zu nehmen. Das, was an unseren Problemen hausgemacht ist, muß auch zu Hause
8624 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 138. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 14. Dezember 1982
Bundesminister Genscher
beseitigt werden. Das ist die Aufgabe, die wir zu erfüllen haben.
Wenn es richtig ist, Herr Kollege, daß die weltwirtschaftliche Krise auch ein Ergebnis der Fehler aller Staaten, auch eigener Fehler der Bundesrepublik Deutschland ist,
dann werden wir diese Krise nur überwinden können, wenn wir auch alle darangehen, die Ursachen der Krise zu überwinden und zu beseitigen. Das ist die Überforderung des Sozialprodukts in der eigenen Volkswirtschaft, aber auch der Sozialprodukte der anderen Volkswirtschaften.
Das Land, das diesen wichtigen, diesen schmerzhaften Prozeß als erstes in Gang setzt, das Land, das als erstes zu Hause Ordnung schafft, wird für sich und seine Bürger eine Zukunft in sozialer Gerechtigkeit sichern.
Diese Aufgabe werden wir nur erfüllen können, wenn wir hier in der Bundesrepublik Deutschland die Soziale Marktwirtschaft in allen ihren Möglichkeiten wirken lassen. Diese Soziale Marktwirtschaft ist für uns mehr als ein ökonomischer Funktionsmechanismus. Diese Soziale Marktwirtschaft ist ein Bestandteil unserer freiheitlichen Grundordnung, weil nur sie dem Menschen ermöglicht, seine schöpferischen Fähigkeiten auch im wirtschaftlichen Bereich zu entfalten,
weil nur sie soziale Gerechtigkeit möglich macht, nicht nur wegen ihrer besseren Leistungsfähigkeit, sondern weil nur in einer Sozialen Marktwirtschaft auch die Rechte der Arbeitnehmer wirksam vertreten werden können. Wo weniger Freiheit, da auch weniger Tarifhoheit, da auch weniger Rechtewahrnehmung durch die Gewerkschaften.
Deshalb bedeutet Einschränkung der Sozialen Marktwirtschaft mehr als nur eine nachteilige Einwirkung auf den Wirtschaftsablauf. Einschränkung der Sozialen Marktwirtschaft ist Einschränkung der Freiheitsrechte jedes einzelnen in der Gesellschaft. Deshalb muß in der Grundfrage, wie wir die Arbeitslosigkeit bekämpfen können, die Grundsatzauseinandersetzung über diese Soziale Marktwirtschaft neu geführt werden.
Sie haben auf Ihrem Parteitag von Wirtschafts-, Sozial- und Strukturräten gesprochen. Sie wollen Investitionsmeldestellen, Meldestellen für offene Stellen, gezielte Branchenpolitik. Das sind alles Eingriffe in den Wirtschaftsablauf. Bis jetzt müssen wir nur von einer Bewährungsprobe der Marktwirtschaft sprechen. Wenn wir in den wirtschaftlichen Ablauf so eingriffen, dann könnten wir nicht mehr von der Bewährungsprobe, sondern müßten wir von einer Krise unserer Wirtschaftsordnung sprechen, aber beileibe nicht von einer Krise der Marktwirtschaft. Denn dort, wo sie Not leidet, da ist sie eingeschränkt, und wo man sie funktionieren läßt, da kann sie ihre Aufgaben erfüllen.