Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Politik, über die hier zu diskutieren ist und über die meine Kollegen Georg Leber und Horst Ehmke ihre Urteile abgegeben haben, ist unter dem Anspruch der geistigmoralischen Erneuerung angetreten. Nun tut j a gewiß geistig-moralische Erneuerung jedermann und jedem Volk jederzeit not. Für Christenmenschen sind Umkehr und Erneuerung Lebensprogramm.
Nur wer sich und sein Denken, Verhalten und Handeln in diesen Auftrag und Prozeß mit einbezieht, kann Umkehr und Erneuerung anderer mit bewirken. So hat sich auch der politische Anspruch geistig-moralischer Erneuerung, den der Herr Bundeskanzler erhebt, durch die Fähigkeit und Bereitschaft zu eigener Umkehr, zu Selbstkritik und Er-
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neuerung zu legitimieren. Der Selbstgerechte manipuliert nur. In doppeltem Sinn manipuliert, wer in der Attitüde dieses Appells nur leere Sprechblasen abläßt, die jeder mit beliebigen Inhalten füllen kann. Viele werden sie mit ihren Vorurteilen und Feindbildern füllen, die sie sich in der Selbstgerechtigkeit eines ansonsten hohlen Wir-Gefühls bestätigen lassen.
Wir mißtrauen den Semantikern aus dem Adenauer-Haus, die dem Herrn Dr. Kohl das mit der moralisch-geistigen Erneuerung eingegeben haben. Vieles dient da nur zur Abstützung von Feindbildern. Manche Elemente der Politik, über die heute früh zu reden war, sind gar nicht geistig, sondern ungeistig, sind gar nicht moralisch, sondern demoralisierend, nicht erneuernd, sondern restaurativ.
Wer wie Sie, Herr Dr. Kohl, „das blanke Ich im Wir aufgehen lassen" will, der muß sich auf die politische Qualität dieses Wir und auf seine Glaubwürdigkeit hin befragen lassen.
Zwei Fragen sind zu beantworten: Legitimiert er sich durch seine Fähigkeit zur Selbstkritik und zur eigenen Erneuerung? Und woraufhin soll denn geistig-moralisch erneuert werden? Ist das wenigstens in Umrissen bestimmbar?
Offenbar soll die Erneuerung — so die Reden des Bundeskanzlers — auf irgendeine Mitte hin geschehen — wieder nur so eine Worthülse zur beliebigen inhaltlichen Füllung. Gemeint ist wohl — ich habe aus Ihren Reden, Herr Dr. Kohl, bisher nichts anderes entnehmen können — jener der politischen Gesäßgeographie zugehörige Begriff von Mitte, die das jeweils dickste Gesäß meint besetzen zu dürfen. Da es nun aber zum Glück, sage ich, rechts von CDU und CSU irgendeine relevante politische Kraft nicht gibt, folgt aus dieser Besetzung des Topos Mitte durch Sie, Herr Dr. Kohl, logisch zwingend, daß neben ihr, der Union, eigentlich niemand mehr Platz hat, es sei denn, er ließe sich von vornherein auf die Position ein, Außenseiter zu sein.
Ausgerechnet der Herr Stoiber scheint bisher als einziger Unionspolitiker dieses logische Dilemma als solches erkannt zu haben, wenn er die Rest-FDP dazu drängt, in unserer Parteienkonfiguration jetzt gefälligst die Position rechtsaußen einzunehmen, was ja der Sache nach so ganz abwegig wohl nicht ist.
Tatsächlich benehmen sich CDU und CSU ja als Union und nicht so sehr als Partei, als das eigentlich Eine und Ganze. Im Dämmerlicht des kollektiven Bewußtseins und des Milieus der Unionsparteien sieht das so aus: Andersdenkende müßten eigentlich nicht sein. Jedenfalls sind sie Außenseiter und notfalls dazu zu machen.
Was brauchen die auch die Harmonie, die Union zu stören, die nicht nur Firmabezeichnung, sondern ein geistiger Topos ist. Eine Reflexion der Tatsache, daß in der Demokratie Wettbewerb zwischen mehreren Parteien bestehen muß, hat die Union nie geleistet.
Verschärft wird das alles noch durch das mit dem hohen C sich fast unvermeidbar einschleichende Denken in den Kategorien von Gut und Böse.
Da nimmt es dann nicht wunder, wenn gerade jene Unionspolitiker, die sich wie die Herren Blüm und Geißler — und wir sind ja heute früh bei Herrn Blüm Zeugen gewesen — besonders gern auf das hohe C berufen, die SPD mit ihrem ganz speziellen Haß überziehen. Ihnen wird ja durch das Leitbild von den Christen in den Parteien die Weltanschauung verunklart. Die psychischen Mechanismen sind bekannt.
Übrigens, Herr Kohl, damit ich auch das gleich sage: Natürlich werden Sie bis ans Ende Ihres Lebens mit der Legende auftreten, die SPD und — aus diesem Parlament heraus — die damalige Regierungsmehrheit hätten jemals gesagt: Wir brauchen die Opposition nicht. Sie wissen so gut wie ich, daß das auf ein einziges Gesetz bezogen war.
Wenn irgendwo in der Landschaft unserer politischen Kultur geistig-moralische Erneuerung not tut, dann wohl hier.
Sie hat in der Union auch unter Führung des derzeitigen Bundeskanzlers nicht stattgefunden. Im Gegenteil, die semantisch immer raffiniertere Ausstattung ihrer Feindbilder und die gepanzerte Selbstgerechtigkeit ihrer Kampagnen zeugen von zunehmender Verhärtung. Einstweilen und bis zum Beweis des Gegenteils wird man auch die Kampagne von der geistig-moralischen Erneuerung so einzuordnen haben.
Nun könnte ja „Mitte" auch jenes Postulat der politischen Kultur meinen, das zum politischen Urteil die Selbstbefreiung von Vorurteilen fordert, so gut das eben geht. Es tut mir leid: In den Verlautbarungen des Bundeskanzlers und seiner Partei zur geistig-moralischen Erneuerung habe ich noch nicht einmal Zwischentöne von Selbstkritik vernehmen können.
Angenommen, Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, meinten die Sache mit der Erblast wirklich ernst und nicht nur als ein derzeit taktisch notwendiges Zubehör Ihres Feindbildes: Hätte dann nicht wenigstens einmal die Selbstkritik aufscheinen müssen, daß Sie ja bei allen ausgabewirksamen Gesetzen mit dabei waren? Tatsächlich haben Sie, meist für Ihre Klientel, immer noch ein bißchen mehr gefordert und zugleich dem Staat die Einnahmen verweigert.
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Hätten wir nicht der damaligen Opposition laufend widerstanden — ich gehöre dem Finanzausschuß zehn Jahre an und weiß, wovon ich rede —, dann wären heute die Schulden wesentlich höher. Vergleichbares ließe sich in fast allen Bereichen der politischen Auseinandersetzung zeigen.
Bei alldem bleibt wahr und richtig: Geistig-moralische Erneuerung tut wie jederzeit so auch heute not: selbstkritisch und auf ein bestimmbares Ziel hin. Auf die Verfassung hin! Worauf hin denn sonst?
Unser Grundgesetz kennt nicht die Funktion des Oberpastors und des Vorphilosophierers der Nation. Sie steht dem Bundeskanzler einer pluralistischen freiheitlichen Republik nicht zu, Herr Dr. Kohl.
Ihr Vorgänger hat das immer gewußt, und Sie haben ihn immer attackiert, weil er sich entsprechend verhalten hat.
Der Bundeskanzler mag sich darin gefallen, durch harmonisierende Verklärung von Trivial-mythen einen gewissen Bedarf an Wir-Gefühlen zu decken. Wenn er dazu Feindbilder braucht, wenn durch sein „Seid nett zueinander" faktisch immer zu Lasten der Schwächeren Konflikte zugedeckt werden, wird's gefährlich.
Gefordert ist der Bundeskanzler hingegen zur Pflege und zur Vertiefung von Verfassungspatriotismus, der zusammenhalten könnte gerade jetzt, da sich die bisher vom materiellen Mehr und Mehr und Mehr her bewirkte Pseudoidentifikation mit unserem Staat von selbst erledigt. Herr Bundeskanzler, wenn Sie dazu mit uns und unserem Kanzlerkandidaten Hans-Jochen Vogel in einen Wettbewerb nicht nur der Worte, sondern auch der politischen Taten treten wollten, könnte daraus schon geistig-moralische Erneuerung werden, wie wir alle sie brauchen.
Bundeskanzler Helmut Schmidt hat diesen Verfassungspatriotismus durch seine Taten unter Beweis gestellt. Sprechblasen sind ihm nie unterlaufen.
Die Verfassung unseres Grundgesetzes ist nicht nur eine formale Ordnung; sie ist eine materiale, auf Werte gegründete und auf Wertentfaltung hin angelegte Ordnung. Die Betonung und Sicherung ihres festen Bestandes — Grundrechte, fundamentale Strukturprinzipien des Staates, Staatszielbestimmungen, das Verständnis vom in seiner Würde unantastbaren Menschen, aus dem alles andere folgt —, kurzum, die Pflege des demokratischen Grundkonsenses entscheidet — das steht außer Frage — über die Qualität der politischen Kultur und damit über die Tragfähigkeit unserer Ordnung auch in Zeiten ihrer besonderen Belastung. Dies steht freilich auch in dem Sinn außer Frage, daß ich nicht sehe, von welcher relevanten politischen und gesellschaftlichen Kraft her dieser Konsens ernsthaft in Frage gestellt wäre.
Zur politischen Unkultur im Lande gehört vielmehr, daß dem demokratischen Gegner wider besseres Wissen immer wieder die Aufkündigung dieses Grundkonsenses unterschoben wird. Auch Sie, Herr Bundeskanzler, haben es heute früh wieder getan. Eine gewisse Kampfpresse im Umkreis und Dunstkreis der Unionsparteien lebt geradezu davon, uns dies ohne Unterbrechung in unendlichen Kampagnen zu unterschieben. Gäbe es über Grundwerte keine Übereinstimmung der Parteien, wäre die freiheitliche Ordnung nicht lebensfähig. Gäbe es vollständige Übereinstimmung, könnte sich Demokratie nicht entfalten.
Von der faktischen Lage her scheint mir noch dringlicher als die Sicherung des Grundkonsenses die Betonung der Offenheit der Verfassung für unterschiedliche politische Gestaltungen und für den gesellschaftlichen und politischen Wandel zu sein. Die Offenheit der Konservativen dafür ist immer begrenzt gewesen. Auch derzeit wird über Werte-zerfall gejammert, wo sich tatsächlich Werthaltungen weiterentwickeln. Pluralität ist nicht lediglich als das faktisch Gegebene hinzunehmen und zu kanalisieren. Vielfalt ist die Sinngestalt des guten und richtigen Zusammenlebens, ist Chance auch des produktiven Wettbewerbs um bessere Lösungen. Der Parteienkampf darf nie, so sagt dazu ein Programmdokument der SPD, auf die — und sei es moralische — Vernichtung des Gegners abzielen. Jede Partei muß vielmehr ein Interesse daran haben, daß die konkurrierende Partei intakt bleibt. Dies ist die Grundlage für das legitime Bestreben jeder Partei, besser und stärker zu sein als die andere.
Damit rede ich nicht einem übertriebenen oder gar repressiven Harmoniedenken das Wort, wohl aber — ich wiederhole mich — der Produktivität unseres Parteienwettbewerbs. Jede unserer Parteien bleibt — ich weiß es — hinter diesem Anspruch des Miteinander im Gegeneinander und des Aufeinanderverwiesenseins der Parteien zurück, die CDU/CSU mit ihren ewigen Kampagnen zur moralischen Herabwürdigung des Gegners aber am meisten.
Meine Damen und Herren, natürlich könnten Sie fündig werden, wenn Sie Defizite der politischen Kultur auch bei der SPD aufsuchen würden. Hier steht aber Ihr Anspruch der geistig-moralischen Erneuerung zur Debatte.
Ich sage Ihnen, Sie werden keinen Sozialdemokraten finden, der fähig wäre, einen Wählerbrief wie den herauszugeben, den jetzt z. B. der Kollege Wörner herausgegeben hat, worin den Menschen gesagt wird: Wenn ihr für die CDU nicht Wahlspenden leistet und den Sieg der SPD nicht verhindert, so wird das verheerende Auswirkungen für euer ganz persönliches Schicksal haben. Können Sie sich vorstellen, daß ein Sozialdemokrat dazu fähig wäre?
Es ist von dem ganz persönlichen Schicksal jedes einzelnen die Rede.
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Herr Bundeskanzler, ich frage Sie: Wollen Sie bei der demokratischen Kultur Ihrer Partei mit der geistig-moralischen Erneuerung beginnen? Dort wäre es am dringendsten nötig. Es wäre an der Zeit. Oder werden Sie z. B. in der Medienpolitik mit dem genauen Gegenteil weitermachen, mit dem von Ihnen mit erschreckender Zielstrebigkeit betriebenen Abbau von Meinungsvielfalt? Gelegentlich sollte man sich — das gilt für uns alle — in die Haut auch des politischen Gegners hineindenken: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem andern zu! Täten Sie es, Herr Bundeskanzler, müßten Sie gewahr werden, daß Sie dabei sind, aus unserem freiheitlichen, weil pluralistischen Staat eine andere Republik zu machen.