Herr Bundeskanzler, Sie haben einmal in einem persönlichen Kreis gesagt — und mir hat das sehr gefallen —, manchmal hätten Sie, wenn Sie vom Rednerpult kämen und sich wieder auf Ihren Platz begäben, das Gefühl, Sie seien sehr hart gewesen und hätten etwas zu bereuen. Herr Bundeskanzler, ich habe das Gefühl, dieses Gefühl sollten Sie auch jetzt haben; Sie sollten das bereuen.
Ich werde darauf jedenfalls nicht weiter eingehen, denn ich habe es nicht gelernt, den politischen Gegner zu diffamieren; und das gilt auch für harte Debatten.
8608 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 138. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 14. Dezember 1982
Dr. h. c. Leber
Meine Damen und Herren, ich gehöre nun über 25 Jahre dem Deutschen Bundestag an und habe meine Heimat bis heute in den Gewerkschaften, aus denen ich komme. Daher möchte ich heute zu dem Teil der Politik etwas äußern, der das besondere Interesse von jemanden hat, der aus der Arbeiterschaft kommt.
Meine Damen und Herren, wir leben in einer Welt, die von einer schweren Wirtschaftskrise geschüttelt wird. Es gibt kaum ein Land in der Welt, das von der Krise ausgenommen ist. Diese Krise rüttelt in allen Erdteilen, in allen Himmelsrichtungen an den Völkern und hat ihre Wirkungen bis in viele Bereiche des individuellen Lebens der Bürger, der Menschen in der Welt hinein.
Als die CDU noch in der Opposition war, hat sie die Existenz dieser Krise nicht zugegeben — wenn es doch geschah, wurde die Krise verniedlicht —, und es war ihr wichtiger, den Eindruck zu erwekken, die Regierung hier im Lande sei für die Krise verantwortlich.
Nun ist die Opposition Regierung geworden, und sie verhält sich so, als hätte sie auch jetzt noch immer nicht erkannt, wo ein großer Teil der Ursachen für die heutigen Probleme liegt. Sie lebt von Schuldzuweisungen an ihre Vorgänger; der Herr Bundeskanzler hat das auch heute in dieser Debatte wieder ausgiebig getan.
Das Wort vom „Saustall" ist schon sehr früh gefallen, und die „schlimme Erblast", die die neue Regierung übernommen habe, wird immer noch hoch in Ehren gehalten und in immer neuen Farben hochstilisiert.
Eigentlich müßte man annehmen, daß der neue Bundeskanzler nun das klarer sieht, was in der Welt vorgeht, in die er und wir eingebettet sind. Herr Bundeskanzler, wie müßten wir dann wohl all die Länder bezeichnen, in denen Sie seit Ihrer Amtsübernahme als Gast gewesen sind? Welches Charakteristikum müßten wir wohl für diese Länder wählen, wenn das Land, das Sie nun regieren, dessen Bundeskanzler Sie sind, Ihnen als ein Saustall hinterlassen worden wäre?
Herr Bundeskanzler, wie müßten wir wohl die Schweiz bezeichnen, deren Verschuldung pro Kopf bis zu Ihrem Regierungsantritt höher war als die Verschuldung in der Bundesrepublik pro Kopf? Was, Herr Bundeskanzler, würden Sie wohl als Kennzeichnung vorschlagen, um die finanziellen Probleme, die ökonomischen Sorgen und die Arbeitslosenraten zu charakterisieren, von denen die Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien, Frankreich, Italien oder Dänemark — das sind die Länder, in denen Sie bis jetzt waren — geplagt werden?
Wenn unser Land ein halb bankrotter Saustall wäre, wenn es so wäre, daß diese Kennzeichnung schon auf uns zutrifft, würden wir einem Bündnis angehören, das eine Gemeinschaft von übelriechenden Sauställen wäre, eine Gemeinschaft, in der wahrscheinlich nicht ein einziges Land verteidigenswert wäre!
Herr Bundeskanzler, Sie müßten fast schon in Ihrer Nase spüren, wie schlecht es in diesen Ländern riechen würde, wenn schon die Lage unseres Landes solche Einschätzungen verdienen würde.
Ich gehe aber davon aus, daß das nicht so ist und daß Sie deshalb auch nichts in Ihrer Nase spüren können, weil Sie in diesen Ländern nicht gefragt werden, warum es bei Ihnen zu Hause so viel schlechter ist als dort, sondern in der Regel gefragt werden, wie Sie es wohl machen, daß es hier in Deutschland besser ist als in all den Ländern, die Sie bis jetzt besucht haben.
Herr Bundeskanzler, damit frage ich auch, wann Sie und Ihre Regierung aufhören werden, in Wirklichkeit — ohne es expressis verbis zu wollen — den Menschen in der Bundesrepublik Angst zu machen und ihnen Zuversicht und Mut zu nehmen, die man braucht, wenn man wirklich Krisen bewältigen will. Wann endlich werden Sie vor den Deutschen Bundestag treten und im Parlament und in der Öffentlichkeit sagen, daß wir trotz vieler Probleme, die es auch in unserem Lande gibt, und trotz mancher Sorgen, die wir haben, auf unser Land — so wie es ist, mit allen Sorgen und Nöten, die wir haben — stolz sein können?
Oder, Herr Bundeskanzler, wollen Sie das jetzt vielleicht deshalb noch nicht zugeben, weil Sie erst einmal bis zum 6. März abwarten wollen, um bis dahin von dem zu leben und zu profitieren, was Ihnen vielleicht faktisch bis an den Wahltag helfen könnte?
Wenn Sie vor der deutschen Öffentlichkeit zugeben könnten, wie die Lage unseres Landes im Vergleich zu allen anderen entwickelten Ländern wirklich ist, dann könnten Sie offen und ernsthaft hier und überall über die Sorgen und über die Wunden reden, die es auch bei uns gibt, und auch darüber, daß es Opfer kostet, die Probleme zu lösen, vor denen auch wir stehen. Am Anfang, Herr Bundeskanzler, sollte die Wahrheit stehen und nicht die Taktik.
Herr Bundeskanzler, Sie haben auch in Ihrer heutigen Rede die Weltwirtschaftskrise als Ursache für unsere Lage nicht ein einziges Mal erwähnt. Sie haben gesagt:
Unser Land ist in diese verhängnisvolle Situation gekommen, weil der Staat überfordert und
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dadurch seine finanzielle Grundlage erschüttert wurde, weil soziale Gerechtigkeit mit staatlicher Betreuung verwechselt wurde und weil die Belastbarkeit der Wirtschaft im Übermaß erprobt wurde.
Einen anderen Grund für die Krise haben Sie nicht genannt, Herr Bundeskanzler. Diese Gründe allein sind falsch, wenn Sie auf ihnen allein beharren. Dann täuschen Sie die Menschen in unserem Lande über die wirklichen Ursachen dieser Krise.
Richtig wäre gewesen, wenn Sie gesagt hätten — in Ihrer Sprache —: Die Wirkungen einer tiefgreifenden Weltwirtschaftskrise haben nun auch dieses unser Land erreicht.
Die Bekämpfung dieser Krise ist in unserem Lande auch deshalb besonders schwer, weil wir keine Reserven haben und weil wir wenig Spielraum haben, den wir in den Jahren des Wachstums voll ausgeschöpft haben und der uns nun zur Bekämpfung einer Krise nicht mehr zur Verfügung steht.
— Hören Sie bitte noch zu. Ich sage alles, auch das, was unbequem ist. — Aber dazu sind Sie wohl nicht bereit und vielleicht auch nicht fähig, weil Sie sich von der fortwährenden Schuldzuweisung an die Sozialdemokraten mehr versprechen als von einem Konzept, mit dem Sie den Problemen, die es in unserem Land gibt, wirklich gerecht werden können.
Übrigens, Herr Bundeskanzler, wenn das vor unserem Volke so zurecht gerückt würde, wäre das für viele in unserem Lande nicht einmal etwas Neues. Denn es gibt viele, die über die Grenzen hinaussehen können, und es gibt viele, die die Welt kennen und die dann, wenn sie außerhalb unserer Grenzen sind, stolz sind auf das Land, aus dem sie kommen und das Sie hier immer so schlecht machen.
— Denken Sie doch bloß daran, was in der Rede heute morgen gesagt worden ist: die desperate, bankrotte Situation, die es hier gibt.
Wenn Sie es nicht tun, Herr Bundeskanzler, wenn Sie ein wichtiges Faktum ungeklärt bestehenlassen, dann dürfen Sie auch nicht, wie Sie es am Ende Ihrer Rede heute getan haben, an Gemeinsamkeit und Solidarität auch mit den Sozialdemokraten appellieren. Sie haben es in der Hand, ob die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, indem Sie die Diffamierungen aufgeben. Dann erst entsteht eine Lage, in der wir mit Ihnen zusammenarbeiten können.
Herr Bundeskanzler — ich will j a auch mit Ratschlägen helfen —, wenn Sie das nicht bald tun,
dann werden Sie sich bald nachhaltig selber das Konto an Schuld aufrechnen lassen müssen, das seit dem 1. Oktober, seit Sie Regierungsverantwortung tragen, entstanden ist und für das Sie verantwortlich sind.
Meine Damen und Herren, noch ein Punkt liegt mir am Herzen. Eine wichtige Ursache kommt von draußen; wir müssen aber auch redlich und offen über das reden, was in unserem Lande geschehen ist und was dazu beigetragen hat, daß bestimmte Probleme entstanden sind. Wir müssen sagen, was wirklich ist, um die Verwirrung, die es bei vielen Bürgern gibt, zu beseitigen.
Ich will ein einfaches Beispiel nennen: Viele Rentner sagen uns — wahrscheinlich uns allen —: Ich habe doch Beiträge gezahlt; deshalb habe ich auch Anspruch auf meine Rente. — Das ist gewiß wahr. Aber daß die Höhe der Rente, die dieser Rentner erhält, sich nicht aus den Beiträgen errechnet, die er vor Jahrzehnten einmal gezahlt hat, als er einen viel niedrigeren Lohn hatte, sondern daß die Rente, die er heute erhält, nach dem höheren Einkommen bemessen wird, das ein anderer, der heute die gleiche Arbeit verrichtet wie er, nach einem Einkommen, das dieser jetzt verdient, das ist vielen Rentnern nicht klar. Vielen Rentnern ist daher auch nicht klar, daß die Renten, die sie jetzt erhalten, aus den Beiträgen finanziert werden, die heute von denen geleistet werden, die noch heute in Arbeit sind.
Weil das für viele nicht klar ist, verstehen viele auch nicht, daß jetzt über die Renten gesprochen wird.
Es wird jetzt über die Renten gesprochen, weil die Löhne von heute nicht mehr steigen, sondern weil im Gegenteil die effektiven Einkommen zurückgehen und weil die Nominallöhne durch den Fortfall von Überstunden, durch die Absenkung von Akkordverdiensten und durch die Streichung von übertariflichen Leistungen sinken. Dies ist vielen nicht geläufig.
Vielen ist auch nicht deutlich genug bewußt, daß wir in der Sozialpolitik längst vom Versicherungsprinzip — bei dem sich der eigene Anspruch nach dem eigenen Beitrag bemißt — abgegangen sind und daß wir längst zum Umlageprinzip übergegangen sind — und das nicht erst seit heute, sondern in der Rentenversicherung spätestens seit der Rentenreform von 1957.
Das Mehr an Rente heute wird aus dem Mehr an Einkommen heute geschöpft. Wenn man das den Rentnern nicht richtig erklärt, sondern es noch vernebelt, wie es geschieht, dann verstehen sie diese Zusammenhänge nicht. Wenn man es ihnen aber richtig erklärt, statt billige Vorwürfe zu machen, frühere Regierungen hätten den Rentnern mehr ge-
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geben, als zulässig gewesen sei, dann müssen die Rentner gegenüber allem mißtrauisch werden.
Wer das nicht klärt, sondern Vorwürfe macht, verwirrt die Rentner. Wir brauchen Klarheit, gerade in dieser Phase.
Das, was ich in bezug auf die Rentner bei dieser Gelegenheit beispielhaft gemeint habe, möchte ich aber noch etwas grundsätzlicher betrachten.
— Von Ihnen erwarte ich keine konstruktiven Beiträge.
Im Alten Testament gibt es eine schöne, nicht unwichtige Geschichte von Josef in Ägypten. — Ich komme jetzt auf einen ganz schwierigen Punkt zu sprechen; da sollten Sie alle nachdenken und nicht dumme Zwischenrufe machen. —
Der König hatte einen Traum. Der Josef wurde gerufen, ihn zu deuten. Er hat ihn so gedeutet: Das Land wird sieben fette Jahre haben; den fetten werden sieben magere folgen;
der König muß in den fetten Jahren Scheunen bauen, um den Überfluß — heute würde man sagen: das Wachstum — darin aufzuspeichern, damit in den mageren Jahren keine Not über das Volk kommt.
Meine Damen und Herren, wir haben nicht sieben, sondern 27 fette Jahre gehabt. Das Ende war etwa das Jahr 1976.
— Sie wollen mir helfen; warten Sie ein bißchen ab, sparen Sie sich Kraft und Energie.
Wir alle zusammen, meine Damen und Herren, haben in diesen 27 fetten Jahren — mit einem zum Teil hohen jährlichen Wachstum — nicht eine einzige Scheune gebaut. Im Gegenteil, wir alle miteinander haben in jedem Jahr jede Mark, die wir dazu-gewonnen haben,
die uns zugewachsen ist,
in Leistungen für unser Volk umgesetzt.
Wir alle haben uns in einer Zeit, in der unsere Wirtschaft wuchs, soziale Sicherungen gegeben, die uns in die erste Gruppe der Welt gebracht haben, wenn die Welt danach bemessen würde. Sollen wir traurig sein, meine Damen und Herren, weil wir das, was uns durch unsere Arbeit zugewachsen ist, zu einem guten Teil auch denen gegeben haben, die Hilfe nötig haben? Ich bin deswegen nicht traurig, und ich bedaure überhaupt nicht, daß wir das getan haben.
Ein anderer Punkt. Wir haben Straßen gebaut — wir alle —, um einem motorisierten Volk die Wege zu geben, die es gewollt hat und die es auch gebraucht hat. Am 1. Dezember 1966 gab es in der Bundesrepublik Deutschland 3 200 km Autobahn. Am heutigen Tag sind es, wovon ich mich gestern überzeugt habe, 7 952 km. Sollen wir deshalb böse auf uns sein, weil es zwischen dem Ruhrgebiet und der Rhein-Main-Spitze nicht mehr eine Autobahn mit vier Spuren, sondern gegenwärtig 18 Autobahnspuren gibt und weil der Verkehr heute auf unseren Straßen besser als vor 15 Jahren fließt?
Dürfen wir darüber traurig sein und es beklagen, daß in der Auswirkung dieser und anderer Bemühungen z. B. auch die Zahl der Verkehrstoten, die damals 19 000 im Jahr betrug, trotz wachsender Motorbelastung auf 13 000 Verkehrstote im Jahr gesunken ist? Ich bin darüber nicht traurig, sondern ich bin darüber froh,
auch wenn ich weiß, daß das ganze Geld gekostet hat.
Wir haben für die Menschen Krankenhäuser gebaut, damit jeder einen Platz bekommen kann, wenn er krank geworden ist. Das war nötig in einem Land, das dem Menschen dort, wo es um sein Leben geht, helfen will. Das war nötig in einem Land, das Klassenschranken überwinden will. Gegen Klassenkampf polemisieren und gegen Klassenkampf reden ist etwas anderes, als die Ursachen für die Klassenunterschiede beseitigen. Das haben wir getan, und dafür haben wir Geld ausgegeben.
Und wir haben Schulen gebaut und Schulen gegründet, um den jungen Menschen gleiche Chancen für ihr Leben zu geben, unabhängig davon, ob ihre Eltern viel Geld oder wenig Geld haben.
Ich weiß, es gibt Leute, die das für übertrieben halten. Theodor Heuss hat in einem solchen Zusammenhang einmal gesagt: Die zähle ich dann nicht mit, wenn die dagegen sind. Ich weiß, es gibt viele, die das für übertrieben gehalten haben. Meine Freunde und ich gehören nicht dazu, und wir bereuen nicht, daß wir unserer Jugend auf diese Weise gleiche Startchancen gegeben haben.
Und wir sollten alle miteinander nicht bereuen und bedauern, weil es nicht eine einzige Partei war, die dafür die Verantwortung trägt, sondern weil wir das alle miteinander getan haben.
Das war auch keine Verschwendung, wie heute vielfach behauptet wird, sondern es ist den Men-
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schen zugute gekommen, und sie haben Vertrauen dabei gefaßt, Vertrauen auch zum demokratischen Staat und darauf, daß es in ihm gerecht zugeht; das ist eine Grundlage des Vertrauens für den Bürger im Staat. Wir sollten uns hier deswegen nicht gegenseitig anklagen: Das ist mit diesem Geld gemacht worden.
Das sage ich — jetzt füge ich etwas hinzu, was vielleicht nicht jedem gefällt —, obwohl auch ich weiß, daß es da so manches gibt, was nicht unbedingt lebensnotwendig ist. Vielleicht liegt das daran, daß ich ein bißchen zu konservativ bin.
Ich habe seit langem den Eindruck, daß man die Bundesrepublik von einem Satelliten aus ganz besonders gut vor allem daran erkennen könnte, daß es hier die meisten Sanatorien auf der Welt gibt. Ob so viele Sanatorien und so viele Kurhäuser nötig sind, kann man bezweifeln — ich tue es jedenfalls —,
besonders wenn man weiß, daß manch einer, der sich eine Kur nimmt, dann, wenn er sie verläßt, dort schon buchen läßt, daß er in zwei Jahren wiederkommt, weil es j a schon geregelt ist, wie man da hineinkommt.
— Ja, ja, Sie klatschen. Waren Sie dagegen? Das ist alles miteinander hier geschehen. Es soll sich doch keiner freisprechen.
Ich habe immer auch Zweifel gehabt, ob es denn wirklich notwendig ist, jedem Kind jedes Jahr jedes Schulbuch neu zu geben.
Mein Vater war Maurer. Ich war der Älteste. Ich habe ein Schulbuch bekommen, und das erste, was geschehen ist, war: Es mußte gut eingepackt werden, weil dahinter noch drei waren, die das auch noch gebrauchen mußten.
Ich halte es nicht für undenkbar, daß mit diesen Büchern etwas sparsamer umgegangen wird, damit die Kinder auch angehalten werden, sich etwas sparsamer zu verhalten, damit auch die jüngeren Brüder und die jüngeren Schwestern das Buch noch einmal verwenden. Das sind zwei einfache, kleine Beispiele, die weder Winter noch Sommer machen. Aber das verstehe ich unter dem, was an der Peripherie im Wachstum im Überfluß geschehen ist.
Aber auch wenn wir wissen, was an der Peripherie geschehen ist, darf uns dies nicht, wie es geschieht, verleiten, uns nicht ebenso ernst zu dem zu bekennen, was im Kern für die Menschen geschehen ist, was notwendig war und was auch viel Geld gekostet hat.
Es war doch so — denken Sie einmal darüber nach; wir sind ja alle schon einmal Regierung und Opposition gewesen —: Wenn die jeweilige Regierung eine Idee hatte, wenn sie etwas vorhatte, hat die jeweilige Opposition nie gebremst. Wie sollte sie denn auch? Die jeweilige Opposition hat immer mehr gefordert und ihre Truppen im Bundesrat nur unter der Bedingung zur Zustimmung ermächtigt, daß noch etwas daraufgesetzt worden ist. So ist es gewesen, als Sie hier in Bonn die Regierung stellten, und so ist es gewesen, als wir in den letzten 13 Jahren die Regierung gestellt haben.
Wer soll dann dem anderen Schuld vorwerfen? Wenn es hier Schuldige gibt, dann waren wir alle es, niemand anderes.
Ich möchte auf die Geschichte von Joseph im Alten Testament zurückkommen. Es geht um die Scheunen, die damals für die Not gebaut worden sind.
— Sie scheinen das Neue Testament lieber zu haben. Aber auch das Alte Testament enthält viele Weisheiten. Eine davon will ich ansprechen.
Meine Damen und Herren, ich will jetzt nicht von Scheunen, sondern ganz konkret von einer Scheune reden.
Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung betrugen 1949 6,5%. 1955 wurden sie auf 3% gekürzt. 1957 wurden sie auf 2% gesetzt. 1961 wurden sie auf null gesetzt. Sie wissen doch, wer damals hier regiert hat.
Das geschah in den fetten Jahren. Damit wurde eine Scheune, die wir hatten, bis auf das Fundament, bis auf die Grundmauern abgerissen — und das in einer Zeit, in der die CDU mit Konrad Adenauer, der doch gewiß ein bibelfester Mann war, mit absoluter Mehrheit unser Land regiert hat.
Alle waren zufrieden, die Unternehmer und die Arbeitnehmer, diese vor allem, weil sie weniger Beiträge zahlen mußten. Für die Unternehmer bedeutete dies weniger Kosten und für die Arbeitnehmer mehr Einkommen. Das hielt aber nicht. Die Beiträge wurden später wieder erhöht: 1962 auf 1,4 %, 1964 auf 1,3 %. Mit dem Geld der Arbeitslosenversicherung wurde dann, als die Beiträge auf 1,3 % festgesetzt wurden, kaum Arbeitslosenunterstützung gezahlt, denn Arbeitslose gab es damals nicht. Es wurden Aufgaben wie Umschulung und anderes finanziert. Dafür wurden die Mittel auch völlig ver-
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braucht. Von einer Reserve für Arbeitslosigkeit war in der Scheune also überhaupt keine Spur. Das ist geschehen, als Sie die absolute Mehrheit hatten, nicht gegen die Stimmen der Sozialdemokraten. Die Scheune wurde gemeinsam eingerissen.
Ich frage nur theoretisch: Was wäre wohl geschehen, meine Damen und Herren, wie stünde der Herr Kohl heute da, wenn wir die Bundesanstalt für Arbeit in den fetten Jahren nicht völlig trockengelegt hätten, sondern für magere Zeiten einen Beitrag von 2 % erhoben und ihn durchgehalten hätten? Das hätte theoretisch dazu geführt, daß wir aus diesen Beiträgen in der Scheune gegen Arbeitslosigkeit heute sicher viele, viele Milliarden zur Verfügung hätten, mit denen wir bei gar nicht geringer Arbeitslosigkeit viele Menschen über viele Jahre vor Not hätten bewahren können.
Meine Damen und Herren, ich bin das erste Mal auf diese Frage gestoßen, als wir uns 1967 um die Beseitigung einer Krise bemühen mußten. Die damalige Kiesinger/Brandt-Regierung mußte eine Rezession bekämpfen, die keine Weltkrise als Ursprung hatte, sondern zu Hause entstanden war. Die Regierung war illiquide, wie Sie wissen. Die Zahlungen waren eingestellt. Die Staatskassen konnten die Unternehmer nicht mehr bezahlen. Das ist bis jetzt in der gegenwärtigen Krise noch nicht der Fall gewesen. Die Staatskassen können den Bürgern gegenüber jede Pflicht erfüllen.
Um damals mit der Rezession fertig zu werden, mußte der Staat sich unverzüglich zusätzliche Mittel beschaffen, Mineralölpfennige und andere. Meine Damen und Herren, soviel Spatenstiche und erste Rammschläge, wie der damalige Verkehrsminister vornehmen mußte, werden einem Minister nie mehr zugemutet werden. Die Krise wurde bewältigt, und die vielen U-Bahnen, die S-Bahnen und die Stadtbahnen, die wir damals auf Grund gelegt haben, leisten heute längst für den Bürger ihren Dienst.
Ich weiß, das läßt sich nicht wiederholen. Ich weiß auch, daß die schöne Geschichte von Joseph im Alten Testament sich in einer modernen Industriegesellschaft überhaupt nicht verwirklichen läßt. Der demokratisch verfaßte Staat schafft es eben nicht, vor den Augen seiner Bürger solche Reserven zu bilden, solche Türme zu bauen und sie über längere Zeit unversehrt zu erhalten. Wirtschaftspolitisch und währungspolitisch wäre es auch nicht richtig, weil Geld, das man über längere Zeit in solchen Türmen hortet, sich anders verhält als Korn oder Weizen, wenn man sie für arme Zeiten in Speicher tut. Geld, das man in Türme legt und über längere Zeit dem Kreislauf entzieht, wirkt dann, wenn es wieder in den Kreislauf hineingepumpt wird, wie Geld, das neugedruckt ist, ohne daß dafür eine Dek-kung vorhanden ist.
Das ist damals, als es einmal einen „Juliusturm" gab, gründlich geklärt worden. Es gibt in der modernen Industriegesellschaft in Wirklichkeit also auch keinen vernünftigeren Weg, als die Deckung für die
Risiken, die es jeweils unter den Bedingungen gibt, unter denen man lebt, im Umlageverfahren zu suchen.
Wenn dieses Prinzip aber richtig ist, meine Damen und Herren, und wenn es von jeder Regierung, seit die Bundesrepublik besteht, so gehandhabt wurde, darf man prinzipiell auch keiner Regierung einen Vorwurf machen, wenn sie sich darauf beruft, weil sie die Folgen von Einbrüchen in der Beschäftigung abwehren muß. Das hat die Regierung der sozialliberalen Koalition getan, und auch die jetzige Regierung hat keinen anderen Weg. Aus diesem Grund erheben wir einen solchen Vorwurf auch nicht gegenüber der Regierung Kohl/Genscher.
Deshalb geht es in der jetzigen Auseinandersetzung nicht um das Ob, sondern um das Wie, nämlich darum, wie die Regierung einen solchen Weg geht.
Die vorherige Regierung unter Helmut Schmidt hat versucht, die Belastung, die auch damals notwendig war, gerecht und gleichmäßig über die gesamte Bevölkerung zu verteilen. Sie hat die Mittel, die sie brauchte, durch eine Mixtur von Einnahmen, Belastungen und Ausgabeverminderungen, die so gerecht wie möglich verteilt wurden, und durch Verschuldung — das letztere sind vertagte Einnahmen — sorgsam abgestimmt beschafft, um die Wirkungen der Arbeitslosigkeit für die Menschen zu mildern und gleichzeitig Arbeit zu schaffen, und der Weltwirtschaftskrise entgegenzuwirken versucht.
Was die heutige Opposition der heutigen Regierung zuerst vorwirft, ist die Tatsache, daß diese den eingetretenen Mangel im Umlageverfahren verteilt, daß sie den Bürger, der von seiner Arbeit lebt, und den, der nicht mehr arbeiten kann, ungleich stärker belastet, als sie andererseits den schont, der hohe Einkünfte aus seiner Arbeit oder hohe Einkünfte aus Kapitalbesitz hat. Wir werfen dieser Regierung vor, daß sie an den Wirkungen der Beschäftigungslosigkeit kuriert, statt die Ursachen dieser Beschäftigungslosigkeit anzupacken. Diese sind struktureller Art.
In Wirklichkeit, Herr Bundeskanzler, belasten Sie das Volk, und Sie decken damit vermutlich in der Tat nur ein Tuch über die Probleme, weil Sie dabei die Ursachen ungelöst lassen.
Der Regierung ist ebenso vorzuhalten: Sie strengt sich nicht genügend an, und sie zeigt nicht, daß sie die Wurzeln der Krise, soweit sie im Ausland liegen, energisch und nachhaltig bekämpft. Ihr Vorgänger, Herr Bundeskanzler, hat das getan. Dadurch wird man in der Welt nicht immer sehr beliebt, aber es ist wichtig für Deutschland, daß man einen solchen Weg geht, auch wenn das unbequem ist und man nicht beliebt wird.
Ihre Besuche im Ausland, Herr Bundeskanzler, sind für mein Gefühl zu harmonisch verlaufen.
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Aber in dem Zustand, in dem Sie sich befinden, brauchen Sie das vielleicht auch nicht zu bedauern, jedenfalls so lange nicht, wie Sie die Weltwirtschaftskrise und ihre Folgen für uns bisher aus parteitaktischen Gründen ausgeklammert haben und leugnen. Deshalb brauchen Sie dort mit den Leuten nicht über die Beseitigung zu reden.
Dafür, Herr Bundeskanzler, wird von Ihnen eines Tages Rechenschaft verlangt werden. Sie werden sich an den Folgen dessen, war Sie jetzt tun, nicht vorbeimogeln können.
Was die in Betracht kommenden Belastungen angeht: Wissen Sie eigentlich, meine Damen und Herren in der Bundesregierung, wie sehr das, was Sie den Menschen zumuten, in vielen Fällen wirkt, wenn es im Brennglas gebündelt auf sie zukommt? Haben Sie das einmal überschlagen? Ich glaube nicht. Ich würde sonst viele, die das hören, mit ernsteren Gesichtern sehen, als das jetzt der Fall ist.
Ich verkehre in vielen Gremien, auch in kirchlichen Bereichen, und ich weiß, daß die Menschen dort sehr ernst sind, wenn sie das Brennglas anlegen.
Wissen Sie eigentlich nicht, daß es ernsthafte Berechnungen gibt, nach denen alles gewissenhaft geprüft worden ist, was Sie diese Woche auf den Tisch legen? Wissen Sie nicht, daß nach diesen Berechnungen, wenn man alles zusammen nimmt — das muß man ja —, was aus den verschiedenen Ressorts der Regierung auf einen Arbeitnehmerhaushalt mit vier Kindern zukommt, eine fast existentielle Belastung dieser Familie entsteht?
Das, was der Arbeitsminister Blüm macht, kann man allein diskutieren. Das, was der Wohnungsbauminister macht, kann man allein diskutieren. Das, was der Familienminister macht, kann man allein diskutieren.
Das, was andere machen, kann man allein diskutieren. Aber wenn Sie alles, was wie ein Strom aus allen Ressorts kommt, auf diese Familie mit vier Kindern bündeln, fängt es dort vor Not an zu brennen.
Ist Ihnen denn völlig unbekannt, Herr Bundeskanzler — Sie tragen zuerst die Verantwortung dafür, und ich wende mich an niemand anders als an Sie —,
daß eine solche Familie, Eltern mit vier Kindern, nicht wegen dieser oder der anderen Belastungen, über die man alleine, für sich mit sich reden lassen kann — die auch mit sich darüber reden ließe —, sondern bei Addition aller Belastungen, die Sie den
Menschen in dieser Woche servieren, angefangen bei den Preissteigerungen, die es ja wohl gibt — die verordnen Sie nicht, die gibt es; eine Regierung muß doch berücksichtigen, daß es sie gibt, sie kann sie doch nicht ausklammern, insbesondere dann nicht, wenn einer kommt und sagt, Lohnerhöhungen müßten unterbleiben; dann muß man die Preissteigerungen erst recht einkalkulieren —,
über die Mehrwertsteuer, über die Mieten und über vieles andere bis hin zum BAföG, nach diesen Berechnungen eine Einkommensschmälerung, eine Einschränkung ihrer wirtschaftlichen Lage bis zu 30 % haben wird?
— Ich rechne Ihnen das gern vor.
— Sie kriegen das alles fein säuberlich vorgerechnet, wenn die einzelnen Haushalte beraten werden. Wenn die einzelnen Posten zur Debatte stehen, schreiben Sie sich das bitte, wenn Sie addieren können, untereinander und rechnen aus, was das für eine Familie mit vier Kindern ausmacht! Dann kommen Sie unter dem Strich zu dem Ergebnis, das ich Ihnen soeben gesagt habe.
Daß Sie im Subtrahieren gut sind — wenn es darum geht, anderen etwas abzuziehen —, haben Sie längst bewiesen. Das Addieren von Belastungen müssen Sie endlich auch einmal lernen.
— Weil ich nicht möchte, daß Sie auf das Ende meiner Rede länger als bis 13.15 Uhr warten müssen.
Wie wollen Sie das, Herr Bundeskanzler, was in den einzelnen Ressorts Ihrer Regierung zusammengebraut worden ist — ich halte Ihnen gerne zugute: Sie sind viel im Ausland gewesen, Sie hatten viel zu tun, so daß Sie das in der Addition vielleicht selber noch gar nicht übersehen —, vor den Menschen in unserem Lande vertreten?
— Weil es um die Addition geht, reden wir darüber auch nicht nur im Zusammenhang mit den einzelnen Haushalten der verschiedenen Ressorts, sondern wir reden darüber im Zusammenhang mit dem Kanzlerhaushalt. Das gehört zur politischen Gesamtverantwortung des Bundeskanzlers.
Wie wollen Sie, Herr Bundeskanzler, das vor allem vor den Kirchen verantworten, die von Ihnen christliche Familienpolitik fordern? Sie müssen doch spüren, wie es in den Kirchen schon kriselt,
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seit Sie mit dem Rasenmäher über fast alles herziehen lassen, was dort hochgehalten wird.
Sie können nur noch sagen, Sie wüßten das nicht genau. Warten Sie, das kommt dick über Sie, viel dicker, als Sie glauben.
— Ich weiß ja, das ist unbequem. Aber Demokraten erkennt man in der Regel am Zuhören, nicht nur am Reden. Das sollten Sie ein bißchen üben.
Ein Wort zur Beschäftigungslosigkeit! Sie wollen es ja besser machen als die alte Regierung. Das ist ein gutes Recht einer neuen Regierung, daß sie das behauptet.
Im Haushalt 1983, den Sie jetzt in dieser Woche hier vorlegen, steht herzlich wenig über die Schaffung neuer Arbeitsplätze, habe ich festgestellt.
In Ihrer Rede von heute haben Sie außer ein paar theoretischen Floskeln und der Bemerkung, es müßten neue Arbeitsplätze geschaffen werden, überhaupt kein konkretes Wort zu dem gesagt, was die Menschen draußen im Lande — in der Zwischenzeit zwei Millionen Menschen — am härtesten in ihrer Existenz betrifft — kein Wort.
Diesen Teil Ihrer Pflicht — —
— Natürlich verstehe ich was davon. Deshalb sage ich das ja gerade: weil er nichts gesagt hat.
Diesen Teil Ihrer Pflicht, Herr Bundeskanzler,
Menschen, die ohne Schuld keine Arbeit haben, Eröffnungen zu machen, indem die Regierung sich um Arbeit für sie bemüht und das sichtbar macht, damit sie auch glauben können, daß das ernsthaft geschieht, das hängt auch mit Vertrauen in den demokratischen Staat und seine Führung zusammen, daß der Mensch draußen sieht und erkennt, daß die Regierung sich um seine Sorgen, die er wirklich hat, ernsthaft bemüht.
Diese Pflicht, Herr Bundeskanzler, und diese Sorgen, die Sie haben, delegieren Sie in schöner Seelenruhe und in feierlichen und weihevollen Reden
auch heute hier wieder an die Marktwirtschaft mit ihren heilenden Kräften. Mir kommt es so vor, Sie empfehlen Kneippkuren da, wo Sie als Chirurg eigentlich das Skalpell ansetzen müssen, um Strukturprobleme zu beseitigen.
Damit bin ich bei einer heiligen Kuh. Ich will Ihnen offen sagen, wie ich als jemand, der seine Wurzeln in der Arbeiterschaft und in den Gewerkschaften hat, dazu stehe. Das wissen Sie aber auch. Ich habe die Regeln und das Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft immer für eine vernünftige und erfolgversprechende Art zu wirtschaften gehalten und habe dafür auch gestritten und habe das auch verteidigt, als das in den Reihen der Gewerkschaften in Anfangsstadien noch nicht so von allen gesehen wurde. Ich weiß auch, daß wir diesem Prinzip zur Wirtschaft vieles von unserem Fortschritt verdanken.
Was schlecht daran ist, das ist die Tatsache, daß sie hochstilisiert worden ist wie eine Religion, und jeder Zweifel daran, ob sie auch fähig ist, alle Probleme zu lösen, schon als eine Sünde wider dieses Dogma angesehen wird.
Wer die Marktwirtschaft bewahren und wer sie funktionsfähig erhalten will, der erweist ihr dann einen Dienst, wenn er ihr nichts zumutet, was sie nicht zu leisten vermag. In der Lage, in der wir sind, ist es nötiger denn je, gewissenhaft zu prüfen, was sie leisten kann und wozu sie fähig ist, und auch — und das ist noch wichtiger in der Gegenwart —, was sie nicht leisten kann und wozu sie nicht fähig ist. Sie ist jedenfalls kein Mittel, mit dem Regierung und Staat sich ihrer Verantwortung entziehen können.
Wer das doch tut, der schadet der Marktwirtschaft und ihrem Ruf, weil er eine an sich gute Art zu wirtschaften diskriminiert, weil er ihr etwas zumutet, was sie a priori überhaupt nicht zu leisten vermag. Das tut Ihre Regierung, Herr Bundeskanzler. Sie diskriminieren die Marktwirtschaft, weil Sie ihr Dinge zumuten, die sie nicht kann.
Das ist, wie Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika über die Arbeit vor noch nicht langer Zeit sagte, der primitive Kapitalismus, der auf dem Rükken der Menschen, die sich nicht wehren können, ausgetragen wird, statt sozialstaatliche Wege zu gehen und durch sie entsprechende Lösungen zu suchen. Ich möchte das voll unterstreichen.
— Ich kann ja nicht damit rechnen, daß Sie alle päpstlichen Enzykliken kennen. Sie meinen, das sei alles schon gemacht, wenn Sie sonntags mal in die Kirche gehen. Sie müssen auch mal hören, was der Papst sagt, meine Damen und Herren! Das ist manchmal sehr wertvoll.
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Das alles muß man dann auch noch vor Ort betrachten.
— Ich würde mir erst einmal einen Spiegel kaufen und hineingucken, lieber Freund.
Ich möchte das gerne noch etwas vor Ort erläutern, was ich meine. Es ist so schwer, Ihnen beizubringen, was man denkt, wenn man einer anderen Partei angehört.
— Meine Damen und Herren, ich meine das sehr ernst. — Wenn man die Probleme nimmt, die von außen kommen — ich nenne Ihnen jetzt einen Fall —, dann ist es nicht denkbar, daß der Ausfall an Arbeit, der dadurch entsteht, daß Brasilien eine Zementfabrik, die wir herstellen und liefern könnten, bei uns kaufen würde, es aber nicht kann, weil es von einer Wirtschaftskrise erfaßt ist, durch marktwirtschaftliche Regeln und unternehmerische Initiative hier im Lande so ausbalanciert werden könnte, daß diese Maschinenfabrik wieder Arbeit hätte. Das ist doch ein Unding.
Ein Unternehmer, dem man etwas anderes zumutet als das, was seiner unternehmerischen Interessenlage entspricht, der wird nicht innovieren; wenn der Unternehmer auf das einginge, was ihm zugemutet wird, würde er ruinieren, was er hat. Was tun Sie konkret, Herr Bundeskanzler, um diesem Unternehmer zu helfen, damit er seine Zementfabrik nach Brasilien liefern kann? Das ist eine Frage vor Ort.
Es gibt Länder, die tun etwas. Manches von dem, was in diesen Ländern getan wird, ist nicht nach unserem Gusto, auch nicht nach meinem. Aber diese Regierung tut überhaupt nichts, nicht einmal etwas, was gegen unseren Gusto geht. Sie läßt alles laufen.
Sie vertrauen dabei allein auf die selbstheilende Wirkung — ich hätte fast gesagt, von Wasser — in diesem Fall der Marktwirtschaft.
Ein zweites Beispiel, Herr Bundeskanzler. Die Mikroelektronik hält bei uns kräftig ihren Einzug. Sie gilt als ein neues Element des technischen Fortschritts, und sie wird hoch gelobt. Ich bin überzeugt, sie ist auch lobenswert. Sie haben in Ihrer Regierungserklärung mit keinem Wort diesen Vorgang, der in unserem Lande wahrscheinlich eine industrielle Revolution auslöst, erwähnt. Er steht nicht auf dem Papier, sondern er ist in unserem Lande im Gange. Wenn nichts geschieht, wenn nur Investitionen angereizt werden, dann ist es sehr gut möglich, daß diese neue Technologie in unserer Wirtschaft forciert eingeführt wird. Dann wird in Mikroelektronik investiert, um im Wettbewerb bestehen zu können, und es werden in Wirklichkeit Arbeitsplätze weginvestiert und wegrationalisiert. In Wirklichkeit werden am Ende des Prozesses Arbeitskräfte freigesetzt sein. Wie wollen Sie das in den Griff bekommen? Sie tun doch nichts?
Der technische Fortschritt produziert gegenwärtig mit staatlichen Anreizen zur Überwindung der Arbeitslosigkeit die zweite Generation der Krise. Die Arbeitslosen werden dann mit Sicherheit der Allgemeinheit als Abfall vor die Türe gekehrt werden.
Wer den Schwerpunkt so offensichtlich auf die Beschneidung sozialer Leistungen legt, der löst keine Strukturprobleme, ob sie auf dem Weltmarkt oder im heimischen Markt ihre Ursachen haben. Mit Sicherheit dämpft er aber die Nachfrage der Empfänger von Masseneinkommen und trägt damit zur Verstärkung der Krise bei.
Als unsere Wirtschaft im Wachstum war, hatten wir die Fragen der gerechten Verteilung des Wachstums zu beantworten. Wenn das Wachstum nachläßt, wenn es sich der Null nähert, wenn die Null gar unterspült wird und wenn das alles in der einen oder anderen Nuance längere Zeit anhält, wenn aus Strukturproblemen vorn Staat keine Schlüsse für Strukturpolitik gezogen werden, dann muß uns eine solche Zeit fast zwangsläufig an das Ende des sozialen Friedens und hinein in soziale Spannungen führen, die ihrerseits alles noch verschlimmern können und es wahrscheinlich auch verschlimmern müssen.
Ich sage als Gewerkschaftler, dessen öffentliches Wirken sich seinem Ende nähert: Ich habe Sorgen, daß unser Land auf dem Weg, den die Regierung jetzt begonnen hat zu gehen, unaufhaltsam in eine Entwicklung läuft, in deren Verlauf sich die Gewerkschaften dagegen stemmen müssen, daß keine Strukturpolitik gemacht wird und im Umlageverfahren Lasten über die Masse des einfachen Volkes gehäuft werden. Das führt zum offenen und tiefen Widerstand und zu heftigem Konflikt in der Gesellschaft und zu heftigen Auseinandersetzungen auch zwischen Regierung und Gewerkschaften.
Die Gewerkschaften können und dürfen nicht hinnehmen, daß die Empfänger kleiner Einkommen mit Opfern bedacht werden, die ihre Existenzbedingungen verändern, und ein anderer Teil verschont wird, der sogar verdienen soll, um zu investieren, und schließlich kein Ende der Arbeitslosigkeit, sondern ihre Verstärkung dabei herauskommt.
Herr Bundeskanzler, Sie dürfen es nicht so weit kommen lassen, daß die Gewerkschaften an die Wand gespielt werden — Sie sind schon dabei —
8616 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 138. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 14. Dezember 1982
Dr. h. c. Leber
und daß sie dann zum Prügelknaben der Nation gemacht werden. Das möchten einige.
— Reden Sie doch nicht so dumm daher, wenn über so etwas gesprochen wird!
Ohne die Gewerkschaften und ohne ihr Verantwortungsbewußtsein würden Sie wahrscheinlich gar nicht hier im Bundestag in einem Land sitzen, in dem es so gut geht. Sie sollten nicht darüber reden, wenn Sie nicht wissen, über was Sie reden.
Aber das zeigt ja, wo Sie stehen — Sie sitzen mitten in der CDU —, wenn Sie so über Gewerkschaften und die Sorgen von Arbeitnehmern reden. Das, was Sie hier zeigen, ist etwas anderes als das, was Sie in den nächsten Wochen den Wählern im Lande draußen vorgaukeln werden.
Ohne die Gewerkschaften und ohne das Verantwortungsbewußtsein, das sie so oft bewiesen haben, läßt sich keine Krise lösen, Herr Bundeskanzler. Das müßten Sie wissen. Sie können es nur mit den Gewerkschaften schaffen, aber nicht gegen sie und nicht ohne sie.
Und ich sage Ihnen: Sie können es auch nicht mit Männern in Ihrer Fraktion schaffen, die solche Zwischenrufe machen, wie sie eben hier gemacht wurden, aus denen viel Verachtung spricht.
In dieser Gefahr sind Sie, Herr Bundeskanzler. Ich warne Sie, auf diesem Weg, ohne Korrekturen und ohne Einsichten, weiterzugehen. Am Ende kann dabei in unserer immer noch jungen Demokratie mehr auf dem Spiel stehen — mehr.
Ich will Ihnen da ein Erlebnis erzählen. Ich habe mir 1968 viel Mühe gemacht, den Ursachen der damaligen Unruhen nachzugehen. Ich war zusammen mit Carlo Schmid in Paris. Denken Sie mal darüber nach! Ich habe dort gesehen, wie Hunderttausende von Menschen über die Champs Elysées zogen — de Gaulle war schon nicht mehr in Frankreich; er hatte seinen Freund in Baden aufgesucht; Pompidou hatte die Geschäfte übernommen —, die Menschen schrien: „Nieder mit der Regierung" und hatten die Fahne der Republik, ihre Fahne, die Trikolore in der Hand.
Hier habe ich dann einige Wochen später erlebt, daß nicht geschrien wurde „Nieder mit der Regierung", sondern die Fahne heruntergerissen und daraufgetreten wurde. — Als ich an einem Abend aus dem Verkehrsministerium nach Hause fuhr — es war 1969 — traf ich an einer Ampel, die auf Rot geschaltet war, eine Anzahl junger Leute, die wohl aus einem Seminar kamen. Sie hatten mich erkannt und machten ihre Spötteleien und ihre Witze über mich: „Na, Schorsch, Überstunden gemacht?" oder so etwas. Und dann ging einer vorne hin und spuckte auf den Stander. — Ich rate Ihnen: Denken wir einmal darüber nach! Wenn sie mich angespuckt hätten — na ja; wenn sie sich vor den Stander gestellt, ihre Fahne so wie auch die in Paris gehalten und „Weg mit der Regierung" geschrien hätten, dann wäre es richtig gewesen. Glauben Sie ja nicht, meine Damen und Herren, daß dieser junge demokratische Staat, von dem wir heute so sicher ausgehen, schon so gefestigt ist, daß er, ohne daß wir auch Sorge haben müßten, fähig ist, Probleme und Krisen durchzustehen!
Um so wichtiger ist es, daß gerade auch das Verhältnis zu den Gewerkschaften sauber gehalten wird und daß die nicht in eine falsche Position kommen.