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ID0903101900

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    6. Lorenz.: 1
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    Plenarprotokoll 9/31 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 31. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 9. April 1981 Inhalt: Bericht zur Lage der Nation in Verbindung mit Beratung des Antrags der Abgeordneten Lorenz, Baron von Wrangel, Jäger (Wangen), Graf Huyn, Sauer (Salzgitter), Böhm (Melsungen), Lintner, Werner, Frau Roitzsch, Lowack, Diepgen, Schwarz, Würzbach, von der Heydt Freiherr von Massenbach, Niegel und der Fraktion der CDU/ CSU Politische Häftlinge in den Haftanstalten der DDR — Drucksache 9/198 — Schmidt, Bundeskanzler 1541 B Dr. Zimmermann CDU/CSU 1549 B Dr. Vogel, Regierender Bürgermeister von Berlin 1555C Ronneburger FDP 1562 C Dr. von Weizsäcker CDU/CSU 1566 D Franke, Bundesminister BMB 1573 C Dr. Barzel CDU/CSU 1578 B Hoppe FDP 1586 A Dr. Ehmke SPD 1588 D Lorenz CDU/CSU 1593A Junghans SPD 1597 B Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Gesetzes zur Beschleunigung des Asyslverfahrens — Drucksache 9/221 — Frau Leithäuser, Senator der Freien und Hansestadt Hamburg 1600 B Dr. Bötsch CDU/CSU 1602 D Dr. Schöfberger SPD 1604 D Dr. Wendig FDP 1607 A Dr. de With, Parl. Staatssekretär BMJ . . 1609 C Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und FDP Ächtung der Todesstrafe — Drucksache 9/172 — Klein (Dieburg) SPD 1610 B Dr. Mertes (Gerolstein) CDU/CSU . . . 1612 A Bergerowski FDP 1613 B Beratung des Antrags der Abgeordneten Spranger, Dr. Miltner, Dr. Jentsch (Wiesbaden), Dr. Laufs, Dr. George, Neuhaus, Dr. Bötsch, Broll, Biehle, Linsmeier, Regenspurger und der Fraktion der CDU/CSU Prüfung der Notwendigkeit von Gesetzgebungsvorhaben — Drucksache 9/156 — Dr. Miltner CDU/CSU 1615A Dr. Kübler SPD 1616 B Wolfgramm (Göttingen) FDP 1618A Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Berufsbildung durch Planung und Forschung (Berufsbildungsförderungsgesetz) — Drucksache 9/279 — II Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. April 1981 Engholm, Bundesminister BMBW 1620 A Rossmanith CDU/CSU 1622 B Weinhofer SPD 1624 D Popp FDP 1628 B Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Schulte (Schwäbisch Gmünd), Windelen, Dr. Dollinger, Pfeffermann, Weirich, Neuhaus, Bühler (Bruchsal), Linsmeier, Maaß, Lintner, Dr. Riedl (München), Dr. Schwarz-Schilling, Dr. Köhler (Wolfsburg), Frau Dr. Wilms, Frau Dr. Wisniewski, Dr. Stavenhagen, Niegel, Röhner, Spilker, Dr. Bugl und der Fraktion der CDU/CSU Aufhebung des sogenannten Verkabelungsstopps der Bundesregierung — Drucksache 9/174 — in Verbindung mit Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und FDP Enquete-Kommission „Neue Informations- und Kommunikationstechniken" — Drucksachen 9/245, 9/314 — Weirich CDU/CSU 1630 C Paterna SPD 1632 D Dr. Hirsch FDP 1634 D Becker, Parl. Staatssekretär BMP . . . 1635 C Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 24. November 1977 über die Zustellung von Schriftstücken in Verwaltungssachen im Ausland und zu dem Europäischen Übereinkommen vom 15. März 1978 über die Erlangung von Auskünften und Beweisen in Verwaltungssachen im Ausland — Drucksache 9/68 — Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses — Drucksache 9/298 — 1636 B Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung des Europäischen Übereinkommens vom 24. November 1977 über die Zustellung von Schriftstücken in Verwaltungssachen im Ausland und des Europäischen Übereinkommens vom 15. März 1978 über die Erlangung von Auskünften und Beweisen in Verwaltungssachen im Ausland — Drucksache 9/69 — Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses — Drucksache 9/299 — 1636 C Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Wiener Abkommen vom 12. Juni 1973 über den Schutz typographischer Schriftzeichen und ihre internationale Hinterlegung (Schriftzeichengesetz) — Drucksache 9/65 — Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses — Drucksache 9/301 — Dr. Klejdzinski SPD 1636 D Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der in Genf am 13. Mai 1977 unterzeichneten Fassung des Abkommens von Nizza über die internationale Klassifikation von Waren und Dienstleistungen für die Eintragung von Marken — Drucksache 9/70 — Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses — Drucksache 9/302 — 1637 A Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes — Drucksache 9/246 — 1637 B Beratung der Sammelübersicht 9 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen — Drucksache 9/289 — 1637 B Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen Reichseigenes Grundstück Berlin 52 (Reinickendorf), Ollenhauerstraße 97/99; hier: Verkauf an das Land Berlin — Drucksachen 9/101, 9/261 — 1637 C Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. April 1981 III Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag einer Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2727/75 über die Gemeinsame Marktorganisation für Getreide — Drucksachen 9/108 Nr. 13, 9/274 — . . .1637 D Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag einer Richtlinie des Rates über die Durchsetzung von internationalen Normen für die Sicherheit im Seeverkehr und die Verhütung von Meeresverschmutzung in bezug auf den Schiffsverkehr in den Häfen der Gemeinschaft — Drucksachen 9/87, 9/300 — 1637 D Nächste Sitzung 1638 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . 1639* A Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. April 1981 1541 31. Sitzung Bonn, den 9. April 1981 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. van Aerssen * 9. 4. Dr. Ahrens ** 10. 4. Amrehn 10. 4. Brandt * 9. 4. Burger 10. 4. Dr. Enders ** 9. 4. Francke (Hamburg) 10. 4. Franke 10. 4. Dr. Geißler 10. 4. Gilges 9. 4. Haase (Fürth) 10. 4. Hauser (Krefeld) 10. 4. Herterich 10. 4. Hoffie 10. 4. Dr. Holtz ** 10. 4. Dr. Hubrig 10. 4. Jungmann 10. 4. Kiep 9. 4. Kleinert 10. 4. Korber 10. 4. Dr. Kreile 10. 4. * für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments ** für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates *** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Frau Krone-Appuhn 10. 4. Landré 10. 4. Lenzer ** 10. 4. Mahne 10. 4. Matthöfer 10. 4. Meinike (Oberhausen) 10. 4. Dr. Mitzscherling 10. 4. Dr. Müller ** 10. 4. Neuhaus 10. 4. Frau Noth 10. 4. Petersen *** 10. 4. Picard 10. 4. Pieroth 10. 4. Dr. Pohlmeier 9. 4. Schäfer (Mainz) 10. 4. Scheer 10. 4. Frau Schlei 10. 4. Schreiber (Solingen) 10. 4. Schröder (Wilhelminenhof) 10. 4. Schwarz 10. 4. Dr. Schwarz-Schilling 10. 4. Sick 10. 4. Dr. Freiherr Spies von Büllesheim ** 9. 4. Spilker 10. 4. Frau Dr. Timm 10. 4. Dr. Unland ** 10. 4. Dr. Vohrer ** 10. 4. Dr. von Weizsäcker 10. 4. Wischnewski 10. 4. Baron von Wrangel 10. 4.
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    Rede von Dr. Horst Ehmke


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei dieser Diskussion über die Lage der Nation zeigt sich erneut, wie richtig das Wort Gustav Heinemanns war, daß wir ein schwieriges Vaterland haben. Es mag außerhalb der Bundesrepublik oder außerhalb Deutschlands z. B. einiges Erstaunen erregen, daß der Bundeskanzler heute dieses Problem der Nation an Hand von Zitaten aus der Bundesrepublik
    und aus der DDR dargestellt hat. Ich glaube, daß dieses Problem der Nation für uns wie für alle Europäer, lange ein Problem bleiben wird, und ich bin der Meinung, wir sollten es nicht dadurch schwieriger machen, daß wir noch einmal eine doch eher gespenstische Debatte führen.
    Herr Kollege Zimmermann und Herr Kollege Barzel, wie oft wollen wir denn noch das wiederholen,



    Dr. Ehmke
    was über das Thema „Wiedervereinigung" gesagt worden ist? Der erste, der gesagt hat — und ich habe ihn dafür hier vor vielen Jahren gelobt —, daß man nicht von Wiedervereinigung im Sinne der Wiederherstellung des Deutschen Reiches von 1871 reden kann, war Franz Josef Strauß. Davon ist auch nichts zurückzunehmen. Ich komme auch nicht auf die alte Debatte darüber zurück, ob die Adenauer-Politik nun eigentlich der Wiedervereinigung gedient oder umgekehrt die Teilung Deutschlands mit vertieft hat. Es hat doch keinen Zweck — auch dann nicht, wenn man das so formvollendet macht wie Sie, Herr Kollege Barzel —, diese alten Themen ständig zu wiederholen.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Die zweite Frage: Gerade dann, wenn man versteht, daß die Zusammengehörigkeit der Nation, die Geschichte, die wir gemeinsam erlitten haben, ein Faktor ist, der über unser Land hinaus in die Zukunft wirkt, spielen, Herr Kollege Barzel, Menschenrechte sicher eine große Rolle. Aber ich sage: Auch diese Diskussion haben wir doch lange hinter uns. Wir haben Ihnen hier oft vorgehalten, daß wir nicht über Menschenrechte uneins sind, sondern daß Sie im Kalten Krieg 20 Jahre lang eine Politik gemacht haben, bei der Sie gegenüber der DDR das Transparent „Menschenrechte" hochgehalten haben, ohne irgend etwas zu ändern. Ich sehe heute, daß Sie seit diesen Debatten keine neuen Argumente hinzubekommen haben.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Und die Berufung des Kollegen von Weizsäcker auf Helsinki wäre natürlich sehr viel überzeugender, wenn er sich wenigstens an der Abstimmung darüber beteiligt hätte.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Ich glaube, daß beides, die Frage der Nation und die Frage der Menschenrechte, eine große Rolle spielt, aber das ist doch nicht der Gegenstand des Streits — beseitigen Sie doch endlich einmal diese sterilen Barrieren zwischen uns! —, sondern der Streit ging und geht darum, in welcher Form man dies in die Politik in Europa und in einen Prozeß der europäischen Wiederannäherung einbringen kann. Ich denke, bei diesem Thema sollten wir bleiben.
    De Gaulle ist seinerzeit sehr angegriffen worden, als er in bezug auf Westeuropa von einem „Europa der Vaterländer" gesprochen hat. Ich glaube, daß dieses Bild so angreifbar nicht war und daß es zusätzliches Gewicht gewinnt, wenn man unter „Europa" auch Osteuropa einbezieht. Und da gehören zu dieser Geschichte nun einmal ebenso wie der vom Kollegen Zimmermann mit Recht betonte polnische Nationalwille die Schwierigkeiten, die, Herr Zimmermann, die Deutschen mit ihrer Nationsbildung gehabt und über die wir hier auch schon oft gesprochen haben.
    Beide Elemente — die europäische Tradition der Nationen wie die der Menschenrechte — spielen in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus eine große Rolle. Hier ist über verschiedene Formen der Stabilisierung Osteuropas gesprochen worden.
    Es ist meine feste Überzeugung, daß auch die Sowjetunion die Situation in Osteuropa nicht anders stabilisieren kann als durch Reformen. Man kann mit Panzern keine Streiks brechen, geschweige denn die Produktion ankurbeln oder die Versorgung sichern. Man kann durch Panzer auch keine Investitionen ersetzen.
    Die Frage ist, ob wir alle zusammen etwas dazu beitragen können — das wäre dann eigentlich der Testfall für den Erfolg der Entspannungspolitik —, in Europa eine Situation zu schaffen, in der Reformen möglich sind, ohne daß eine der beiden Seiten glaubt, sich in ihrer Sicherheit bedroht fühlen zu müssen.
    Herr Kollege Barzel, daß die Sozialdemokraten in dieser Auseinandersetzung von den Kommunisten sehr viel ernster genommen werden als die Konservativen, liegt daran, daß wir eben nicht bei verbalen Erklärungen bleiben, sondern daß wir eine Politik treiben, die praktisch wirksam ist.
    Herr Kollege Barzel, jetzt komme ich einmal auf die alten Diskussionen zurück. Damals war Ihre Angst: Wenn Ihr das macht, dann werdet Ihr uns mit dem anstecken, was von drüben kommt. Sie haben gesagt: Wir müssen hier nein sagen, da gibt es gar nichts zu reden, das ist ein diktatorisches System. — Sie lachen. Sie haben früher gefordert, daß erst freie Wahlen abgehalten werden sollten, bevor man mit denen redet.

    (Dr. Barzel [CDU/CSU]: Mit Schumacher haben wir das gewollt!)

    Wir sagen dagegen: Die Stärke liegt auf unserer Seite. Wir brauchen keine Berührungsangst zu haben. — Herr Kollege Barzel, wer hat denn nun recht behalten? Wo sind denn nun die ideologischen, sozialen Erschütterungen in der Entspannungspolitik eingetreten? Im Osten oder im Westen? Wie sieht es denn in Polen und sonstwo im Ostblock einschließlich der Sowjetunion heute aus?

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Das heißt: Diese Politik, die keine großen Worte macht, sondern die in Tuchfühlung geht, die das Miteinander-Reden zum Ziel hat, ändert nicht die grundsätzlichen Machtverhältnisse — das sage ich nicht —, aber sie hat Wesentliches in der politischen, ideologischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West verändert.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Darum bin ich der Meinung, es wäre sehr viel besser, wir würden einmal von der Tatsache ausgehen, die doch unbestreitbar ist, daß die SED, aber auch die KPdSU zu Zeiten des Kalten Krieges bei ihrer Politik sehr viel ruhigere Zeiten gehabt haben, als sie sie heute nach zehn Jahren Entspannungspolitik haben.
    Nun hat aber — darauf müssen wir gemeinsam aufpassen — diese Betonung und dieses Beharren auf der deutschen Frage sowohl im Sinne der historischen Nation wie im Sinne der Demokratie und der Menschenrechte auch eine Bedeutung nach Westen. Es gibt im Westen auch Mißtrauen, übrigens nicht nur im Westen. Bei dem, was die DDR-Füh-



    Dr. Ehmke
    rung tut, darf man auch nicht vergessen, daß auch sie in ihren deutsch-deutschen Beziehungen sehr argwöhnisch daraufhin betrachtet wird, wie selbständig sie sich macht.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Das kann man nicht vergleichen!)

    — Ich vergleiche es nicht, aber ich vergesse es nicht. Ich vergesse auch nicht, wie Ulbricht zu seinem politischen Ende kam. Sie kennen die Rostocker Rede, die er damals gehalten hat, so gut wie ich.
    Im Westen kommt zunächst einmal die Frage: Wenn die Deutschen ihre eigenen Probleme betonen — die Gefahren im geteilten Land, die Waffen, die hier angehäuft sind, die Sondersituation in Berlin —, steckt dahinter nicht eine Art von Neutralismus? Ich bin der Meinung, das sollten Sie eher — —

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Unglaublich ist das!)

    — Wie bitte?

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Unglaublich ist das!)

    — Natürlich wird diese Frage gestellt. Lesen Sie z. B. keine französische Presse? — Die Frage kommt ja in Wellen immer wieder, nämlich ob die Deutschen im Grunde nicht doch aus dem westlichen Gefüge ausscheiden wollten. Ich bin der Meinung, sie sollten mithelfen, klarzustellen, daß es das bei kleinen Gruppen gibt, aber daß es bei den tragenden politischen Kräften der Bundesrepublik nicht der Fall ist.
    Bei der Wiederbewaffnung und bei Eintritt der Bundesrepublik in die NATO gab es diese Diskussion. Ich wiederhole nicht das Thema: Was wäre gewesen, wenn ...? Das kann keiner beweisen. Es ist Geschichte, es ist anders gemacht worden. Wir wissen heute: Die großen Fragen der Teilung Deutschlands, der Teilung Europas und der Teilung der Welt sind nur im weltpolitischen Rahmen zu lösen. Für mich heißt das heute, daß diese Fragen nur in Verhandlungen von Block zu Block zu lösen sind. Jede Idee, unser oder ein anderes Land würde seine Position durch eine Neutralität, durch ein Ausscheren verbessern, verkennt, daß die Möglichkeiten, in Verhandlungen zu einer Entspannung, zu einem Modus vivendi über den hinaus, den wir bereits erreicht haben, zu kommen, nur verschütten würde.
    Es gibt aber eine Frage, die noch nicht so klar beantwortet ist und über die wir auch selbst noch diskutieren: das ist die Frage der weltpolitischen Rolle der Bundesrepublik. Die Bundesrepublik ist inzwischen eine Mittelmacht von erheblichem ökonomischen und militärischen Gewicht geworden. Wir diskutieren das jetzt, etwa bei der Frage der Waffenexporte: Muß sich daraus nicht auch eine Änderung unserer Haltung ergeben? Ich bin der Meinung, daß in der Tat mit mehr Macht und mehr Gewicht auch die Verantwortung wächst. — Ich glaube, das ist unbestritten. — Aber der Streit geht darüber, wie wir diese gesteigerte Verantwortung wahrnehmen.
    Wenn Sie so tun, als ob das kein Problem sei, erinnere ich daran: Aus Ihren Reihen ist die Raketendebatte damit begonnen worden, daß Herr Kollege
    Wörner in Amerika gesagt hat, die Raketen sollten hier hingestellt werden, ohne daß man noch lange über Rüstungskontrollverhandlungen nachdenkt. Die Diskussion über die Sicherheit in der Golfregion ist von einzelnen von Ihnen mit der Forderung begonnen worden, wir sollten deutsche Soldaten an den Golf schicken.

    (Jäger [Wangen] [CDU/CSU] sowie weitere Abgeordnete der CDU/CSU: Das ist die Unwahrheit!)

    — Das ist die Wahrheit, ich gebe aber gerne zu, daß das Dregger-Interview hinterher zurückgenommen wurde.
    Ich sage, das ist das, worüber wir reden müssen und wo wir aufpassen müssen, Sie wie wir, daß die deutschen Überlegungen draußen richtig verstanden und berücksichtigt werden. Ich sehe dort Herrn Kollegen Mertes sitzen: Ich darf mich bei ihm bedanken, weil er diese deutsche Position in Princeton so klar, ruhig und unparteiisch dargelegt hat. Wir müssen alle dafür sorgen, daß unsere Umsicht und Zurückhaltung draußen verstanden werden, daß unsere Haltung in dieser Frage nicht als Drückebergerei mißinterpretiert werden kann.
    Vor allem unseren amerikanischen Freunden sage ich immer wieder, daß sie den demokratischen Aspekt dieser Sache nicht übersehen dürfen. Dies ist ein Land, das unter einem furchtbarem Regime, Hitler und Konzentrationslager, besiegt worden ist; ein Land, das dann geteilt worden ist. Wenn manchmal draußen der Eindruck entsteht, daß — etwa jetzt in der Friedensbewegung — manches arg idealistisch sei, dann muß man daran erinnern, daß die „Re-education" dieser Bundesrepublik nach dem Kriege auch arg idealistisch war.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Wenn manches heute nach dieser Seite ausschlägt — ich sage das auch zum Verständnis der Friedensbewegung —, dann liegt das natürlich auch daran, daß hierin eine Korrekturbewegung gegenüber der deutschen Geschichte zum Ausdruck kommt. Was waren denn die Lieblings-Antinomien des deutschen Konservatismus: deutsche Kultur gegen oberflächliche westliche Zivilisation, deutsche Gemeinschaft gegen utilitaristische westliche Gesellschaft, deutscher Staat gegen westliche Demokratie. Kollege Vogel hat Treitschke ganz zu Recht zitiert.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Sie sind ein schrecklicher Vereinfacher!)

    — Ich bin kein schrecklicher Vereinfacher, ich sage, daß es das gegeben hat und daß es jetzt einen Ausschlag in die andere Richtung gibt. Die pazifistischen Strömungen vor allem innerhalb der Evangelischen Kirche in der Bundesrepublik wären j a wohl auch nicht zu verstehen, wenn diese Kirche nicht eine so lange Tradition des Fahnen- und KanonenSegnens, der Verbindung von Thron und Altar gehabt hätte.

    (Beifall bei der SPD)

    Das muß sich bei uns erst noch einpendeln. Es ist
    eine unserer gemeinsamen Aufgaben, es nicht zu



    Dr. Ehmke
    solch extremen Ausschlägen nach der anderen Seite kommen zu lassen.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Das hatte sich doch eingependelt!)

    Ich will jetzt einen Satz von Kurt Schumacher zitieren, den ich nicht selbst gehört habe. Aber unser gemeinsam verehrter Kollege Carlo Schmid hat in der Einleitung zu Schumachers Schriften im ersten Band berichtet, wie er als junger Student Schumacher zum erstenmal gehört hat. Er beschreibt, wie dieser schwerkriegsbeschädigte Mann auf dem Rostrum stand. Plötzlich sei die eine Hand vorgeschnellt — Carlo Schmid schreibt: „wie eine Degenklinge, die nach einem Herzen zuckt" — und Schumacher sagte einen Satz, der Carlo Schmid für sein Leben beeindruckt hat und mich seit der Lektüre von Carlo Schmid auch: „Die Möglichkeiten der Demokratie in einem Volke sind proportional zu dem Maße der Selbstachtung, die dieses Volk für sich aufbringt und zu verteidigen bereit ist."

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Sehr gut!)

    Darin sind wir einig, und ich bin der Meinung, daß dies nicht nur nach innen gilt, sondern auch nach außen.

    (Zuruf des Abg. Dr. Kohl [CDU/CSU])

    Es gilt z. B., Herr Kollege Kohl — und Herr Mertes weiß, daß ich das auch im Ausland so sage, auch im Inland und auch auf SPD-Parteitagen —, gegenüber Beeinflussungsversuchen der Sowjetunion: Ein System, in dem die Bürger nicht die geringste Mitsprache darüber haben, ob Raketen aufgestellt werden oder nicht, kann bei uns mit seinen Beeinflussungsversuchen nicht sehr ernstgenommen werden, wenn wir unsere Entscheidungen auf diesem Gebiet zu treffen haben.

    (Beifall bei allen Fraktionen)

    Ich sage aber auch unseren amerikanischen Freunden, die noch dabei sind, ihre Politik neu zu formulieren: Auch hier gibt es Grenzen der deutschen Selbstachtung.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Dr. Kohl [CDU/CSU]: Das ist wahr!)

    Wir müssen unseren amerikanischen Freunden bei jeder Gelegenheit sagen, daß sie nicht durch unbedachte Äußerungen, die vielleicht bei ihnen in die Landschaft passen, hier den Eindruck erwecken, als ob wir nur eine Art westlicher Ausgabe von Satellit seien. Auch das gehört zur Selbstachtung.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Dr. Kohl [CDU/CSU]: Wenn aus der SPD nicht mehr käme als dieses Zitat, Amerika betreffend, hätten wir keine Probleme!)

    — Ich komme gleich noch darauf, Herr Kohl. — Ich bin der Meinung, daß das auch in bezug auf Berlin ganz wichtig ist. In Berlin hat sich doch beides gezeigt: Wir hätten die Stadt nicht halten können und könnten sie nicht halten ohne das Bündnis mit Amerika. Jeder, der meint, man könnte nun zurückkommen auf die Idee einer Abkopplung von Amerika und zu einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft — ich sehe, daß Herr Strauß das neuerdings wieder hochbringt, diesmal allerdings parallel zu linken Europa-Parlamentariern; es gibt ja nichts, was es nicht gibt, ich verfolge das mit Interesse —, der kann sich gerade an Berlin deutlich machen,

    (Zuruf des Abg. Kiep [CDU/CSU])

    daß dies eine Illusion ist. Das ist nicht eine Waffenfrage, das ist eine Frage der geostrategischen Position. Dieses Westeuropa als der Wurstzipfel am eurasischen Kontinent wird geopolitisch nie in der Lage sein, seine Sicherheit allein, ohne die Vereinigten Staaten, zu garantieren.
    Es bleibt auch dabei, daß die westliche Großmacht — darüber sind wir uns mit einigen unserer amerikanischen Freunde in Princetown einig gewesen — über das Bündnis hinaus — denn die NATO ist kein Großmacht-Ersatz — die Aufgaben hat: die Abschreckung durch eine strategische Nuklear-Streitmacht, den Schutz der Meere und die Verteidigung westlicher Interessen außerhalb des NATO-Bündnisses; dazu gehört Berlin.
    Aber Berlin zeigt auch, verehrte Kollegen, daß es damit allein nicht getan ist. Gerade Berlin beweist, daß zu diesem einen Bein — zu diesem Standbein, wie Herbert Wehner einmal gesagt hat — das zweite Bein der Entspannung kommen muß. Darüber besteht doch kein Streit, daß die Lage in Berlin heute, nach dem Viermächteabkommen, sehr viel sicherer und ruhiger ist, als sie es vorher war.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Nun verstehe ich, daß einige Leute bedauern — sie sind schon vom Kollegen Vogel apostrophiert worden —, daß Berlin aus den weltpolitischen Schlagzeilen heraus ist. Aber Spannung kann doch, auch wenn sie Schlagzeilen macht, nicht das sein, was wir unter Lebensqualität verstehen. Sie ist doch eher etwas, was uns davon fernhält. Die Frage ist daher: Findet Berlin in relativ ruhigen Zeiten seine eigene Selbstsicherheit? Das ist natürlich nicht von den außenpolitischen Bedingungen loszulösen. Daher unterstreiche ich, was Kollege Weizsäcker schon gesagt hat: Es ist gefährlich, wenn wir in Berlin „alternative" Stimmen hören, die Schutzmächte sollten nach Hause gehen. Wer das sagt, hat sich vorher nicht überlegt, was die weltpolitische Situation in Europa und in Berlin ist.

    (Allgemeiner Beifall)

    Aber für die Entspannung gilt das genauso. Auch auf sie kann nicht verzichtet werden.
    Nun haben die Kollegen Vogel und Weizsäcker hier über Berlin sehr unterschiedlich gesprochen, der eine konkret aus seiner Regierungserfahrung und -verantwortung heraus, der andere etwas mehr — —

    (Lachen bei der CDU/CSU — Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: In München meinen Sie!)




    Dr. Ehmke
    — Jochen Vogel, ich nehme an, Herr Stark, Sie lesen die Presse, ist der Regierende Bürgermeister von Berlin — und wird es übrigens auch bleiben.

    (Beifall bei der SPD — von der Heydt Freiherr von Massenbach [CDU/CSU]: Na, na, langsam! Das werden wir j a sehen! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Kollege Zimmermann hat heute schon mit der Frage der Minderheitsregierung Ihre eigene Skepsis deutlich gemacht. Ich sage aber auch im Berliner Wahlkampf: Egal, wie die Wahl ausgeht, so wie die Berliner Lage ist, sollten beide großen Parteien sich darauf einrichten, daß sie sich, in welcher Rolle sie sich auch immer nach der Wahl finden werden, beide noch dringend nötig haben werden, um Berlin wieder in Ordnung zu bringen.

    (Frau Berger [CDU/CSU]: Was soll das?)

    — Frau Berger, wollen Sie mir erzählen, daß die CDU in Berlin keine Probleme hat? Hat nicht auch Ihre Partei genau die Probleme, die ganz Berlin hat? Ich bin da nicht selbstgerecht; seien Sie es bitte auch nicht.
    Herr Kollege Vogel hat in großer Eindringlichkeit gegenüber dem Jugendprotest, der in die Friedensbewegung hineinreicht, seine Position dargelegt. Sehen Sie, da war ich enttäuscht, von Herrn Weizsäkker, der gern als Liberaler firmiert, keine Antwort zu hören.

    (Zuruf von der CDU/CSU)

    — Im Wahlkampf kommt jetzt doch nur, daß dies, was Vogel macht, mangelnde Stärke sei. Herr Zimmermann bringt dann den Sohn vom Polizeipräsidenten ins Spiel, damit die Infamie nicht fehle; alles wie gehabt! Ich könnte Ihnen einmal die Familiengeschichten der Terroristen erzählen; aber die kennen Sie j a auch selbst.
    Bezüglich der Friedensbewegung, die natürlich in ihrer Meinung weitergeht als ich — es wäre ja auch schlimm, wenn ich dafür ein bindender Maßstab wäre oder wenn Sie es wären, Herr Kollege Kohl —, bin ich für mehr Toleranz, zumal sich Herr von Weizsäcker doch im kirchlichen Bereich zu meiner großen Freude selber sehr stark engagiert.

    (Vorsitz: Vizepräsident Frau Renger)

    Was sollen denn Ihre Worte, wir übertrügen unsere Krise auf den Staat? Bei Ihnen ist sofort eine Krise da, wenn mal nicht alle strammstehen, wenn diskutiert wird, dann geht es schon — —

    (Widerspruch bei der CDU/CSU)

    — Natürlich ist das bei Ihnen so.

    (Dr. Kohl [CDU/CSU]: Das ist doch Schnee von vorgestern!)

    — Es ist in schwierigen Situationen immer wieder Ihr „Schnee", daß Sie auf solche Bewegungen — zum Teil anarchische Bewegung, zum Teil „bunte" Bewegung — immer wieder autoritär reagieren und damit die Spirale hochschrauben.

    (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ CSU)

    Ich warne Sie auch in Berlin vor einem. Auch da hat mich Herr von Weizsäcker enttäuscht, und der meist ruhige, ausgeglichene Kollege Mertes spricht sogar selbst davon: Das seien alles „Sozialisten" und „Pazifisten" und natürlich von Moskau ferngesteuert. — Verehrte Kollegen, die werden sich das sicher nicht entgehen lassen. Und Herr Mies von der DKP war natürlich mit dabei auf dem Bonner Marktplatz. Nur: Wer diese Diskussion nicht ernst nimmt, wer diese Fragen mit Verteufelung oder mit strammer Haltung zur Militärmacht, zu dem amerikanischen Verbündeten und mit Strammheit bezüglich der Staatsanwaltschaft zu beantworten sucht, wird das Gegenteil von dem erreichen, was in Berlin notwendig ist.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich kann nur sagen: ich freue mich, daß unser Freund Hans-Jochen Vogel jetzt Verantwortung in Berlin trägt, ein Mann, der beides zu verbinden weiß, Autorität in der Ausübung des staatlichen Amts und Augenmaß im Umgang mit kritischen Bürgern.

    (Beifall bei der SPD)

    Wenn ich mir das in der deutschlandpolitischen Perspektive ansehe, muß ich fragen: was soll dann unsere Antwort auf das SED-Regime sein? Eine Verteufelung all derer, die jetzt mit den drei Bundestagsparteien nicht mitmachen wollen? Eine Verteufelung all derer, die in SPD und FDP, vielleicht auch einmal in der Jungen Union — sie selbst hat das kritische Bewußtsein j a noch nicht erreicht — schwierige Fragen stellen? Oder werden wir uns nicht, um zu zeigen, was Demokratie in der Diskussion leisten kann und warum Toleranz gerade auch gegenüber dem Andersdenkenden ein Element der Stärke ist, gerade in Berlin um sorgfältige, ruhige und faire Diskussionen sogar mit solchen Strömungen bemühen müssen, die wir für die Stabilität des Ganzen für bedenklich halten? Das scheint mir die eigentliche Aufgabe zu sein.

    (Beifall bei der SPD)

    Herr Kollege Kohl, ich übersehe nicht die Probleme, die SPD und FDP haben. Wir hatten sie schon öfter. Wir hatten sie auch in APO-Zeiten und wir haben sie durchgestanden. Wir werden auch diese Diskussion durchstehen.

    (Immer [Altenkirchen] [SPD]: Sehr richtig!)

    Aber in der Arbeitsteilung zwischen den beiden großen Parteien wäre es mir viel interessanter, wenn Sie, statt mit dem Finger auf die SPD zu zeigen, die sich dieser gesellschaftlichen Diskussion öffnet, uns und den Menschen draußen einmal erklärten, wie es eigentlich kommt, daß von der gesellschaftlichen Diskussion in diesem Lande viele Themen, ob das nun die Ökologie ist — ich erinnere an das Schicksal von Herrn Gruhl — oder ob das die Atomwaffen sind, ihren Weg in die CDU nicht finden. Man hat den Eindruck: Zwischen dieser Gesellschaft und Ihrer Partei liegt eine Art Folie, die die Berührung verhindert. Vielleicht gibt es eine Erklärung dafür; es wäre interessant, sie von Ihnen zu hören.



    Dr. Ehmke
    Ich unterschätze nicht die Protestbewegung, die voraussichtliche Härte und die Länge der Auseinandersetzung. Ich weiß auch, daß sie im wesentlichen von der Koalition getragen werden muß. Das ist nicht ihre Schuld. Aber daß Sie dieses Nichtberührtsein von den Angsten und Sorgen der Menschen draußen für ein Element der Stärke halten,

    (Dr. Barzel [CDU/CSU]: Das ist eine Unterstellung, Herr Ehmke!)

    ist einer der großen Selbsttäuschungen Ihrer Partei.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — von der Heydt Freiherr von Massenbach [CDU/ CSU]: Ganz schwach, Herr Ehmke!)



Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat Herr Abgeordneter Lorenz.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Peter Lorenz


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich war eigentlich sehr gespannt, was ein so großer Mann wie Professor Ehmke, stellvertretender Fraktionsvorsitzender, als erster Redner seiner Fraktion — bisher hatten ja der Herr Bundeskanzler und der Herr Regierende Bürgermeister Vogel gesprochen — hier nun zur Lage der Nation sagt. Ich muß sagen: Ich bin sehr enttäuscht. Herr Ehmke, Sie haben eigentlich überhaupt nicht zur Lage der Nation gesprochen, sondern mehr zur Lage in der SPD und in der FDP.

    (Beifall bei der CDU/CSU) Mir tut es leid.


    (Immer [Altenkirchen] [SPD]: Wer hat dir das denn aufgeschrieben?)

    Dabei möchte ich einmal daran erinnern, daß wir uns über die Lage der Nation im geteilten Deutschland unterhalten. Seit mehreren Jahren schon hält es die Bundesregierung für angebracht, das in der Überschrift ihres Berichts nicht mehr zu erwähnen. Ich möchte gern einmal fragen: Warum eigentlich nicht? Ist es Rücksichtnahme auf irgendwelche Empfindlichkeiten jenseits der innerdeutschen Grenze oder die Befürchtung, daß eine ausdrückliche Bezugnahme auf das geteilte Deutschland nicht so recht in die Entspannungslandschaft paßt, oder will man nicht mehr vom geteilten Deutschland reden, sondern nur noch von den — wie man immer sagt — beiden deutschen Staaten ausgehen wollen?
    Meine Damen und Herren, tun Sie das bitte nicht als Begriffsklauberei ab; denn bekanntlich wird doch mit Begriffen Politik gemacht.

    (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

    Hier ist heute schon oft gesagt worden, daß, wenn es nach Herrn Gaus ginge, wir uns heute auch gar nicht einmal mehr über die deutsche Nation unterhalten dürften. Es geht doch hier nicht um eine Fortschreibung einer allgemeinen Regierungserklärung, sondern es geht um den Bericht zur Lage der Nation, der einmal im Jahr gegeben wird. Hüten wir uns davor, das Besondere dieser Diskussion undeutlich werden zu lassen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die politische Lage, wie sie zwischen den beiden Staaten im geteilten Deutschland entstanden ist, ist nach unserer Auffassung nicht nur ein Betriebsunfall, wie das die Koalition in manchen Debattenbeiträgen hier zu meinen scheint, sondern es ist eine Situation, die zu größter Besorgnis Anlaß gibt.
    Die verschärfte Abgrenzungspolitik der SED hat die Lage in unserem geteilten Land wieder frostig werden lassen, und das, Herr Bundeskanzler, ist nicht nur ein Rückschritt, sondern das ist nach unserer Meinung ein schwerer Rückschlag Ihrer Politik. Der Grundlagenvertrag und andere innerdeutsche Abkommen werden von der anderen Seite mißachtet, inhaltlich verdreht oder — um es mit den Worten von Egon Bahr zu sagen — schrecklich durchlöchert.
    Nun wäre es leicht, nachzuweisen, daß die CDU/ CSU vieles von dieser fatalen Entwicklung warnend vorausgesehen und damit leider auch recht gehabt hat. Aber es geht uns nicht um Rechthaberei, es geht uns darum, die menschlichen Kontakte im geteilten Deutschland, die heute sehr gefährdet sind, gegen alle Abgrenzungsversuche der DDR-Machthaber zu verteidigen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Auch wir werden dazu beitragen, daß der Abgrenzungspolitik der anderen Seite keine freiwillige Abgrenzung auf unserer Seite entgegengesetzt wird.

    (Dr. Barzel [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

    Das bedeutet aber nicht, daß wir bereit wären, die destruktive Politik der SED einfach hinzunehmen. Wir sind der Auffassung, daß flexible Reaktionsmöglichkeiten gefunden werden müssen, die auch in angemessener Weise der DDR in Aussicht gestellt und notfalls auch angewendet werden müssen.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

    Das betrifft sowohl wirtschaftliche wie auch finanzielle Maßnahmen und ebenso gegebenenfalls Handlungsmöglichkeiten auf internationaler Ebene. Um nicht mißverstanden zu werden: Wir reden keiner, wie immer gearteten, Vergeltungspolitik das Wort; denn die würde natürlich den innerdeutschen Beziehungen nicht nützen, sondern nur schaden. Aber, meine Damen und Herren, wir wollen eine Politik, die sich nicht immer wieder den Plänen der SED ausliefert,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    die nicht die eigene Handlungsunfähigkeit sozusagen zur Maxime erhebt, sondern die aktiv und — wenn es sein muß — auch offensiv unsere deutschlandpolitischen Interessen betont und auch zu einem bestimmenden Faktor der innerdeutschen Verhandlungen macht.

    (Immer [Altenkirchen] [SPD]: Werden Sie mal konkret!)

    — Meine Damen und Herren, Sie wundern sich darüber. Wir reden doch in den letzten Monaten immer nur von Honeckers Plänen — der will den Grundvertrag nachbessern, die Staatsangehörigkeit ändern — oder wir reden von Honeckers Handlungen, nämlich bezüglich der Erhöhung des Zwangsumtauschs,



    Lorenz
    der Reglementierung von Journalisten. Wir wollen, daß im innerdeutschen Gespräch von unseren, den Vorlagen und Initiativen der Bundesrepublik Deutschland so geredet wird, daß sich auch der Osten damit auseinandersetzen muß. Das ist unser Ziel.

    (Immer [Altenkirchen] [SPD]: Machen Sie mal einen Vorschlag!)

    Nun ziehen Sie sich nicht wieder auf die Formel zurück, zur Entspannungspolitik gebe es keine Alternative! Ich habe in der „FAZ" gelesen, der Herr Bundesaußenminister habe bei seinen Verhandlungen in Moskau peinlich darauf geachtet, daß das Wort „Entspannung" oder „Entspannungspolitik" nicht verwendet wird. Man kann wohl davon ausgehen, daß diese Formel heute eine leere Hülse ist. Sie wird auch durch ständiges Wiederholen nicht inhaltsreicher.

    (Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

    Man kann doch nicht ernsthaft eine politische Haltung einnehmen, die friedliche Alternativen zu einer gescheiterten oder jedenfalls nicht mehr funktionierenden Politik von vornherein ausschließt. Wer sich auf so etwas einläßt, bindet sich doch selbst die Hände. Das dürfen wir in der Bundesrepublik Deutschland nicht.
    Blicken Sie auf die Realitäten, werden Sie uns zustimmen müssen, daß uns die östliche Seite ihre Alternative zur bisherigen Entspannungspolitik leider mit aller Härte und Konsequenz vor Augen führt, besonders in den letzten Monaten. Dieser politischen Entwicklung kann man nicht mit einer bloßen Leerformel begegnen.
    Wir begrüßen es, daß der Bundeskanzler im Interesse des Friedens auf die unmenschliche Mauer und die Sperranlagen in Deutschland hingewiesen hat. Diese in der Welt ohne Beispiel existierende menschenverachtende Trennlinie mahnt uns, auf nationaler und internationaler Ebene ständig alles zu ihrer Beseitigung zu tun und uns immer wieder für die Rechte gerade auch der Menschen in der DDR einzusetzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    So müssen Sie, Herr Bundesminister Franke, auch unseren Antrag verstehen, die Verhältnisse der Häftlinge in den Gefängnissen der DDR zu verbessern. Natürlich will dabei keiner irgendeine Profilneurose pflegen. Ich will mich mit Ihnen jetzt gar nicht darüber streiten, welche Methoden zweckmäßig sind und angewandt werden sollten. Aber es gibt auch andere Beispiele als das von Ihnen genannte. Ich bin z. B. der festen Überzeugung, daß Nico Hübner heute noch nicht frei wäre, wenn wir nicht immer wieder überall in Deutschland für seine Freilassung getrommelt hätten. Solche Beispiele gibt es noch mehr.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Der Herr Bundeskanzler hat heute morgen gesagt, daß trotz aller Belastungen der innerdeutschen Beziehungen immer wieder miteinander geredet werden müsse. Das ist gewiß richtig. Auch wir sind der Meinung, daß man den innerdeutschen Gesprächsfaden nicht abreißen lassen darf, daß auch weiterhin alle Möglichkeiten partieller Verständigung geprüft werden müssen. Aber man kann den Wert des Miteinander-Redens letzten Endes nicht vom Gesprächsresultat trennen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

    Der Dialog ist doch kein Wert an sich. Entscheidend ist, was dabei praktisch herauskommt.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Auf die gegenwärtige Situation bezogen heißt das: Alle Gespräche mit der DDR-Führung müssen jetzt ganz gezielt darauf gerichtet sein, den erhöhten Zwangsumtausch zurückzunehmen und andere Abgrenzungsschikanen zu beseitigen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wir sind der Auffassung — das sollte klar sein —, daß es vorher keine neuen Vereinbarungen mit der DDR geben darf. Das ist unsere Überzeugung.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Zu einem Zeitpunkt, da sich die SED stark abgrenzt, wäre es nicht nur sinnlos, sondern auch taktisch verfehlt, den DDR-Machthabern nachzulaufen. Sie muß mit allem Ernst auf die Konsequenzen ihrer Politik hingewiesen und vor die Alternative gestellt werden, ob sie die Beibehaltung und Weiterentwicklung der Beziehungen zum gegenseitigen Nutzen oder Rückschritte zum gegenseitigen Schaden will. Die SED darf nicht den Eindruck gewinnen, daß sie ihre Abgrenzungspolitik folgenlos betreiben kann: den Zwangsumtausch verdoppeln, die Zahl der menschlichen Begegnungen dadurch halbieren, die Bewegungsfreiheit ihrer eigenen Bürger immer mehr einengen und unter dem Strich gleichwohl unverkürzt bei uns abkassieren. Das darf nicht so bleiben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Insbesondere muß der DDR-Regierung unmißverständlich deutlich gemacht werden, daß sie die Vorteile der innerdeutschen Beziehungen weiterhin nur dann genießen kann, wenn sie zur gegenseitigen Geschäftsgrundlage zurückkehrt. Die Geschäftsgrundlage ist als Entwicklung normaler, gutnachbarlicher Beziehungen im Grundlagenvertrag definiert, und zwar zum Wohle der Menschen, wie es in der Präambel heißt. Natürlich wissen wir, daß die SED zur Zeit Kontakte zwischen den Menschen in Deutschland soweit wie möglich verhindern möchte und daß ihr das Bewußtsein der Menschen in unserem gespaltenen Land, einem Volk anzugehören, zur Zeit ebenso unwillkommen ist. Um so nachdrücklicher aber müssen wir der DDR-Regierung klarmachen, daß der menschliche Zusammenhalt der Deutschen ein Kernstück deutscher Politik ist und daß seine Blokkierung den gegenseitigen Beziehungen die Grundlage und die Motivation nähme. Man kann doch nicht von Interessenausgleich reden, wenn unser entscheidendes Interesse kaum noch oder so gut wie gar nicht mehr von der anderen Seite berücksichtigt wird. Deshalb muß die SED wissen, daß unsere Duldungsbereitschaft Grenzen hat. Wenn diese Grenzen überschritten werden und unsere zentralen Ziel-



    Lorenz
    setzungen in der Deutschland-Politik blockiert werden, dann erlischt auf unserer Seite auch die Bereitschaft, der DDR wirtschaftliche und finanzielle Vorteile zu gewähren. Also muß sich die SED entscheiden, ob sie diese Vorteile weiterhin genießen oder ob sie Konfrontation und Abgrenzung will. Beides zugleich sollte sie nicht haben können, meine Damen und Herren!

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Deshalb wäre es auch verfehlt, die Beziehungen zur DDR isoliert unter ökonomischen Gesichtspunkten fortzuentwickeln, wie der Staatsratsvorsitzende Honecker das auf der Leipziger Messe vorgeschlagen hat. Dann gäbe man ein entscheidendes Instrument aus der Hand, mit dem die DDR auch zu humanitären Zugeständnissen veranlaßt werden kann. Vordergründige wirtschaftliche Argumente müssen hier zurücktreten. .
    Herrn Honecker muß klargemacht werden, daß die gegenseitigen Beziehungen eine Einheit bilden; mehr noch: daß erst auf Grund befriedigender Gesamtbeziehungen ein Klima entstehen kann, in dem auch Wirtschaftsbeziehungen gedeihen können.

    (Voigt [Frankfurt] [SPD]: Blödsinn!)

    Auch in anderer Hinsicht sollten wir uns von Herrn Honecker nicht auf eine falsche Spur locken lassen. Ich meine damit die von Ost-Berlin erhobenen Statusforderungen in bezug auf die Staatsbürgerschaft, die Elbe-Grenze und den Botschafteraustausch. Hier ist schon mehrfach davon gesprochen worden. Ich möchte nur noch einmal den Kollegen Ronneburger ansprechen, der sich zu Unrecht vom Kollegen Zimmermann, wenn ich ihn richtig verstanden habe, angesprochen fühlte. Herr Kollege Ronneburger, die deutsche Staatsangehörigkeit ist eben nicht nur ein Angebot, sondern sie ist eine Rechtstatsache.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Vielleicht stimmen wir in dieser ganzen Frage bei näherer Diskussion sogar überein. Es kommt uns auf folgendes an: Wir sollten uns keine Diskussion aufdrängen lassen, die der anderen Seite doch nur nützt, wenn wir unterschiedliche Vokabeln benutzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)