Rede:
ID0903100600

insert_comment

Metadaten
  • sort_by_alphaVokabular
    Vokabeln: 6
    1. Das: 1
    2. Wort: 1
    3. hat: 1
    4. Herr: 1
    5. Abgeordneter: 1
    6. Ronneburger.: 1
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 9/31 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 31. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 9. April 1981 Inhalt: Bericht zur Lage der Nation in Verbindung mit Beratung des Antrags der Abgeordneten Lorenz, Baron von Wrangel, Jäger (Wangen), Graf Huyn, Sauer (Salzgitter), Böhm (Melsungen), Lintner, Werner, Frau Roitzsch, Lowack, Diepgen, Schwarz, Würzbach, von der Heydt Freiherr von Massenbach, Niegel und der Fraktion der CDU/ CSU Politische Häftlinge in den Haftanstalten der DDR — Drucksache 9/198 — Schmidt, Bundeskanzler 1541 B Dr. Zimmermann CDU/CSU 1549 B Dr. Vogel, Regierender Bürgermeister von Berlin 1555C Ronneburger FDP 1562 C Dr. von Weizsäcker CDU/CSU 1566 D Franke, Bundesminister BMB 1573 C Dr. Barzel CDU/CSU 1578 B Hoppe FDP 1586 A Dr. Ehmke SPD 1588 D Lorenz CDU/CSU 1593A Junghans SPD 1597 B Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Gesetzes zur Beschleunigung des Asyslverfahrens — Drucksache 9/221 — Frau Leithäuser, Senator der Freien und Hansestadt Hamburg 1600 B Dr. Bötsch CDU/CSU 1602 D Dr. Schöfberger SPD 1604 D Dr. Wendig FDP 1607 A Dr. de With, Parl. Staatssekretär BMJ . . 1609 C Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und FDP Ächtung der Todesstrafe — Drucksache 9/172 — Klein (Dieburg) SPD 1610 B Dr. Mertes (Gerolstein) CDU/CSU . . . 1612 A Bergerowski FDP 1613 B Beratung des Antrags der Abgeordneten Spranger, Dr. Miltner, Dr. Jentsch (Wiesbaden), Dr. Laufs, Dr. George, Neuhaus, Dr. Bötsch, Broll, Biehle, Linsmeier, Regenspurger und der Fraktion der CDU/CSU Prüfung der Notwendigkeit von Gesetzgebungsvorhaben — Drucksache 9/156 — Dr. Miltner CDU/CSU 1615A Dr. Kübler SPD 1616 B Wolfgramm (Göttingen) FDP 1618A Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Berufsbildung durch Planung und Forschung (Berufsbildungsförderungsgesetz) — Drucksache 9/279 — II Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. April 1981 Engholm, Bundesminister BMBW 1620 A Rossmanith CDU/CSU 1622 B Weinhofer SPD 1624 D Popp FDP 1628 B Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Schulte (Schwäbisch Gmünd), Windelen, Dr. Dollinger, Pfeffermann, Weirich, Neuhaus, Bühler (Bruchsal), Linsmeier, Maaß, Lintner, Dr. Riedl (München), Dr. Schwarz-Schilling, Dr. Köhler (Wolfsburg), Frau Dr. Wilms, Frau Dr. Wisniewski, Dr. Stavenhagen, Niegel, Röhner, Spilker, Dr. Bugl und der Fraktion der CDU/CSU Aufhebung des sogenannten Verkabelungsstopps der Bundesregierung — Drucksache 9/174 — in Verbindung mit Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und FDP Enquete-Kommission „Neue Informations- und Kommunikationstechniken" — Drucksachen 9/245, 9/314 — Weirich CDU/CSU 1630 C Paterna SPD 1632 D Dr. Hirsch FDP 1634 D Becker, Parl. Staatssekretär BMP . . . 1635 C Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 24. November 1977 über die Zustellung von Schriftstücken in Verwaltungssachen im Ausland und zu dem Europäischen Übereinkommen vom 15. März 1978 über die Erlangung von Auskünften und Beweisen in Verwaltungssachen im Ausland — Drucksache 9/68 — Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses — Drucksache 9/298 — 1636 B Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung des Europäischen Übereinkommens vom 24. November 1977 über die Zustellung von Schriftstücken in Verwaltungssachen im Ausland und des Europäischen Übereinkommens vom 15. März 1978 über die Erlangung von Auskünften und Beweisen in Verwaltungssachen im Ausland — Drucksache 9/69 — Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses — Drucksache 9/299 — 1636 C Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Wiener Abkommen vom 12. Juni 1973 über den Schutz typographischer Schriftzeichen und ihre internationale Hinterlegung (Schriftzeichengesetz) — Drucksache 9/65 — Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses — Drucksache 9/301 — Dr. Klejdzinski SPD 1636 D Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der in Genf am 13. Mai 1977 unterzeichneten Fassung des Abkommens von Nizza über die internationale Klassifikation von Waren und Dienstleistungen für die Eintragung von Marken — Drucksache 9/70 — Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses — Drucksache 9/302 — 1637 A Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Tierschutzgesetzes — Drucksache 9/246 — 1637 B Beratung der Sammelübersicht 9 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen — Drucksache 9/289 — 1637 B Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen Reichseigenes Grundstück Berlin 52 (Reinickendorf), Ollenhauerstraße 97/99; hier: Verkauf an das Land Berlin — Drucksachen 9/101, 9/261 — 1637 C Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. April 1981 III Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag einer Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2727/75 über die Gemeinsame Marktorganisation für Getreide — Drucksachen 9/108 Nr. 13, 9/274 — . . .1637 D Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag einer Richtlinie des Rates über die Durchsetzung von internationalen Normen für die Sicherheit im Seeverkehr und die Verhütung von Meeresverschmutzung in bezug auf den Schiffsverkehr in den Häfen der Gemeinschaft — Drucksachen 9/87, 9/300 — 1637 D Nächste Sitzung 1638 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . 1639* A Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 31. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. April 1981 1541 31. Sitzung Bonn, den 9. April 1981 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. van Aerssen * 9. 4. Dr. Ahrens ** 10. 4. Amrehn 10. 4. Brandt * 9. 4. Burger 10. 4. Dr. Enders ** 9. 4. Francke (Hamburg) 10. 4. Franke 10. 4. Dr. Geißler 10. 4. Gilges 9. 4. Haase (Fürth) 10. 4. Hauser (Krefeld) 10. 4. Herterich 10. 4. Hoffie 10. 4. Dr. Holtz ** 10. 4. Dr. Hubrig 10. 4. Jungmann 10. 4. Kiep 9. 4. Kleinert 10. 4. Korber 10. 4. Dr. Kreile 10. 4. * für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments ** für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates *** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Frau Krone-Appuhn 10. 4. Landré 10. 4. Lenzer ** 10. 4. Mahne 10. 4. Matthöfer 10. 4. Meinike (Oberhausen) 10. 4. Dr. Mitzscherling 10. 4. Dr. Müller ** 10. 4. Neuhaus 10. 4. Frau Noth 10. 4. Petersen *** 10. 4. Picard 10. 4. Pieroth 10. 4. Dr. Pohlmeier 9. 4. Schäfer (Mainz) 10. 4. Scheer 10. 4. Frau Schlei 10. 4. Schreiber (Solingen) 10. 4. Schröder (Wilhelminenhof) 10. 4. Schwarz 10. 4. Dr. Schwarz-Schilling 10. 4. Sick 10. 4. Dr. Freiherr Spies von Büllesheim ** 9. 4. Spilker 10. 4. Frau Dr. Timm 10. 4. Dr. Unland ** 10. 4. Dr. Vohrer ** 10. 4. Dr. von Weizsäcker 10. 4. Wischnewski 10. 4. Baron von Wrangel 10. 4.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: ()
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Niemand kann sich mit der Lage der Nation, mit der Lage unserer Nation beschäftigen, ohne sich mit der Lage Berlins auseinanderzusetzen. Berlin ist nicht nur eine der großen deutschen und europäischen Metropolen, übrigens der Einwohnerzahl nach unverändert die größte deutsche Metropole und die größte europäische zwischen Warschau und Paris; Berlin ist unverändert auch die Stadt, in der die Folgen eines der dunkelsten Kapitel unserer nationalen Geschichte für Millionen Menschen in ihrem täglichen Leben noch immer spürbare Gegenwart sind.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Trotz SPD-Regierung!)

    Dieses Kapitel hat übrigens nicht, wie manche meinen, im Mai 1945 begonnen. Dieses Kapitel ist am 30. Januar 1933 aufgeschlagen worden.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Manche geistige und politische Strömung hat schon vor 1933 Beiträge zu diesem Kapitel geschrieben: Herr Hugenberg und seine Pressekonzerne zum Beispiel

    (Zuruf von der SPD: So ist es!)

    oder der kleindeutsche Geschichtschauvinismus eines Heinrich von Treitschke.
    Zu diesen Folgen gehört die Teilung der Stadt, zu diesen Folgen gehört die militärische Präsenz der Drei Mächte, die aus Besatzungsmächten zu Schutzmächten geworden sind, dazu gehört die Lage an der Nahtstelle zweier Bündnissysteme und zweier tief unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen; dazu gehört das Ringen um den Zugang nach Berlin und um den Übergang von der einen Hälfte der Stadt in die andere, dazu gehört auch die Verpflichtung zum Wachhalten geschichtlicher Zusammenhänge und des Wissens um die gemeinsamen Wurzeln nationaler Existenz.



    Regierender Bürgermeister Dr. Vogel (Berlin)

    Als der durch die Verfassung von Berlin legitimierte Sprecher Berlins danke ich dem Herrn Bundeskanzler und dem Sprecher der Opposition dafür, daß sie Berlin, daß sie der Lage, den Problemen und den Aufgaben Berlins in ihren Ausführungen breiten Raum gewidmet haben. Dem Herrn Bundeskanzler danke ich auch für das, was er gesagt hat, insbesondere für das, was er über und zu Berlin gesagt hat.

    (Beifall bei der SPD)

    Herr Zimmermann hat sicher Verständnis dafür, daß ich ihn in diesen Dank nicht einschließe.

    (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/CSU)

    Ich stimme dem Bundeskanzler zu: Die Lage Berlins hat sich durch die Vertragspolitik, insbesondere durch das Viermächteabkommen und den Grundlagenvertrag, entscheidend verbessert. Die Fäden der menschlichen Kontakte zwischen den beiden Hälften der geteilten Stadt, die vor 1972 spärlich und leicht zerreißbar waren, sind zu einem festen und haltbaren Gewebe geworden. Der Zugang nach Berlin ist sicherer, die Bindungen Berlins an den Bund sind enger. Sie bestehen nicht nur in der Einordnung Berlins in das Rechts-, Wirtschafts- und Finanzsystem der Bundesrepublik, Berlin ist auch ein Teil des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens der Republik.
    Die Außenvertretung Berlins ist vertraglich geregelt, und vor allem: Berlin ist nicht mehr automatisch der Mittelpunkt jeder internationalen Spannung und jeder internationalen Krise. Die Kette der Ultimaten und Drohungen hat mit der Vertragspolitik ein Ende gefunden.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Manche, offenbar auch in diesem Hause, scheinen das zu bedauern. Sie sagen, Berlin sei durch diese Entwicklung an den Rand des Weltinteresses geraten, in den Zeiten der Bedrohung habe man einen demokratischen Grundkonsens gehabt — als ob der heute nicht mehr bestünde —, sie sagen, die Stadt habe ihre Identität verloren. Mag sein, daß Politiker und auch Leitartikler das so empfinden, daß sie spüren, wie sie selber vor allem bei den Jungen immer mehr an den Rand des Interesses rücken, daß sie sich selbst mit der Stadt verwechseln. Die Menschen in Berlin sehen das anders — und die in Ost-Berlin nicht weniger als die in West-Berlin. Die Menschen in beiden Teilen der Stadt, sie sagen es einem — gestern im Bezirksamt Wedding von Berlin, wo 50 OstBerliner auf ihre Begrüßung gewartet haben —, sie sagen es einem spontan. Sie wissen, wem sie diese Fortschritte verdanken. Sie wissen, wer für und wer gegen die Verträge war. Und sie wissen auch, wer im Einzelfall weder dafür noch dagegen war, weil er sich der Stimme enthielt oder an wichtigen Abstimmungen überhaupt erst gar nicht teilnahm.

    (Beifall bei der SPD und der FDP) Das alles ist nicht vergessen.

    Und es ist auch nicht vergessen, daß es ein Berliner Bürgermeister, Willy Brandt, war, der unter dem Eindruck des Mauerbaus diese Politik der menschlichen Erleichterungen auf den Weg gebracht und, gegen bisweilen wütenden Widerstand, zusammen mit Walter Scheel durchgesetzt hat.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Berlin will, daß diese Politik fortgesetzt wird, realistisch, mit Augenmaß, im Einklang mit unseren Verbündeten, die zugleich auch die Schutzmächte in Berlin sind. Berlin will, daß diese Politik fortgesetzt wird, über Rückschläge und Enttäuschungen hinweg.
    Die Erhöhung und die Ausweitung des Mindestumtausches ist ein solcher Rückschlag. Die Maßnahme berührt wichtige Annahmen, von denen man bei den Vereinbarungen über den Reise- und Besucherverkehr ausgegangen ist. Die Maßnahme widerspricht dem Geist der Verständigung und auch den Zielsetzungen der Schlußakte von Helsinki, auf die wir uns im übrigen nur berufen können, weil die Koalitionsmehrheit dieses Hauses den entsprechenden Entschließungen zugestimmt hat.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Die Maßnahme hat dazu geführt, daß die Zahl der Besuche von West-Berlinern in Ost-Berlin und in der DDR um über die Hälfte zurückgegangen ist. Das ist eine Maßnahme der Abgrenzung, die wir nicht hinnehmen können. Zusammen mit der Bundesregierung wird der Senat von Berlin beharrlich auf die Korrektur der Erhöhung und der Ausweitung hinwirken. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind dagegen, daß Abgrenzung mit Abgrenzung beantwortet wird.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Damit würden wir den Falschen in die Hände arbeiten. Damit würden wir selbst in das Gewebe der menschlichen Beziehungen hineinschneiden, das wir doch erhalten und stärken wollen.
    An Themen für konkrete Bemühungen um weitere Verbesserungen in und für Berlin ist kein Mangel. Ein solches Thema ist die vom Abgeordnetenhaus von Berlin im Februar 1981 ohne Gegenstimmen gutgeheißene Einbeziehung der S-Bahn in das städtische Nahverkehrskonzept und die Integration der dafür geeigneten Strecken in ein Schienenschnellverkehrssystem. Wir arbeiten gemeinsam mit der Bundesregierung an der Umsetzung dieses Beschlusses. Ich bitte schon heute alle Fraktionen des Deutschen Bundestages um Unterstützung, um Unterstützung insbesondere dann, wenn es gilt, bislang für den weiteren Autobahnausbau in Berlin vorgesehene Mittel statt dessen für die Modernisierung von S-Bahn-Strecken zur Verfügung zu stellen.

    (Beifall bei der SPD)

    Das ist, jedenfalls in Berlin, vielleicht aber sogar über Berlin hinaus, ein Gebot der verkehrspolitischen, der finanziellen und der ökologischen Vernunft.

    (Beifall bei der SPD)

    An weiteren Beispielen und an weiteren Themen nenne ich: Verbesserungen im Reise- und Besucherverkehr der West-Berliner nach Ost-Berlin, die Of-



    Regierender Bürgermeister Dr. Vogel (Berlin) fenhaltung des Grenzübergangs Staaken für den Transitverkehr über 1984 hinaus, die Einbeziehung Berlins in einen Erdgas- oder auch in einen Stromverbund, um die Ölabhängigkeit der Berliner Strom-und Gaserzeugung zu vermindern und schließlich auch die Einbeziehung Berlins in das Intercity-System auf einer dafür zu elektrifizierenden Strecke.
    Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, Berlin ist realistisch. Berlin erwartet keine Lösungen von heute auf morgen. Aber es wird nicht müde werden, immer aufs neue auf weitere Schritte der Normalisierung zu drängen. Auch das ist ein Teil der nationalen Aufgabe Berlins.
    Ebenso ist es unsere Aufgabe, zusammen mit der Bundesregierung — ich danke dem Herrn Bundeskanzler für seine Ausführungen zu dieser Frage — auf der einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit zu beharren. Sie ist für die Bürger von WestBerlin eine wichtige Klammer zur Bundesrepublik.

    (Beifall bei der SPD)

    Die kommunalen Probleme Berlins sind angesprochen worden, und zwar verständnisvoll vom Bundeskanzler, polemisch und deutlich allein mit dem Blick auf den 10. Mai 1981 vom Sprecher der Unionsfraktion. Hier ist nicht der Ort, kommunale Sorgen Berlins in der vollen Breite zu erörtern. Ich würde nur die Bitte äußern, daß sich niemand selbstgerecht täuschen möge. Jede kommunale Herausforderung, vor der Berlin steht, ist schon heute auch in den anderen Metropolen und in den anderen großen Städten zu finden. Die Fehlentwicklungen in der Modernisierung und Sanierung richten sich doch nicht nach der Parteizugehörigkeit der jeweiligen Stadt-, Landes- oder nationalen Regierung. Sind Sie denn blind bei dem Blick in die europäische Situation?

    (Beifall bei der SPD)

    Die partielle Wohnungsnot läßt sich doch nicht in dem Einfachverfahren jeweils am Parteibuch des jeweiligen Wohnungsbauministers festmachen. Die Hausbesetzungen sind doch nicht allein ein Berliner Problem. Der Jugendprotest ist doch inzwischen eine europäische Erscheinung, die auch die Grenze zwischen Ost und West längst überschritten hat. Ich will nur noch einige weitere Stichworte nennen: die Drogensucht, die Baukostensteigerungen, das Zusammenleben mit Hunderttausenden ausländischer Mitbürger auf engem Raum, die doch nicht alle widerrechtlich gekommen sind, sondern in ihrer Masse da sind, weil wir sie alle gemeinsam mit Prämien eingeladen haben, in unsere Städte und in unser Land zu kommen. Ich nenne das Problem der Sicherung der Arbeitsplätze.
    Wer da, ob Opposition oder nicht, mit dem Finger auf Berlin zeigt, möge sich erst einmal zu Hause und in seinem eigenen Wirkungsbereich umsehen und sachkundig machen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Einiges, was der Sprecher der Unionsfraktion soeben gesagt hat, kann so nicht stehenbleiben. In Berlin gibt es keine rechtsfreien Räume. Erst recht wird dort das Recht nicht mit Füßen getreten. Der Senat fördert auch nicht, wie hier gesagt wurde, die Begehung von Straftaten. Mit der Fairneß, die vom Spitzenkandidaten der CDU für Berlin in Aussicht gestellt worden ist, sind solche Behauptungen schlechterdings nicht zu vereinbaren.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Herr Zimmermann hat es für richtig gehalten, an dieser Stelle mitzuteilen — was völlig unstreitig ist —, daß in Berlin von einzelnen Bürgern Straf an-träge gestellt und Strafanzeigen erstattet worden sind, mit der Behauptung, es liege Strafvereitelung im Amt vor. Was soll diese Selbstgerechtigkeit? Ist hier ein Politiker, der irgendwo in Verantwortung gestanden hat, der nicht schon mit den sinnlosesten Strafanzeigen überzogen wurde? Der bayerische Ministerpräsident hat sich immer wieder Strafanzeigen zu erwehren, in denen behauptet wird, er betreibe Volksverhetzung. Sie wissen doch ganz genau, was von solchen Strafanzeigen zu halten ist.

    (Dr. Kohl [CDU/CSU]: Es gibt eine sublime Form, das zu tun, Herr Bürgermeister!)

    — Herr Abgeordneter, ich bedanke mich, daß ich im Gegensatz zu Herrn von Dohnanyi von Ihnen im Amt des Oberqualifikators eine positive Zensur erhalten habe. Herzlichen Dank.

    (Dr. Kohl [CDU/CSU]: Eine sublime Form! — Dr. Barzel [CDU/CSU]: Das ist aber schwach!)


    (V o r sitz: Vizepräsident Leber)

    Im übrigen, da Sie von sublimen Formen reden: Sublime Formen sind Ihnen eigentlich in der Regel verschlossen, Herr Kollege Kohl. Sie lieben mehr die kräftigeren, die plumpen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Natürlich, meine Damen und Herren, werden in Berlin Gewalttaten verfolgt. Es werden auch Häuser durchsucht und geräumt. Was es allerdings nicht gibt, sind sinnlose oder gefährliche Aktivitäten, wie etwa kollektive Massenverhaftungen junger Leute,

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    die dann später unter Feststellung ihrer Unschuld und der Mitteilung, daß ihnen finanzielle Entschädigung gewährt wird, wieder entlassen werden müssen.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Dabei denken wir nicht nur an die verheerenden Wirkungen, die solche Staatsdemonstrationen bei jungen Menschen hervorrufen. Meine Damen und Herren, dies sage ich mit dem Ernst, den ich immer wieder in das Gespräch mit der Opposition hineinzutragen suche: Ist Ihnen eigentlich nie in den Sinn gekommen, daß Sie mit solchen Aktivitäten im Ergebnis denen in die Hände arbeiten, die Sie so sehr zu bekämpfen vorgeben?

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Die Junge Union in Berlin weiß das. Sie sagt: Wer
    nichts als pauschale Massenverhaftungen und neue
    Polizeiwaffen anzubieten hat, der offenbart er-



    Regierender Bürgermeister Dr. Vogel (Berlin) schreckende Hilflosigkeit. — Dem ist nur zuzustimmen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Richtig ist, daß es zwischen dem Generalstaatsanwalt beim Kammergericht in Berlin und dem Justizsenator — Sie, Herr Zimmermann, haben in der sublimen Weise, die Herrn Kohl vorschwebt, darauf aufmerksam gemacht — eine Meinungsverschiedenheit über den richtigen Zeitpunkt einer Durchsuchung gab. Solche Meinungsverschiedenheiten — nun schaue ich die Rechtspolitiker an, mit denen ich früher zusammengearbeitet habe — gab es doch auch schon anderswo und in anderen Ländern. Es soll der Landesjustizminister aufstehen, der über derartige Fragen, über Fragen seiner Weisungsbefugnis, nicht auch schon in Meinungsverschiedenheiten mit seiner Staatsanwaltschaft gestanden hat.

    (Beifall bei der SPD)

    Im übrigen, zum Bedauern derer, die dies für ein vordergründig nützliches Thema hielten, hat diese Meinungsverschiedenheit in Berlin mittlerweile ihre Erledigung gefunden.
    Herr Kollege Zimmermann hat es für richtig gehalten, auf die Tatsache aufmerksam zu machen, daß sich unter den vorläufig festgenommenen, dann wieder entlassenen Hausbesetzern auch ein Sohn des Berliner Polizeipräsidenten Hübner befand —22 Jahre, volljährig. Der Vater hat sich zu diesem Sohn bekannt — nicht zu seinem Tun, aber zu diesem Sohn — und hat ihm seine Hilfe angeboten. Herr Kollege Zimmermann, spüren Sie eigentlich nicht die peinliche Selbstgerechtigkeit, die in Ihrer Äußerung steckt?

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Soll ich jetzt, Ihrer Peinlichkeit folgend, die Söhne von CDU- oder CSU-Politikern oder die Töchter von CDU- oder CSU-Bürgermeistern unter Nennung der Stadt, in der sie wohnen, aufzählen, die sich ebenfalls in dieser Situation befunden haben? Was ist das für eine vordergründige, peinliche Art der Diskussion!

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ich brauche doch nur in die Gesichter derer zu sehen,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Lenken Sie doch nicht ab!)

    die wissen, wovon ich rede, um die ganze Inhumanität dieser Art von Beweisführung deutlich zu machen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Wie kann man mit der Not eines Vaters, mit der Not von Eltern, die sich in einem solchen Konflikt befinden, so peinlich vordergründig politische Polemik betreiben!

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Herr Zimmermann, Sie haben dann einen weiteren Beitrag zur Lage der Nation geleistet und das Märchen von der angeblich beabsichtigten Zusammenarbeit der Berliner Sozialdemokraten mit der
    Alternativen Liste erneuert. Ich bin Ihnen dankbar für das Stichwort. Ich erkläre von der Tribüne dieses Hauses aus — im übrigen zum wiederholten Male —: Es gibt weder eine Koalition noch eine Zusammenarbeit. Es ist auch nie irgend etwas anderes erklärt worden.

    (Zustimmung bei der SPD — Dr. Zimmermann [CDU/CSU]: Minderheitsregierung! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Unterstützung! Duldung!)

    — Herr Kollege Zimmermann, ich nehme das Stichwort Minderheitsregierung auf. Danke sehr. Dieses Stichwort zeigt mir nur eines: daß die Berliner CDU ihre Hoffnung, die absolute Mehrheit zu erreichen, längst aufgegeben hat.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Lachen und Zurufe bei der CDU/CSU)

    Herr von Weizsäcker hat doch dieses Thema überhaupt erst entdeckt, als ihm die Meinungsumfragen bedeutet haben, daß er den Höhepunkt des Januar und unseren Tiefpunkt durch Untätigkeit versäumt hat. Seitdem ist dieses Thema aktuell.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Kittelmann [CDU/CSU]: Das war wohl nichts!)

    Im übrigen bekenne ich mich dazu: Wir treiben auch hier keine Politik der Gesprächsverweigerung. Wir bemühen uns um die jungen Leute, die in die Irre laufen. Wir bemühen uns auch, die vernünftigen Gedanken aufzunehmen, die es auch in diesem Bereich gibt.
    Wenn Sie es gerne wollen, lese ich viele Zitate vor, in denen Herr von Weizsäcker, Herr Blüm und andere diesem Personenkreis ihr hohes Verständnis — Herr Blüm sogar seine Sympathie — ausgedrückt haben.

    (Lorenz [CDU/CSU]: Der Alternativen Liste? — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    — Aber lieber Herr Abgeordneter Kohl, wenn Sie es gerne wollen, führe ich Ihnen das sogar im Bild vor. Herr Blüm fliegt doch gelegentlich nach Berlin und läßt sich dort in Kreuzberg mit den Hausbesetzern fotografieren, wie er ihnen freundlich zulächelt, wie er ihnen Mut zuspricht.

    (Heiterkeit bei der SPD und der FDP — Widerspruch bei der CDU/CSU — Kittelmann [CDU/CSU]: Ihnen geht es doch nur um billige Polemik!)

    — Entschuldigung, ich habe das Stichwort nicht in die Debatte geworfen. Ich habe das Stichwort doch nur aufgegriffen. Es stammt doch von Herrn Zimmermann.
    Dann bedanke ich mich für die liebenswürdige Beratung über die sinnvolle Anfertigung von Plakaten. Von Public Relation verstehen Sie etwas, Herr Kollege Zimmermann. Das gestehe ich Ihnen zu. Trotzdem meine ich: Wir sollten die Verantwortung für unsere Plakate jeweils selbst tragen. Sie kriegen ja auch von mir nicht den Rat, Herrn Lorenz oder



    Regierender Bürgermeister Dr. Vogel (Berlin)

    Herrn Lummer oder Herrn Strauß in Berlin zu plakatieren. Das empfehle ich ja auch nicht.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ich möchte sagen: Schuster, bleib bei Deinem Leisten.
    Meine Damen und Herren, ich kehre, nachdem ich jetzt nicht mehr auf Stichworte von Herrn Zimmermann Bezug nehmen muß, zur ernsthaften Auseinandersetzung zurück.

    (Heiterkeit bei der SPD und der FDP)

    Er hat das Stichwort Jugendprotest in all seiner Tragweite nämlich wieder sehr oberflächlich in die Nähe des Polizei- und Paragraphenthemas gerückt. Bei der Analyse des Jugendprotestes haben bisher fast alle Beteiligten die Thesen der eidgenössischen Kommission für Jugendfragen herangezogen. Ich freue mich, daß die SPD-Fraktion meinen Vorschlag aufgegriffen hat, zur Untersuchung der uns alle beunruhigenden neuen Formen des Jugendprotestes die Einsetzung einer Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zu beantragen. Ich hoffe, der Antrag findet, nachdem die FDP-Fraktion ihre Zustimmung erklärt hat, bei der Abstimmung die Billigung des gesamten Hauses.
    Wir könnten hier mehr versäumen als bei anderen Themen, die im Deutschen Bundestag breit behandelt werden.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Nicht umsonst haben die katholischen Bischöfe vor wenigen Wochen in einer Presseverlautbarung folgenden Satz niedergeschrieben, der eigentlich die Alarmglocken hätte schrillen lassen müssen:
    Mit Sorge müssen wir — die Bischöfe —
    feststellen, daß in unserer Gesellschaft vielfach der Dialog zwischen den Generationen zerbrochen ist.
    Ein inhaltsschwerer Satz, über den niemand mit irgendeiner eleganten Bemerkung oder gar mit Polemik hinweggehen sollte. Vielleicht, so hoffe ich jedenfalls, trägt die Enquete dazu bei, Zerbrochenes im Verhältnis zwischen den Generationen wieder zusammenzufügen bzw. zusammenzuführen.
    Wir wissen in Berlin, daß es zunächst und vor allem unsere Aufgabe ist, mit unseren Problemen fertig zu werden. Wir sind auch selbstbewußt genug, um nicht andere anzusprechen, wo wir selbst gefordert sind. In einzelnen Punkten aber ist Berlin aus Gründen der Kompetenz und der Ausgleichsfunktion des größeren Verbands auf Ihre Hilfe, meine Damen und Herren, und auf die Hilfe des Bundes angewiesen.
    Wir brauchen weiterhin, ebenso wie andere Gebiete der Bundesrepublik — Ostbayern, um nur ein Beispiel zu nennen —, den materiellen Ausgleich der Erschwernisse und Nachteile, die sich aus unserer besonderen Lage ergeben. Nur infolge dieses Ausgleichs hat Berlin 1980 den Konkunkturgleichschritt mit der Bundesrepublik halten können, und nur deshalb ist die Investitionsneigung im ersten Quartal 1981 robust geblieben, nach den Feststellungen der Industrie- und Handelskammer sogar mit leicht steigender Tendenz.
    Auch für die Zukunft gilt: Ohne die Berlin-Hilfe ist unsere Wirtschaft nicht sicher. Wir wissen, daß Steigerungen dieser Hilfe jetzt schwierig sind. Wir sind Realisten. Aber wir werden nach dem 10. Mai 1981 schon wegen der Arbeitslosenzahlen bitten, die Berlin-Hilfe nicht allein am Umsatz, sondern stärker als bisher an der Sicherung und der Neuschaffung von Arbeitsplätzen zu orientieren.
    Wir brauchen außerdem die Änderung von Bundesgesetzen auf dem Gebiet des Mietrechts. Alle Fraktionen des Berliner Abgeordnetenhauses — gestern ist nach Überwindung von Schwierigkeiten diese Einigung zustande gekommen — fordern die Verlängerung der Mietpreisbindung für Altbauwohnungen bis 1990, d. h. nicht ein Einfrieren der Mietpreise, aber den Grundsatz, daß die Obergrenze angesichts der teilweisen Mangellagen nicht durch das freie Spiel der Kräfte, sondern durch einen politischen Beschluß der dafür Berufenen festgelegt wird.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Ich bitte sie sehr herzlich, diesem gemeinsamen Wunsch aller drei Fraktionen des Abgeordnetenhauses bald Rechnung zu tragen. Sie würden damit in Berlin viele Mieter, vor allem alte Menschen, vor Unruhe und Angst bewahren.
    Ebenso brauchen wir einen besseren Umwandlungsschutz für Mieter von Altbauwohnungen. Auch hier sind alle Fraktionen in Berlin einig. Die unionsregierten Länder, vor allem das Land Rheinland-Pfalz, das sich hier zum Sprecher des Widerstands gegen diese vernünftige Lösung gemacht hat, sollten ihren Widerstand aufgeben. Ich bitte Sie darum, daß Sie mithelfen, hier zu einer Lösung zu kommen, die alle drei Berliner Fraktionen einhellig anstreben.

    (Beifall bei der SPD)

    Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe von den beiden großen Aufgaben Berlins gesprochen. Beide Aufgaben sind eng miteinander verbunden. Berlin kann seine ihm aus der jüngeren Geschichte zugewachsene Aufgabe nur ausreichend erfüllen, wenn es seine kommunalen Probleme bewältigt. Nur als eine menschliche Metropole kann es eine Stadt der Pluralität, der Liberalität, des Friedens und der Freiheit sein, deren Botschaft auch den Menschen um Berlin, den Menschen in ganz Deutschland etwas zu sagen hat; denn Berlin ist Teil der Geschichts-, der Gefühls-, der Kultur- und der Sprachgemeinschaft, die wir Deutschen auch im vierten Jahrzehnt nach der von Hitler verursachten und verschuldeten Teilung unverändert darstellen

    (Beifall bei der SPD)

    — nein, ich muß mich korrigieren: nicht darstellen, sondern sind. Diese Definition, die ich eben gegeben habe — die Geschichts-, Gefühls-, Kultur- und Sprachgemeinschaft —, ist nämlich die verständlichste und lebensnächste Definition des Begriffes „Nation", jedenfalls dann, wenn man diesen Begriff



    Regierender Bürgermeister Dr. Vogel (Berlin)

    nicht als Kampf-, als Abgrenzungsbegriff, sondern als etwas Verbindendes, als etwas Zusammenführendes verwendet und in der politischen Sprache einsetzt.

    (Beifall bei der SPD)

    Die Frage nach der Identität von Nation und Staat ist in der Geschichte unterschiedlich beantwortet worden. Es gab mehrstaatliche Nationen, es gab Staaten, die mehrere Nationen in sich vereinigten, und es waren und sind nicht die schlechtesten, wenn wir an den ost- und südosteuropäischen Bereich denken. Es gab aber auch Staaten, die Nationalstaaten waren.
    Für uns gilt — das sage ich für Berlin und ich befinde mich dabei im Einklang mit der Bundesregierung —: Wir anerkennen die DDR als Staat. Es gibt zwei deutsche Staaten. Das ist ein Tatbestand,

    (Dr. Barzel [CDU/CSU]: „Zwei Staaten in Deutschland" ist korrekt!)

    den wir im Grundlagenvertrag akzeptiert haben und den das Verfassungsgericht bestätigt hat. Mühsam genug hat sich dazu auch die Union durchgerungen.
    Dessen ganz unbeschadet sagt das Grundgesetz in seiner Präambel:
    Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.
    Dem sind wir auch in Berlin verpflichtet.

    (Zustimmung bei der SPD)

    — Ich möchte schon aus zeitlichen Gründen keine Zwischenfragen zulassen. Ich bin aber sehr gerne bereit, mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit, vielleicht in Berlin oder auch sonst öffentlich oder nicht öffentlich, mit Ihren Fragen auseinanderzusetzen, damit wir einander gut verstehen.
    Einen ganz ähnlichen Begriff, nämlich den der Vereinigung beider deutscher Staaten, hat kürzlich — der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen — der Staatsratsvorsitzende der DDR benutzt. Die Vorstellungen über die Voraussetzungen und die Ergebnisse der Vereinigung sind sicher grundverschieden. Aber wer selber den Begriff benutzt, der kann anderen nicht Annexionismus oder Revanchismus vorwerfen, wenn sie das gleiche tun.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ich sprach von der Geschichtsgemeinschaft. Das ist doch keine Schimäre. Es gibt doch genug aktuelle Beispiele dafür, daß sich beide Seiten der gleichen gemeinsamen historischen Persönlichkeiten erinnern, auch wenn sie ihr Wirken und ihre Motivation ganz unterschiedlich deuten. Ich nenne nur die Namen Martin Luther, Bach, Goethe, Yorck, Clausewitz, Scharnhorst und zuletzt Friedrich den Großen und Freiherr vom Stein.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Vogel! — Lachen bei der CDU/CSU)

    Herr von Weizsäcker hat dazu gesagt, wir hätten keinen Grund, mit Überheblichkeit festzustellen, daß andere gemeinsame Personen aus der gemeinsamen Geschichte unter ihrem Aspekt in Anspruch nehmen. Die innerdeutschen Beziehungen, so fuhr er von dieser Stelle aus fort, seien keineswegs immer nur ein einseitiges Lerngeschäft von West nach Ost. Auch wir hätten unseren Teil zu lernen. Herr von Weizsäcker hat recht, und ich sehe keinen Anlaß, das etwa deshalb zu bestreiten, weil wir beide jetzt miteinander in einem Wahlkampf stehen.
    Aber ich frage, wie es da eigentlich mit der Einheit von Reden und Handeln steht. Wir haben anläßlich des 200. Geburtstags Karl Friedrich Schinkels mit dem Gedanken der Geschichtsgemeinschaft Ernst gemacht. Wir haben in Erinnerung an die gemeinsame Geschichte Berlins den größten Baumeister dieser Stadt dadurch geehrt, daß wir die Wiederherstellung eines seiner großen Bauwerke, nämlich der Schloßbrücke, in seiner vom Genius Schinkels entworfenen und gewollten Erscheinungsform ermöglichen, indem wir es möglich machen, die im Osten stehende Brücke und die bei uns in einem Magazin lagernden Figuren wieder zur Einheit zusammenzufügen, wenn Sie so wollen: wiederzuvereinigen

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    zu der Einheit, als die sie Schinkel konzipiert hat, zu der Einheit, als die sie Generationen von Berlinern vertraut war.
    Es war für mich wieder aufschlußreich, daß die Ost-Berliner gestern im Bezirksamt von Wedding von sich aus dies ansprachen und begrüßten. Verehrte Anwesende, meine Damen und Herren, das ist ein Akt lebendiger Geschichtsgemeinschaft, den wir in Bälde tatsächlich vollziehen werden.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Die Berliner Union, von der ich Zustimmung zu einer solchen Unterstreichung einer großen Linie unserer Geschichte — es war eine Verneigung vor der Geschichte und vor Schinkel — erwartet hätte, reagierte eher verlegen. Ihr Berliner Sprecher, der Fraktionsvorsitzende, redete von einer Stümperei und verwies auf einen Paragraphen der Landeshaushaltsordnung, der nicht beachtet worden sei. Das war alles.
    Die Frage nach unserem eigenen Geschichtsbewußtsein gehört übrigens für mich zur Frage nach der Lage der Nation. Manches deutet erfreulicherweise daraufhin, daß eine lange Phase der Gleichgültigkeit gegenüber unserer Geschichte und des mangelnden Geschichtsbewußtseins inzwischen ihren Höhepunkt überschritten hat. Es bricht sich zunehmend die Einsicht Bahn, daß nur der das Heute verstehen und für morgen Ziele entwickeln kann, der das Gestern begriffen hat. Begreifen setzt eben Kennen, setzt ein Mindestmaß auch von tatsächlichem Wissen voraus. Wer die Geschichte nicht zur Kenntnis nimmt, wer nur im Heute lebt, der gerät in Gefahr, seine augenblicklichen Maßstäbe als absolut zu setzen, der entbehrt in Zeiten der Krise und der Bedrängnis des Halts und der Sicherheit, die aus dem Wissen fließen, daß andere vor ihm schwereren Prüfungen ausgesetzt waren.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)




    Regierender Bürgermeister Dr. Vogel (Berlin)

    Wer die Geschichte kennt, der ist stärker gegen Selbstmitleid und Überreaktionen gewappnet und der hört schneller den falschen Ton aus der Tagespolemik heraus. Wer die Geschichte kennt, der ist auch nicht schon deshalb dazu verurteilt, Fehler und Irrtümer früherer Generationen zu wiederholen, weil er versäumt hätte, das Mögliche aus diesen Fehlern und Ereignissen zu lernen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Die Geschichte Berlins und die Geschichte Preußens — und ich glaube, dies ist ein Punkt, in dem wir völlig übereinstimmen — ist reich an Beispielen sowohl für das eine wie für das andere. Die PreußenAusstellung, die am 15. August 1981 in Berlin eröffnet wird, wird mannigfach Gelegenheit geben, sich damit zu beschäftigen. Immerhin — lassen Sie mich das als landsmannschaftlicher Bayer ganz unbefangen sagen —: Preußen, das war ja nicht nur, wie es Theodor Fontane einmal formuliert hat, eine Armee, die sich einen Staat hielt. Preußen, das waren auch Kant, Hardenberg, der Freiherr vom Stein und die Gebrüder Humboldt; das waren Bismarck, Windhorst, Lasalle und August Bebel; das waren Dichter, Maler, Architekten und Bildhauer vom Range eines Heinrich von Kleist, eines Karl Friedrich Schinkel, eines Andreas Schlüter. Das alles gehört doch auch zu unserer Geschichtsgemeinschaft. Das alles kann und soll doch nicht aus unserer geschichtlichen Tradition ausgeschlossen und ausgesperrt werden!

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ich sprach von der Kultur- und Sprachgemeinschaft. Auch sie ist wichtig. Es ist wichtig, daß Peter Hacks und Hermann Kant bei uns gelesen werden; Christa Wolf hat der Bundeskanzler schon genannt. Es ist für diese Sprach- und Kulturgemeinschaft ebenso wichtig, daß man drüben Günter Grass und Siegfried Lenz und Heinrich Böll und viele andere liest.
    Wichtig — und es wird noch wichtiger — ist auch das fortdauernde Gespräch der Kirchen über die Grenzen hinweg und ihre Gemeinschaft im Glauben — ein die Kultur- und geistige Gemeinschaft unglaublich stabilisierendes Element in der Wirklichkeit unserer Nation.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ich sprach schließlich von der Gefühlsgemeinschaft. Zu ihrer Pflege gehören die menschlichen Begegnungen und Kontakte, gehören die Besuche, die Anrufe, die Zusammenführung von Familien auch in schwierigsten Fällen, die humanitären Akte, über die nur derjenige vordergründig polemisch reden kann, der nicht weiß, welches Elend und welcher Jammer von Menschen hinter jedem einzelnen dieser Fälle steckt.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Dazu gehört, daß wir nicht nur das uns fremde und unseren Vorstellungen elementar zuwiderlaufende System der DDR und seine Funktionäre sehen, daß wir nicht nur die Mauer, die Grenzanlagen, ihre Bewacher, nicht nur das Schießen an der Mauer sehen, sondern daß wir auch die Millionen Menschen in diesem Staat sehen: die Thüringer, die Mecklenburger, die Brandenburger, die Sachsen etwa, ohne alle aufzuzählen, die unter schwierigsten Bedingungen Leistungen erbracht haben, über die — und ich bin dankbar, daß es gesagt wurde — gönnerhaft zu urteilen uns keineswegs zusteht.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Es heißt keineswegs — ich sage das, weil hier wieder vordergründige Polemik droht — dem Kommunismus huldigen, wenn man beispielsweise, wie ich das getan habe, nach Besichtigung des Alexanderplatzes in Ost-Berlin feststellt, daß es bei uns und in anderen Ländern bessere, ganz sicher aber auch schlechtere städtebauliche Lösungen gibt, als sie dort verwirklicht worden sind — an die Adresse der Menschen, die sich darum bemüht haben. Es wurde gesagt, die Sowjetunion wolle Berlin nicht von außen einnehmen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Da ist selbst ihm der Faden gerissen! Das war zu dünn!)

    — Ich bin manchmal traurig, verehrte Anwesende, daß die Zwischenrufe für die Zuhörer draußen nicht voll verständlich sind. Ich glaube, daß es unglaublich erhellend wäre, wenn jeweils der behandelte Gegenstand und der Zwischenruf voll zur Kenntnis unserer Bürgerinnen und Bürger gebracht würden. Vielleicht wäre es für die Beurteilung des jeweiligen Niveaus ein deutlicher Anhaltspunkt.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    In Berlin wurde in der Auseinandersetzung gesagt, die Sowjetunion wolle Berlin nicht von außen einnehmen. Sie setze vielmehr darauf, daß ihr die Stadt — ich glaube, es ist ein wörtliches Zitat von Ihnen, Herr Kollege von Weizsäcker — infolge innerer Auszehrung von allein zufalle. Nur die Union, so wird dann ausgesprochen oder sublim unausgesprochen hinzugefügt, könne diese Auszehrung aufhalten. Das ist nun nicht Ihr Zitat. Das sagen die weniger Sublimen, in der Eissporthalle etwa. Sie sagen das dann kräftiger in dieser Form. Welche Verblendung!

    (Dr. Kohl [CDU/CSU]: Das sagen Sie!)

    Es mag sein, daß die Sowjetunion über innere Schwierigkeiten bei uns nicht zu Tode betrübt ist, aber das gilt wohl umgekehrt ebenso, wenn ich das realistisch sehe. Aber wie kommt eigentlich eine Partei und wie kommen gerade die Sprecher von denen sich die Jugend immer stärker abwendet, die der Bundesvorsitzende Ihres eigenen Jugendverbandes ermahnt, sie sollten mehr als bisher das Grundverständnis, das Grundwertverständnis christlicher Demokraten vorleben und einen ernsthafteren Dialog mit der Jugend suchen, nur wenn sich die Union stärker den Interessen junger Menschen öffne, könne sich die Jugend wieder schrittweise mit der Union identifizieren, zu der Behauptung, gerade sie könnten der Auszehrung steuern?
    Unser Weg, der Weg des Gesprächs, des Eingeständnisses von Fehlern, der Korrektur von Fehlern, der mitunter mühsamen Integration, die leicht Angriffsflächen für polemische Verdächtigungen bie-



    Regierender Bürgermeister Dr. Vogel (Berlin)

    tet, ist da viel eher eine Antwort auf die Gefahr der Auszehrung.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Eine Stadt, die ihre Jugend verliert, ist ausgezehrt und wird an der Auszehrung zugrunde gehen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Lassen Sie uns doch zusammenarbeiten, um dieser Auszehrung zu begegnen!
    Es wurde weiter gesagt, wir würden in Berlin dem Antiamerikanismus Vorschub leisten und der Politik Helmut Schmidts in den Rücken fallen. Das weise ich zurück. Wir wissen um die Bedeutung der Vereinigten Staaten als Schutzmacht unserer Stadt, wir wissen um die Bedeutung des militärischen Gleichgewichts, und wir wissen, wie wichtig es für den Frieden ist, daß unsere Politik im westlichen Bündnis und die Politik der Supermächte berechenbar bleiben. Die Unberechenbarkeit — ich stimme dem Bundeskanzler zu — ist auch für uns in Berlin die größte Gefahr. Es geht um die Berechenbarkeit der Politik. Genau das haben die Berliner Sozialdemokraten in ihrem Wahlprogramm gesagt. Was ist denn daran zu beanstanden? Herr von Weizsäcker ist doch selbst mit einer Delegation des Rats der Evangelischen Kirche Deutschlands unter Leitung des Vorsitzenden, Bischof Lohse, im Februar mit der Absicht nach Amerika geeilt, die Vereinigten Staaten auf den zweiten Teil des NATO-Beschlusses hinzuweisen und sie zu Abrüstungsgesprächen zu ermutigen. So berichtet uns jedenfalls der „Evangelische Pressedienst" in seiner Ausgabe vom 4. März 1981 ohne Widerspruch. Da ich Ihre Auffassungen kenne, haben Sie dies sicher auch getan. Aber warum attackieren Sie dann andere, die mit ihren Worten und mit ihrer Sprache das gleiche tun?

    (Beifall bei der FDP und der SPD — Wehner [SPD]: Das gehört zum Naturell mancher! — Zuruf von der CDU/CSU: Das war einer der Zwischenrufe, die Sie meinten!)

    Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte mit einem Dank schließen. Berlin dankt durch mich von der Rednertribüne des Deutschen Bundestages aus seinen Freunden, die Stadt dankt den Schutzmächten, sie dankt den alliierten Soldaten und ihren Angehörigen in der Stadt. Berlin dankt der Bundesregierung, dem Deutschen Bundestag und den Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepublik, die der Stadt in so zuverlässiger Weise helfen. Berlin dankt auch allen, die geschlossene Verträge strikt einhalten und voll anwenden. Berlin stattet diesen Dank nicht nur mit Worten, sondern auch durch das ab, was es auf seine — zugegebenermaßen mangelhafte und unzulängliche — Weise für die Menschlichkeit, den Frieden und die Freiheit leistet. Berlin wird stets auf der Seite des Friedens, der Freiheit und der Menschlichkeit stehen. Das ist unser Beitrag zur Lage und zur Zukunft der Nation.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD und der FDP)



Rede von Georg Leber
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat Herr Abgeordneter Ronneburger.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Uwe Ronneburger


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wegen der Rede, die der Kollege Zimmermann heute morgen hier im Bundestag gehalten hat — oder richtiger sollte ich vielleicht sagen: trotz dieser Rede —, möchte ich noch einmal auf die Frage zurückkommen, Herr Kollege Zimmermann, wer denn eigentlich die von Ihnen zur Zusammenarbeit ausgestreckte Hand zurückgewiesen hat. Waren nicht Sie selbst es, der in der Debatte über die Regierungserklärung das, was Ihr Fraktionsvorsitzender vormittags erklärt hat, im Laufe des Nachmittags bereits wieder korrigiert hat?

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

    Haben Sie heute nicht abermals Ihrem Fraktionsvorsitzenden widersprochen? Wie verträgt sich denn das, was Sie über den Grundlagenvertrag heute hier gesagt haben, mit dem, was Sie, Herr Kollege Dr. Kohl, in der Debatte über die Regierungserklärung ausgeführt haben?

    (Dr. Zimmermann [CDU/CSU]: Da ist überhaupt kein Unterschied! — Dr. Kohl [CDU/ CSU]: Zitieren Sie doch mal!)

    Ich darf zitieren: „Der Moskauer Vertrag, so hat Herr Kollege Kohl gesagt, der Warschauer Vertrag, der Grundlagenvertrag mit der DDR, der Brief zur deutschen Einheit, die Urteile des Bundesverfassungsgerichts, der UNO-Beitritt und die Schlußakte von Helsinki sind nicht nur geltendes Recht, an das wir uns halten, sie sind wesentliche Komponenten der deutschen Außenpolitik,

    (Dr. Kohl [CDU/CSU]: Das hat er doch gesagt!)

    die völker- und verfassungsrechtlich richtig ausgelegt, aber auch politisch intensiv im Interesse unseres Volkes und des Friedens genutzt werden müssen."

    (Dr. Kohl [CDU/CSU]: Das hat Dr. Zimmermann heute auch gesagt!)

    Dies, Herr Kollege Zimmermann, sollten Sie einmal mit dem vergleichen, was Sie heute wörtlich zum Grundlagenvertrag ausgeführt haben.

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

    Wir haben die ausgestreckte Hand nicht zurückgewiesen; aber ich sage Ihnen, daß es uns allerdings schwerfallen wird, dieses Angebot der Zusammenarbeit ernst zu nehmen und zu nutzen, wenn Sie, Herr Kollege Zimmermann, heute sagen, Sie könnten den Begriff der Entspannung nicht mehr hören.
    Ich sage Ihnen, ich bin bereit, mit jedem darüber zu sprechen, in welchen Zusammenhang von Realitäten wir das stellen, was wir als Politik der Entspannung, als Politik der Friedenssicherung auch weiter betreiben werden.
    Wenn aber hier die Rede davon war, die Opposition brauche nichts zurückzunehmen, sie habe keine Illusionen gehabt, frage ich: Wer hat denn eigentlich Illusionen aufgebaut?

    (Zuruf von der CDU/CSU: Sie!)




    Ronneburger
    Und ist es nicht eine Illusion, von der Sie heute ausgegangen sind, als Sie davon gesprochen haben, wie es denn z. B. mit der Staatsbürgerschaftsfrage sei? Sie haben mich kritisiert, weil ich die deutsche Staatsangehörigkeit als ein Angebot bezeichnet habe, von dem jeder Deutsche Gebrauch machen kann.

    (Graf Huyn [CDU/CSU]: Das ist falsch!)

    Aber Sie haben verschwiegen, was Sie denn mit einem Deutschen tun würden, der aus der DDR zu uns kommt und nichts anderes sein will als ein Staatsbürger der DDR. Diese Frage haben Sie nicht beantwortet.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das steht im Grundgesetz!)

    Diese Illusion geht genau in die gleiche Richtung, in der Herr Kollege Jäger (Wangen) vor kurzer Zeit mit einem Leserbrief an „Die Welt" herangetreten ist, in dem er dieser überparteilichen deutschen Tageszeitung

    (Wehner [SPD]: Na!)

    Mut bescheinigt hat, weil sie den Begriff DDR immer noch in Gänsefüßchen setzt.
    Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren, es gehört mehr Mut dazu, die Gänsefüßchen wegzulassen.

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

    Es gehört mehr Mut dazu, sich zu den Realitäten zu bekennen, nicht, weil man diese Realitäten für alle Zeit als unveränderlich betrachtet, sondern weil man, Herr Kollege von Weizsäcker, nur dann Erfolg in seiner Politik haben wird, wenn man Realitäten in sein politisches Kalkül einbezieht

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD — Zurufe von der CDU/CSU: Die FDP lebt das vor!)

    und mit diesen Realitäten arbeitet.
    Das, worum es uns geht, ist nicht, die deutsche Teilung hinzunehmen, sondern ist, sie zu überwinden, indem wir von dem ausgehen, was wir in unserer Umgebung, in unserer Welt heute vorfinden.
    Deswegen mache ich noch einmal den Versuch, zu definieren, was denn eigentlich die Ziele unserer Deutschlandpolitik sein könnten. Ich will versuchen, das in drei Punkten auszusprechen und aus diesen drei Punkten auch bestimmte Folgerungen, die wir bezüglich dieser Politik sehen, abzuleiten.
    Das erste Ziel ist nach meiner Überzeugung und der Überzeugung meiner Freunde ein Beitrag für eine friedliche Entwicklung in Mitteleuropa.
    Das zweite Ziel ist eine Milderung der Folgen der Teilung für die davon betroffenen Menschen. Hier geht es j a wohl vor allen Dingen um die Einwohner West-Berlins und um die Deutschen in der DDR, von denen der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung heute mit Recht gesagt hat, daß sie die Folgen des Krieges so viel schwerer, so viel nachdrücklicher haben spüren müssen als wir in der Bundesrepublik Deutschland.
    Das dritte Ziel scheint mir dann die Überwindung der deutschen Teilung zu sein — sicherlich ein langfristiges Ziel, von dem niemand von uns sagen kann, ob z. B. meine Generation seine Verwirklichung noch erleben wird. Das, was ich „Ziel 1" und „Ziel 2" genannt habe — Frieden in Mitteleuropa und Milderung, Erträglichmachen der Folgen der deutschen Teilung —, ist meiner Überzeugung nach allerdings die Voraussetzung dafür, daß wir dieses dritte Ziel überhaupt je erreichen können.
    Lassen Sie mich zunächst auf die Frage der Entspannung, des Abbaus von Spannungen in Mitteleuropa, eingehen. Die Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers hat hierzu mit vollem Recht gesagt, es sei Aufgabe der Bundesrepublik, aber auch aller Deutschen, in Europa dafür zu sorgen, daß von uns aus nicht eine zusätzliche Eskalation von Spannungen ausgeht, sondern die Lage hier in Mitteleuropa zu einer friedlichen Entwicklung auch über den engen europäischen Raum hinaus beitragen kann.
    Meine Damen und Herren, wenn ich dann versuche, die Koordinaten unserer Deutschlandpolitik auszumachen, möchte ich das folgendermaßen tun. Diese Koordinaten sind: die gesamte westliche Osteuropapolitik, die sowjetische Westeuropapolitik, der Stand der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen und der deutsch-sowjetischen Beziehungen, die Entwicklung des Ost-West-Verhältnisses insgesamt, das Viermächteabkommen, die mit der DDR getroffenen Verträge und Vereinbarungen sowie der Auftrag unseres Grundgesetzes.
    Wenn es also wirklich unsere Aufgabe ist, wenn wir etwas dafür tun können, daß der Friede in Mitteleuropa gesichert bleibt, bedeutet das allerdings gleichzeitig, daß die Bundesrepublik nicht gewillt und auch noch nicht einmal in der Lage ist, zwischen den Großmächten eine Sonderrolle zu spielen. Die beiden deutschen Staaten sind in unterschiedliche Bündnissysteme des Westens und des Ostens eingebunden. Trotzdem ergibt sich aus der gemeinsamen deutschen Geschichte — gerade der jüngsten Geschichte mit ihren Belastungen — bis heute für uns Deutsche eine besondere Verantwortung für die Sicherung und Erhaltung des Friedens.
    Deswegen habe ich mit großen Bedenken die Stellungnahme des Parlamentarischen Geschäftsführers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 5. Januar gehört, in der er die Äußerung des Bundeskanzlers in der Regierungserklärung kritisierte, wo es geheißen hatte, er, der Bundeskanzler, habe gemeinsam mit Honecker für alle Deutschen feststellen können, daß von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen dürfe. Wer schon diese Äußerung als eine Darstellung der deutschen Spaltung ansieht, wer dabei übersieht, daß hier in Wirklichkeit ein ganz wichtiger Punkt der Gemeinsamkeit der beiden deutschen Staaten angesprochen wird, der allerdings, meine Damen und Herren, erweist der gemeinsamen deutschen Sache einen schlechten Dienst.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Es wird darauf ankommen, genau an diesem Brennpunkt weltpolitischer und in unserem besonderen Interesse liegender Ereignisse den Dialog



    Ronneburger
    nicht abreißen zu lassen. Dies ist mit dem Ziel der Friedenssicherung wohl Hauptkernpunkt unserer Politik.
    Ich meine, wir sollten an dieser Stelle auch einmal sehr deutlich die Bemühungen des Bundesaußenministers um den Dialog zwischen Ost und West würdigen. Seine Reisen nach Washington, nach Prag, nach Warschau, nach Moskau, sein Auftreten in Madrid bei der KSZE-Folgekonferenz — alles dies ist Bestandteil einer einheitlichen Politik, der es darum geht, eben dieses Gespräch nicht abreißen zu lassen oder es wieder in Gang zu bringen, wo es heute nicht mehr stattfindet.
    Ich bin der Auffassung, wir sollten auch einmal mit aller Vorbehaltlosigkeit anerkennen, daß unsere Solidarität im Bündnis uns die Gelegenheit bietet, den deutschen Standpunkt, die besonders prekäre Situation Deutschlands im Bündnis auch gegenüber der neuen Administration in den USA darzulegen. Zugleich bedeutet diese Solidarität, daß die neue Administration bereit ist, diese unsere Ausführungen, diese unsere Darlegungen anzunehmen und in ihre Gesprächsbereitschaft einfließen zu lassen.
    Der Bundeskanzler hat heute schon einmal aus der gemeinsamen Erklärung anläßlich der 37. deutsch-französischen Konsultationen zitiert. Ich möchte diesem Zitat, Herr Bundeskanzler, noch einige Sätze im Anschluß an das, was Sie zitiert haben, hinzufügen. Es ist da die Rede von der „Forderung nach sicherheitspolitischem Gleichgewicht". Ich zitiere:
    Diese Forderung — so heißt es hier —
    setzt voraus, daß die Bemühungen um Rüstungsbeschränkung und Rüstungsverminderung dem Prinzip des globalen Kräftegleichgewichts Rechnung tragen. Sie verlangt Wachsamkeit und Dialog gleichermaßen.
    Ich glaube, das ist genau das, was in der Außenpolitik dieser Bundesregierung immer wieder zum Ausdruck kommt. Daß unsere Stimme hörbar wird, bedeutet keine Überschätzung unserer eigenen Position. Aber ich würde genauso davor warnen, unsere eigenen Möglichkeiten zu unterschätzen.
    Das gemeinsame Kommuniqué, das nach dem Besuch von Bundesaußenminister Genscher bei Außenminister Haig in Washington herausgegeben worden ist, zeigt an einigen Punkten sehr deutlich das, was ich soeben darzulegen versucht habe. Es heißt dort:
    Beide Minister stimmten darin überein, daß substantielle und verifizierbare rüstungskontrollpolitische Vereinbarungen ein wichtiger Faktor der Sicherheitspolitik sind. Die Vereinigten Staaten und die Bundesrepublik Deutschland unterstützen beide Teile des Bündnisbeschlusses vom 12. Dezember 1979 betreffend Mittelstreckenraketen. Außenminister Genscher begrüßte die Zusicherung von Außenminister Haig, daß die Vereinigten Staaten beabsichtigten, auch weiterhin enge Konsultationen mit
    ihren Verbündeten über die Durchführung beider Teile dieses Beschlusses zu führen.
    Gerade mit einem Blick auf Berlin zitiere ich noch eine andere Stelle, die mir gerade in dem Jahr wichtig erscheint, in dem das Viermächteabkommen zehn Jahre besteht. Es heißt an dieser anderen Stelle:
    Beide Minister waren übereinstimmend der Auffassung, daß der Aufrechterhaltung der ruhigen Lage in und um Berlin besondere Bedeutung zukommt, was von entscheidender Wichtigkeit für die Sicherheit in Europa, das Ost-West-Verhältnis und die internationale Lage als Ganzes ist. Außenminister Haig bekräftigte erneut die unerschütterliche Verpflichtung der Vereinigten Staaten für die Sicherheit und das Wohlergehen West-Berlins.
    Dies mit unseren Verbündeten gemeinsam auszusprechen und als einen Kernpunkt unserer Deutschlandpolitik zu betrachten, Herr Dr. Vogel, ist, glaube ich, etwas, was an dieser Stelle auch noch einmal ausdrücklich ausgesprochen werden sollte.
    Wenn wir so Friedenspolitik, eine Politik des Abbaus von Spannungen, als unser Ziel betrachten, dann sollten wir uns ebenso darüber klar sein, daß es nicht Ziel unserer Politik sein kann, den heute bestehenden prinzipiellen politischen und ideologischen Gegensatz zwischen Ost und West aufzuheben. Es kann auch nicht in unserem eigenen Interesse liegen, durch unsere Ost- und Deutschlandpolitik in Osteuropa eine innere politische Destabilisierung herbeizuführen. Denn sowohl alle Versuche, die bestehenden Gegensätze zu verwischen, als auch eine politische Destabilisierung durch unser eigenes Verhalten zu verursachen, würden für die Menschen in Osteuropa gefährliche Folgen haben und letztlich auch die Sicherheit der westlichen Welt erheblich beeinträchtigen.
    Ich sage dies, ohne zu verschweigen, daß in den Ländern des Ostblocks von der Schlußakte von Helsinki bestimmte Wirkungen ausgehen, die zu einer evolutionären Entwicklung in diesen Ländern führen können. Das Beispiel Polen zeigt aber sehr deutlich, daß unser Interesse darin liegen kann und liegen muß, mit unserer Politik dem Frieden zu dienen und den betroffenen Menschen zu helfen und damit mehr für eine gute Entwicklung zu tun, als wenn wir versuchten, mit Einwirkung von außen diese Entwicklungen zu beeinflussen.
    Es kann nach meiner Überzeugung kein Zeichen von Schwäche sein, wenn wir uns bei all unseren Initiativen zur Verbesserung der Lage der Menschen immer wieder klarmachen, von welchem Standpunkt unser jeweiliger Verhandlungspartner ausgeht, und wenn wir die Punkte sorgfältig analysieren, bei denen bei ihm besondere Empfindlichkeiten oder Schwierigkeiten vermutet werden müssen. Unsere Aufgabe in der Bundesrepublik Deutschland ist es, nicht nur Gemeinsamkeiten in Sonntagsreden zu suchen, sondern die gemeinsam definierten Interessen und Zielsetzungen in der täglichen Kärrnerarbeit in praktische Politik umzusetzen.



    Ronneburger
    Herr Kollege Zimmermann, dazu sage ich aus voller Überzeugung: Die bisherigen Erfolge der deutsch-deutschen Politik der letzten elf Jahre zeigen doch wohl, daß hier nicht von dem geredet werden kann, was Sie vorhin den Tiefpunkt der deutschdeutschen Beziehungen oder der Deutschlandpolitik genannt haben.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Es ist in dieser Zeit, Herr Dr. Zimmermann, gelungen, weder durch Überheblichkeit, noch durch Druck oder Muskelspiel, sondern durch Verständnis, durch Blick für das in der jeweiligen Situation Machbare und durch Werben um ein Mindestmaß an Vertrauen weitgehend tragbare Lösungen für die Menschen zu finden. Ich sage dies auch angesichts der Tatsache, daß die Erhöhung des Zwangsumtausches einen Eingriff in das bisher Vereinbarte bedeutet und daß diese Erhöhung des Zwangsumtausches auch gleichzeitig eine Rücknahme bestimmter Vorstellungen auf beiden Seiten gebracht hat, eine unsoziale Maßnahme, durch die diejenigen besonders getroffen werden, die nur ein geringes Einkommen zur Verfügung haben. Die DDR sollte sich deswegen darüber im klaren sein, daß bei den wieder zu eröffnenden Gesprächen die Frage des Zwangsumtausches auf unserer Liste der Tagesordnungspunkte stehen wird.
    Auf jeden Fall sollten wir versuchen, durch eine konsequente, eine berechenbare Politik, die auch Rückschläge einkalkuliert, unsere Ziele weiter zu verfolgen. Denn wenn die Frage gestellt worden ist: „Wozu dieser jährliche Bericht, wozu diese jährliche Debatte?", dann geht es eben genau darum, die Frage der Deutschlandpolitik offenzuhalten, auch in unserer eigenen Bevölkerung das Bewußtsein dafür zu erhalten, daß es hier nicht nur um einen Rückgriff auf nationalstaatliche Überlegungen geht, sondern daß wir als Deutsche in der Bundesrepublik Deutschland, die wir die Möglichkeit der freien Entscheidung haben, auch die Verpflichtung haben, eine Politik zu treiben, die diese deutsche Frage offenhält.
    Und dies ist mehr als eine Pflichtübung jedes Jahr; denn ich bin — leider — nicht so überzeugt wie der Kollege Zimmermann, daß alle Deutschen in Ost und West uneingeschränkt an der Idee der deutschen Einheit festhalten. Ich registriere zu meinem Bedauern, daß es immer mehr Menschen innerhalb Deutschlands, aber auch in unseren Nachbarstaaten gibt, die mit dem Begriff Deutschland auf einmal nur noch das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland verbinden und für die die DDR ein Staat außerhalb dieser Grenzen ist. Wenn es uns nicht gelingt, das Bewußtsein dafür aufrechtzuerhalten, daß Deutschland nicht an der Elbe endet, sowenig wie Europa an der Oder-Neiße-Linie, meine Damen und Herren, dann werden alle Bemühungen der Deutschlandpolitik, die wir gemeinsam oder einzeln unternehmen, zum Scheitern verurteilt sein.

    (Beifall bei der FDP)

    Ich sage an dieser Stelle noch einmal —, um nicht mißverstanden zu werden —, mit einem ganz besonderen Blick auf die Deutschlandpolitik, daß unsere
    Handlungsfähigkeit auf diesem Gebiet von unserer unbestrittenen und unbezweifelbaren Rolle im westlichen Bündnis abhängt. Die Vorstellung, die Deutschen könnten sozusagen eine Position zwischen den Blöcken einnehmen, ist eine Illusion und wäre ein Ende jedes vernünftigen Handlungsspielraums für uns in diesem Bereich. Alles, war wir deutschlandpolitisch tun, tun wir aus dem westlichen Bündnis heraus und als einer der Staaten, die ihre Solidarität in diesem Bündnis nicht bezweifeln lassen. Ich habe das, was ich in diesem Sinne unter Solidarität verstehe, eingangs bereits beschrieben.
    Aber zu unserer Handlungsfähigkeit gehören natürlich auch unsere wirtschaftliche Konsolidierung und unsere wirtschaftliche Situation. Es ist von dem Abbau des Handelsbilanzdefizits in der Erklärung der Bundesregierung die Rede gewesen. Die FDP-Fraktion begrüßt ausdrücklich die Beschlüsse des Bundeskabinetts, die gestern zu diesem Bereich gefaßt worden sind. Ich will sie hier gar nicht im einzelnen erläutern, aber ich will sehr deutlich dazu sagen, daß wir sie deswegen begrüßen, weil wir davon überzeugt sind, daß sie nicht ein falsch verstandenes Konjunkturprogramm darstellen,

    (Dr. Barzel [CDU/CSU]: Schattenhaushalt!)

    sondern eine Aufforderung zur Leistung, zum Handeln. Übrigens, Herr Kollege Dr. Barzel, war das keine überraschende Entscheidung der Bundesregierung in dieser Richtung. Man könnte aus dem Jahreswirtschaftsbericht zitieren, man könnte aus der Haushaltsrede des Bundesfinanzministers zitieren, und man würde genau vorgezeichnet finden, was jetzt Inhalt dieser Beschlüsse ist. Unsere Handlungsfähigkeit ist gefragt und unsere Bereitschaft zur Leistung und dies besonders auch auf unserer Seite, weil wir damit überhaupt erst in die Lage versetzt werden, unserer Verantwortung gegenüber den Deutschen gerecht zu werden, die in einer schlechteren Situation sind als wir.
    Aber lassen Sie mich noch einmal auf die Frage zurückkommen, ob wir denn wirklich von einem Tiefpunkt des Verhältnisses zwischen den beiden deutschen Staaten reden können oder von einem Scheitern der Entspannungspolitik. Wer so argumentiert, der übersieht völlig, daß von dem, was in den letzten elf Jahren zwischen den beiden deutschen Staaten vereinbart worden ist, etwa 90 % auch heute uneingeschränkt und unangetastet funktionieren und zum Besten der Menschen in beiden Teilen Deutschlands ablaufen.

    (Sehr richtig! bei der FDP)

    Ich habe den Eingriff, den die Erhöhung des Zwangsumtausches gerade in dem Bereich menschlicher Beziehungen und Kontakte bedeutet, vorhin bereits dargestellt und unsere Haltung dazu unmißverständlich, wie ich meine, geschildert. Aber ist es denn nicht so, daß der Transitverkehr von und nach Berlin reibungslos verläuft? Gibt es nicht nach wie vor auch Ost-West-Reisen von Rentnern und in dringenden Familienangelegenheiten, teilweise sogar mit steigender Tendenz? Funktionieren nicht die Familienzusammenführung und — lassen Sie mich



    Ronneburger
    das nur am Rande sagen — die besonderen Maßnahmen? Werden die Gespräche über den Abschluß eines Abkommens über wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit fortgeführt? Ich nenne weiter die regelmäßigen Arbeitsbesprechungen der verschiedenen Kommissionen, Kontakte auf Grund spezieller Vereinbarungen, den weiteren Ausbau des Telefonverkehrs in die DDR, technische Gespräche über Verkehrsfragen, Abbau von Kali und Braunkohle, Vereinbarungen im Umweltschutz über die Werraversalzung und Elbeverschmutzung. Es gibt eine Fülle von Themen, wozu ich besonders sagen würde, daß es wichtig ist, daß das Viermächteabkommen unangetastet bleibt.
    Aber es ist auch wichtig, daß wir in Fragen des kulturellen Austausches, in Fragen der Bewältigung unserer Geschichte auf unserer Seite mehr tun, als wir in der Vergangenheit getan haben. Ich könnte mir vorstellen, daß ein solcher kultureller Austausch auch unterhalb der Ebene eines offiziellen Abkommens stattfinden könnte. Aber ich weiß nur zu genau — dies ist der Punkt, an dem die gegensätzlichen Zielsetzungen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland nur zu sichtbar werden —, daß die DDR zu einer solchen Zusammenarbeit zur Zeit nicht bereit ist. Dafür gibt es einen, wie sie meint, sehr einleuchtenden Grund. Die partielle, selektive Inanspruchnahme bestimmter Abschnitte der deutschen Geschichte durch die DDR hat ganz eindeutig das Ziel, das fehlende Nationalbewußtsein der DDR zu ersetzen.
    Für diese Inanspruchnahme gibt es ein sehr deutliches Beispiel. Wenn Sie an die Vorbereitungen der DDR für das Luther-Jahr denken, dann werden Sie nicht übersehen können, daß die DDR hier wiederum versucht, eine bestimmte Figur, eine Wurzel gemeinsamer Entwicklungen in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland für sich in Anspruch zu nehmen. Das beste, was nach deren Vorstellung dabei erfolgen kann, ist etwa das Schicksal, das damals dem Türken auf dem Kreuzzug Barbarossas geschah, nämlich daß Luther von oben bis unten durchgeteilt wird: zur Rechten wie zur Linken sieht man einen halben Luther heruntersinken.
    Ich meine, daß wir in der Zukunft hier mehr werden tun müssen und uns sorgfältiger mit der Frage befassen müssen, welche Wurzeln in der Vergangenheit mit Wirkungen in beide Teile Deutschlands hinein vorhanden sind. Luther kann weder von der einen noch von der anderen Seite für sich in Anspruch genommen werden. Sein Wirken zeigt bis in unsere Gegenwart, daß diese beiden Teile Deutschlands nicht etwa nur durch ein nationalistisches Denken miteinander verbunden sind, sondern daß es Gemeinsamkeiten gibt, die auch durch Argumentation, durch Erpressung oder was auch immer nicht aus der Welt geschafft werden können.
    Wir sollten uns um diese Fragen exakter kümmern. Wir sollten, auch wenn diese Zusammenarbeit mit der DDR im Augenblick nicht möglich ist, notfalls auch zu einem Wettbewerb in diesen Fragen bereit sein und unsere Position sehr deutlich machen.
    Realitäten zu erkennen, mit ihnen zu arbeiten ist die Aufgabe, vor der wir in der Deutschlandpolitik stehen. Ich habe auf die Ziele 2 und 3 hingewiesen: Erträglichmachung der Folgen der Teilung und ihre langfristige Überwindung. Aber ich möchte Ihnen an dieser Stelle keinen Zweifel darüber lassen, daß diese beiden Ziele in einem bestimmten Spannungsverhältnis zueinander stehen können. Wenn es uns nicht gelingt, den Deutschen im anderen Teil Deutschlands sichtbar und erkennbar zu machen, daß ihr Schicksal uns wichtiger ist als das Innehaben von Rechtsstandpunkten, als das Beharren auf gewissen überkommenen Vorstellungen, wenn uns dies nicht gelingt, dann werden wir den Willen zur Zusammengehörigkeit der Nation, den die Regierungserklärung des Bundeskanzlers noch einmal sehr deutlich herausgestellt hat, nicht aufrechterhalten. Und dann könnte alles das wirkungslos werden, was wir an Gemeinsamkeiten übernommen haben, an gemeinsamer Geschichte gemeinsam erlebt oder erlitten haben, was uns an gemeinsamer Tradition, Kultur und Sprache verbindet. Deswegen gibt es für uns nach unseren Vorstellungen eine Deutschlandpolitik nicht nur in der Frage der Regelung der Verhältnisse zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, sondern es gibt diese Aufgabe auch hier bei uns im Lande. Das Bewußtsein für das deutsche Problem wachzuhalten, ist sicherlich auch eine Frage der Bewältigung und der Behandlung der Geschichte. Es ist eine Frage, wie wir mit dem gemeinsamen Kulturerbe umgehen und wie wir deutlich machen, welches Gewicht ihm auch heute noch zukommt. Dies ist Zusammenarbeit oder Wettbewerb.
    Meine Damen und Herren, wir haben hier keine leichte Aufgabe vor uns und keine Aufgabe, von der wir exakt sagen könnten, wann wir sie gelöst haben werden. Möglicherweise wird es erst die Generation nach uns sein. Aber eines sage ich sehr deutlich: Wir sollten uns keine Illusionen machen, und wir sollten wissen, daß wir uns und daß sich unsere junge Generation mehr mit der deutschen Geschichte befassen müssen, als wir es getan haben, wenn es auch eine deutsche Zukunft geben soll.

    (Dr. Barzel [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

    Dies, meine ich, sollte unser gemeinsames Ziel sein. — Ich danke Ihnen.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)