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    Plenarprotokoll 9/17 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 17. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 28. Januar 1981 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 607 A Eidesleistung des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft Engholm, Bundesminister BMBW 607 B Fortsetzung der Aussprache über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1981 (Haushaltsgesetz 1981) — Drucksache 9/50 — in Verbindung mit Beratung des Finanzplans des Bundes 1980 bis 1984 — Drucksache 9/51 — in Verbindung mit Fortsetzung der ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Mineralöl- und Branntweinsteuer-Änderungsgesetzes 1981 — Drucksache 9/91 — in Verbindung mit Fortsetzung der ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau von Subventionen und sonstigen Vergünstigungen, zur Erhöhung der Postablieferung sowie zur Klarstellung von Wohngeldregelungen (Subventionsabbaugesetz) — Drucksache 9/92 — Dr. h. c. Strauß, Ministerpräsident des Freistaates Bayern 608A Dr. Posser, Minister des Landes NordrheinWestfalen 622 C Hoppe FDP 633 B Dr. von Weizsäcker CDU/CSU 637 D Brandt SPD 645A Genscher, Bundesminister AA 652 B Würzbach CDU/CSU 661 D Dr. Apel, Bundesminister BMVg 666 C, 680B, 681 B Jung (Kandel) FDP 673 C Biehle CDU/CSU 675 D Würtz SPD 678 D II Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 17. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Januar 1981 Dr. Wörner CDU/CSU 680 D Dr. Mertes (Gerolstein) CDU/CSU . . . 682 B Dr. Ehmke SPD 686 B Schäfer (Mainz) FDP 691 C Dr. Hupka CDU/CSU 693 D Pieroth CDU/CSU 696 B Schluckebier SPD 698 D Frau Schuchardt FDP 701 B Offergeld, Bundesminister BMZ 704 D Dr. Köhler (Wolfsburg) CDU/CSU 707 C Dr. Hupka CDU/CSU (Erklärung nach § 32 GO) 709 C Nächste Sitzung 709 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 710*A Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 17. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Januar 1981 607 17. Sitzung Bonn, den 28. Januar 1981 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. van Aerssen 30. 1. Dr. Ahrens * 30. 1. Dr. Althammer 30. 1. Dr. Bardens * 30. 1. Böhm (Melsungen) * 30. 1. Büchner (Speyer) * 30. 1. Dr. Dollinger 30. 1. Dr. Enders * 30. 1. Francke (Hamburg) 30. 1. Dr. Geßner * 30. 1. Dr. Hennig 30. 1. Hoffie 28. 1. Dr. Hubrig 30. 1. Jäger (Wangen) * 30. 1. Junghans 28. 1. Kittelmann * 30. 1. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Klein (Dieburg) 30. 1. Korber 30. 1. Lemmrich * 30. 1. Lenzer * 30. 1. Männing * 30. 1. Dr. Müller * 30. 1. Müller (Wadern) * 30. 1. Frau Pack * 30. 1. Peter (Kassel) 30. 1. Petersen ** 30. 1. Reddemann * 30. 1. Rösch * 30. 1. Sander 30. 1. Dr. Schäuble * 30. 1. Schmidt (München) * 30. 1. Schmidt (Würgendorf) * 30. 1. Dr. Schroeder (Freiburg) 30. 1. Schulte (Unna) * 30. 1. Frau Simonis 30. 1. Frau Dr. Skarpelis-Sperk 30. 1. Dr. Freiherr Spies von Büllesheim * 30. 1. Dr. Sprung * 30. 1. Dr. Unland * 30. 1. Dr. Vohrer * 30. 1. Dr. Wittmann (München) * 30. 1. Dr. Wieczorek 30. 1.
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    Rede von Hans-Dietrich Genscher


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Ich habe ja gar nicht gesagt, verehrter Herr Kollege, daß Sie sich das zu eigen gemacht haben; aber es wird ja wohl noch erlaubt sein, sich mit einem Begriff auseinanderzusetzen, der — mit und ohne „Prawda" — im Augenblick durch die öffentliche Landschaft schwirrt und wo ich gern eine Klarstellung bringen möchte.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Wenn wir in dieser Frage übereinstimmen, ist das ein Gewinn dieser Debatte.
    Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke, daß es verdienstvoll war, daß Herr Kollege Brandt im Zusammenhang mit den sicherheitspolitischen Problemen, mit den Fragen der Rüstungskontrollpolitik und anderen jene nachdenkliche Frage aufgeworfen hat, die ohne Zweifel auch Gegenstand der Diskussionen in unserem Lande ist. Der Deutsche Bundestag würde ganz sicher seine Aufgabe versäumen, wenn er nicht die Voraussetzungen und die Notwendigkeiten unserer Sicherheit offen, sich mit anderen Argumenten auseinandersetzend, diskutieren würde.
    Herr Kollege von Weizsäcker hat heute vormittag kritisiert, der Bundeskanzler verweigere sozusagen geistige Führung. Ich habe bei all diesen Diskussionen manchmal das Gefühl gehabt, daß hier eher ein Begriffs- als ein Inhaltsstreit vorhanden ist. Wenn Sie der Auffassung sind, daß es zur geistigen Führung gehört, in unserem Volk und in der Öffentlichkeit auf die Notwendigkeit dessen hinzuweisen, was wir brauchen, um unsere Sicherheit zu garantieren, stimme ich Ihnen zu; aber da können Sie dem Bundeskanzler nun wirklich nicht vorwerfen, daß er sich in dieser Frage nicht zu Wort melde. Die Frage: Nachrüstungsbeschluß — ja oder nein, eine Frage, die im Augenblick wieder in der Diskussion ist, ist doch nicht etwas, was andere dem Bundeskanzler aufgedrängt haben, sondern das ist ein Problem, auf das er zuerst hingewiesen und die deutsche Öffentlichkeit vorbereitet hat. Schließlich hat er erreicht, daß wir uns in einem großen Konsens — politisch hier in diesem Hause, aber auch in der deutschen Öffentlichkeit — für das entscheiden konnten, was notwendig ist, damit wir die eigene und gemeinsame Sicherheit des Bündnisses garantieren können. Das



    Bundesminister Genscher
    ist geistige Führung ohne autoritäre Inanspruchnahme von Titeln und Positionen.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Ich stimme ganz dem zu, was der Herr Kollege von Weizsäcker heute über den Willen und die Bereitschaft zu mehr Mitgestaltung und Mitverantwortung gesagt hat. Dieser Wille wird in unserer Gesellschaft sichtbar und erkennbar. Er äußert sich auf vielfältige Art und Weise, die ich positiv empfinde. Er äußert sich an manchen Stellen in einer Weise, wo die Berechtigung nicht zu bestreiten ist, die Zielrichtung aber absolut im Gegensatz zu dem steht, was wir als Auffassung vertreten; denken Sie etwa an Hausbesetzungen und ähnliches. Wir haben, so meine ich, eine Entwicklung in unserem Lande, die dahin geht, daß viele unserer Bürger — ich bin sehr froh darüber, sagen zu können: viele junge Menschen — mehr Freiheit, mehr Verantwortung und mehr Menschlichkeit wollen. Hierhin gehört übrigens auch der Wille, über gesündere Lebensbedingungen mitzuentscheiden. Wir können dabei helfen, indem wir zum Abbau von Staatstätigkeit beitragen, indem wir Dezentralisierung begünstigen, um Initiative und Wandel zu ermöglichen. Denn es gibt überhaupt keinen Zweifel: Dieser große befreiende Impuls, der sichtbar wird und der sich in richtigen und auch in von uns für falsch gehaltenen Mitteln und Zielen äußert, ist notwendig, um mehr Verantwortung und Freiheit in dieser Gesellschaft erreichen zu können.
    Nun, meine Damen und Herren, wenn so etwas dann sichtbar wird, dann muß man auch Probleme, die sich daraus ergeben können, offen, auch wenn sie unbequem sind, akzeptieren und sich ihnen stellen. Wir haben in der Koalition, in der Bundesregierung eine Diskussion — wir werden sie auch im Deutschen Bundestag haben — über die, wie ich zugebe, sehr schwierige Frage der Verbandsklage gehabt, die manches Problem im Einzelfall schaffen mag und die mancher bürokratischen Entscheidung zunehmende und zusätzliche Überzeugungskraft abverlangen wird. Aber der mitdenkende, der mithandelnde, der mitentscheidende Bürger ist nun einmal unbequem aus sich heraus. Meine Damen und Herren, da sind wir doch sicher einer Meinung: Machtausübung in Staat und Gesellschaft darf für die, die sie ausüben, niemals bequem sein. Denn Bequemlichkeit ist in Wahrheit die Schlaftablette für die Demokratie — hier und anderswo auch.

    (Beifall bei der FDP)

    Ich meine, daß wir in einer Zeit, in der mit Recht darauf hingewiesen wird, daß wir an die Grenzen des Möglichen gestoßen sind, stärker das Verständnis dafür wecken müssen, daß Reform nicht eine Frage voller Kassen ist. Es gibt j a Leute, für die heißt Reform mehr Geld für immer mehr Leute ausgeben. Sie vergessen dabei, daß als Folge davon immer mehr Leute immer weniger von ihrem Arbeitseinkommen behalten würden.

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU)

    Niemand in diesem Lande will das in Frage stellen,
    was für unseren sozialen Rechtsstaat erreicht worden ist, wobei wir alle wissen, daß es nicht eine vollkommene sozialstaatliche Ordnung ist. Da gibt es manches auszufüllen, da gibt es vieles fortzuentwikkeln. Trotzdem müssen wir erkennen, daß die Frage, ob die Grenzen sichtbar werden oder nicht, nicht nur eine materielle ist, sondern daß es auch darum geht, Raum für Selbsthilfe, Raum für Initiativen der Hilfe zu lassen, die von Freiwilligkeit getragen und auch von Individualität geprägt sind. Wenn man das ersticken würde, würde man ein Stück Freiheit erstikken. Deshalb wollen wir dazu beitragen, daß leere Kassen nicht als ein Argument gegen Reformen benutzt, sondern als ein Impuls zu freiheitlicher Reform empfunden werden. Zu dieser freiheitlichen Reform gehört, daß wir immer wieder überzeugungskräftig unseren Staat und unsere Gesellschaft erhalten. Herr Kollege Brandt hat das in bezug auf Staaten der Dritten Welt gesagt; ich denke, es gilt für die Industriestaaten genauso. Die Frage der Sicherheit nach innen und außen ist nicht allein eine Frage der militärischen Stärke, es ist auch eine Frage der inneren Stabilität, der Freiheitlichkeit und der sozialen Gerechtigkeit.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Nur wo das vorhanden ist, wird die Gesellschaft als verteidigungswürdig empfunden. Das ist einer der Gründe, warum wir in dieser Bundesrepublik Deutschland immer ausgehend von der Forderung des Grundgesetzes nach einem freiheitlichen Rechts- und Sozialstaat gehandelt haben.
    Hierher gehört auch das von Herrn Kollegen Brandt noch einmal erwähnte Thema der Mitbestimmung. Ich habe anläßlich der Debatte über die Regierungserklärung gesagt: Wenn es darum geht, Rechte des einzelnen in seinem Arbeitsbereich zu stärken, kann man mit uns einen langen Weg gehen. Da ist noch vieles zu schaffen. — Das Thema, das wir im Augenblick in der Koalition diskutieren, wird sich auch an der Frage entscheiden müssen, wieweit die beiden Seiten der Regierungskoalition bereit sind, im Wahlverfahren der Fähigkeit des Arbeitnehmers zur Selbstbestimmung im Unternehmen Rechnung zu tragen. Da ist Selbstbestimmung die höchste Form der Mitbestimmung. Das ist der Grund, warum sich manche dabei vielleicht manchmal ein bißchen schwertun.

    (Beifall bei der FDP)

    Aber in der Zielsetzung, hier soziale Demokratie zu praktizieren und zu verwirklichen und zu verbessern, sind wir ganz einig, und das brauchen wir auch, wenn wir die sehr schwierigen Fragen der Anpassung unserer Volkswirtschaft an die internationale Entwicklung beantworten und die damit zusammenhängenden Probleme bewältigen wollen.
    Herr Kollege Brandt hat den Bundeswirtschaftsminister dankenswerterweise vor sehr unberechtigten und ungerechtfertigten Angriffen in Schutz genommen, die er ertragen mußte. In Wahrheit hat er ja nur darauf hingewiesen, daß wir uns als ein Land der Marktwirtschaft, als ein Land der offenen Weltwirtschaft nach innen und außen dem internationalen Konkurrenzdruck stellen müssen und daß es darum geht, unsere Marktposition auf fremden Märkten, aber auch gegenüber der fremden Konkur-



    Bundesminister Genscher
    renz auf dem eigenen Markt zu behaupten. Das bedeutet Innovationsfähigkeit, das bedeutet Befreiung der Wirtschaft von Hemmnissen

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Haase [Kassel] [CDU/CSU]: So ist es!)

    dort, wo sie heute bürokratisch vorhanden sind, und das bedeutet Leistung und Leistungswille des einzelnen.

    (Beifall bei der FDP)

    Meine Damen und Herren, der sogenannte JapanSchock darf eben nicht zur wirtschaftlichen Lähmung oder gar zum Protektionismus führen; er muß für eine Neubesinnung genutzt werden, die uns wettbewerbsfähig macht und die Wettbewerbsfähigkeit dort, wo sie verlorengeht oder verlorengegangen ist, wiederherstellt. Ich meine das jetzt nicht nur so, wie es vordergründig im Augenblick in bezug auf die j a-panische Konkurrenz diskutiert wird. Es gibt j a immer neue Problemstellungen, die alle anderen Probleme, die es in der Welt gibt, verdrängen. Wer nur über Japan redet und glaubt, alle Probleme seien schon erledigt, wenn man mit Japan seinen Ausgleich fände, der wird schlimme Dinge erleben.
    Wir alle bekennen uns zur Hilfe für die Dritte Welt. Es gehört zu den großen Vorzügen der Aussprachen, die wir hier im Deutschen Bundestag gehabt haben, daß wir Hilfe für die Dritte Welt niemals nur als öffentliche Entwicklungshilfe verstanden haben, sondern daß wir Hilfe für die Dritte Welt auch als Öffnung der Märkte der Industrieländer für Halbfertigwaren und Fertigwaren aus Staaten der Dritten Welt verstehen, und daß wir eben Schluß machen mit der Vorstellung, die Staaten der Dritten Welt hätten ihre Funktion in der Weltwirtschaft darin zu sehen, daß sie Rohstoff- und Energielieferanten sind. Nein, wenn sie gleichberechtigt in unser freies Weltwirtschaftssystem eingeordnet werden sollen, dann müssen sie auch die gleichen Marktchancen bekommen, auch wenn das schwierige strukturelle Anpassungsprozesse in den Industriestaaten nach sich ziehen wird.

    (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Da muß ich sagen, daß nicht nur auf dem Feld der öffentlichen Entwicklungshilfeleistungen, sondern auch bei der Marktöffnung die sozialistischen Staaten schnellstens einen erheblichen Nachholbedarf erfüllen müssen. Man muß bedenken, daß weniger als 5 % der Exporte der Staaten der Dritten Welt in die sozialistischen Staaten gehen, aber über 70 % in die marktwirtschaftlichen Staaten; der Rest ist Austausch der Entwicklungsländer untereinander.
    Herr Kollege Brandt hat darauf hingewiesen, welche große Aufgabe im Nord-Süd-Dialog liegt. Wir sind im Moment dabei, die globalen Verhandlungen — wie wir hoffen — konstruktiv zu gestalten. Meine besondere Hoffnung ist, daß der für Mexiko im Sommer vorgesehene Nord-Süd-Gipfel diesen globalen Verhandlungen Impulse geben kann. Wenn ich wieder nach Wien zur zweiten Außenminister-Vorbereitungskonferenz gehen werde, werde ich genauso wie beim erstenmal sehr darauf drängen, daß in den
    Kreis der Einzuladenden auch Staaten wie die Sowjetunion und andere sozialistische Staaten und auch die Volksrepublik China einbezogen werden, schon um der Weltöffentlichkeit zu zeigen, daß hier eine gemeinsame Verantwortung der nördlichen Staaten, der Industriestaaten, gegenüber dem Süden besteht.
    Es geht also darum, daß wir uns hier in der Bundesrepublik Deutschland bewußt sind, daß wir durch eine Sicherung und Garantie unserer internationalen Wettbewerbsfähigkeit — nichts anderes hat der Kollege Graf Lambsdorff immer wieder sagen wollen — dazu beitragen, die Leistungsfähigkeit dieses Landes so zu stärken, daß es seinen Aufgaben gerecht werden kann. Das alles brauchen wir ganz besonders deshalb, weil wir zusammen mit den anderen westlichen Staaten einer großen Herausforderung gegenüberstehen.
    Meine Damen und Herren, wir stehen in einer Phase, in der sich neuerlich zu entscheiden hat, ob es zu einer neuen Konfrontation zwischen West und Ost, zwischen Nord und Süd oder ob es zur Kooperation kommen wird. Wir können nicht übersehen, daß die Sowjetunion inzwischen zu einer globalen Militärmacht geworden ist, mit globalen Machtansprüchen, denen wir uns weltweit gegenübersehen.
    Das alles ereignet sich in einer Zeit, in der die Staaten der Dritten Welt zu Recht eine gleichberechtigte Teilnahme an der Weltpolitik und der Weltwirtschaft fordern; es ereignet sich in einer Zeit, in der in vielen Regionen der Dritten Welt die Konflikte um die innere Stabilität zunehmen, in einer Zeit, in der die Unsicherheit der Energieversorgung durch Konflikte in solchen Gebieten, in denen Energiequellen für uns vorhanden sind, erhöht wird, in einer Zeit, in der Energiekrise, Zahlungsbilanzungleichgewichte, Inflation und Wachstumsschwäche in den Industrieländern nachhaltig schlechte Wirkungen auch auf die Staaten der Dritten Welt haben.
    Angesichts einer solchen Weltlage kommt der Sicherung der außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Bedingungen für Frieden und Freiheit die oberste Priorität zu. „Frieden und Freiheit", man könnte auch sagen „Frieden in Freiheit", das war es, was der amerikanische Außenminister Haig ausdrücken wollte, als er formulierte „Es gibt noch mehr als Frieden". Das sollte nicht heißen, daß es Wichtigeres gibt; aber daß Frieden in Freiheit wichtig ist, ist ganz unbestritten.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Kohl [CDU/CSU]: Da haben Sie den „vollen" Beifall Ihres Koalitionspartners!)

    Es ist wichtig, daß wir bei der ständig notwendigen Prüfung unserer außenpolitischen Positionen feststellen: Das Fundament für eine Außen- und Sicherheitspolitik, die unserem Land ein solches Leben in Frieden und Freiheit gewährleisten soll, ist unsere Einbettung in die Europäische Gemeinschaft und das Nordatlantische Bündnis. Wir müssen das Unsere dazu beitragen, daß diese beiden Gemeinschaften einig, stark und handlungsfähig bleiben. Das ist grundlegende und erste Aufgabe der deutschen Außenpolitik. Eine solidarische und koordi-



    Bundesminister Genscher
    nierte Politik der westlichen Demokratien ist da das Gebot der Stunde.

    (Zustimmung bei der FDP)

    Hier muß man sich bewußt sein, daß im Zentrum der gemeinsamen Politik die Übereinstimmung zwischen Nordamerika und Westeuropa stehen muß. Das ist dann auch ein Faktor der Stabilität für die ganze Welt.
    Nur eines muß den Europäern klar sein. Es ist richtig, daß Europa gleichberechtigt im Bündnis mit den Vereinigten Staaten über die gemeinsamen Ziele sprechen will. Gleichberechtigung im Bündnis setzt aber den Willen zur gleichgewichtigen Leistung für die gemeinsame Sicherheit voraus. Das ist eine Aufgabe Europas.

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

    Die jetzigen Wochen sind auch deshalb so entscheidend, weil die sowjetische Führung auf ihrem Parteitag im Februar dieses Jahres die Grundorientierung der sowjetischen Außenpolitik für die kommenden Jahre festlegen wird. Es wäre für die zukünftige Entwicklung und für den Frieden nichts gefährlicher, als wenn Europäer und Amerikaner falsche Signale der Uneinigkeit geben und wenn im Osten falsche Hoffnungen über ein Auseinanderdriften von Europäern und Amerikanern entstehen würden. Es ist nicht nur für uns selbst und für die Staaten der Dritten Welt wichtig, sondern vor allem auch für die Sowjetunion, daß in ihrem Bewußtsein das westliche Bündnis in seiner Geschlossenheit eine feste berechenbare Größe der internationalen Politik bleibt.
    Der amerikanische Präsident und sein Außenminister haben deutlich gemacht, daß sie durch die Sicherung des Gleichgewichts Frieden und Freiheit gewährleisten wollen. Dazu werden wir unseren Beitrag leisten.
    Meine Damen und Herren, bei mancher Stimme, die ich in Europa höre, werde ich den Verdacht nicht los, daß man die Sicherheitsgarantien der Amerikaner gern in Anspruch nimmt, mit dem eigenen Beitrag aber eher zögern möchte.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Wir können und dürfen aber keine sicherheitspolitischen Trittbrettfahrer der Vereinigten Staaten werden. Die Sicherheit ist eine gemeinsame Sache.

    (Beifall bei der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Wir müssen bei einer solchen Frage prüfen — der Kollege Brandt hat diese Frage anfangs aufgeworfen und sie so wie die Regierung beantwortet —, wie die deutschen Interessen, die Interessen eines geteilten Landes in die gemeinsame westliche Politik eingebracht werden können. Für das Bewußtsein in unserem Lande ist die Erkenntnis wichtig, daß wir alle Fortschritte, im Verhältnis zu den osteuropäischen Ländern, vor allen Dingen aber auch im deutsch-deutschen Verhältnis, nicht trotz unserer Zugehörigkeit zu den westlichen Gemeinschaften, sondern allein wegen und im Rahmen dieser Zugehörigkeit erreicht haben. Deutsche Deutschlandpolitik im Alleingang würde schnell in der Sackgasse der Abhängigkeit enden.
    Unser Gewicht gegenüber dem Osten und die Frage, wie hoch das, was diese Bundesrepublik Deutschland will und sagt, notiert wird, ist auch ganz entscheidend von dem Gewicht dieser westlichen Gemeinschaften, denen wir angehören, und unserer Position in diesen Gemeinschaften abhängig.
    Es ist heute schon mit Recht gesagt worden, daß das Bündnis für alle seine Partner eben nicht eine traditionelle Militärallianz ist, sondern eine umfassende Wert- und Schicksalsgemeinschaft der Freiheit.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Das hat Strauß gesagt!)

    Hier ist die Freundschaft zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Volk ein ganz wichtiger Faktor.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Herr Kollege Brandt hat sich zu dem Verhältnis der europäischen Institutionen zueinander geäußert. Ich finde schon, daß sein Hinweis auf die Bedeutung des frei gewählten Europäischen Parlaments wichtig und richtig war; denn nichts wäre schlimmer, als wenn alle die europäischen Wahlbürger, die ihre Abgeordneten in das Europäische Parlament entsandt haben, den Eindruck bekämen, hier sei eigentlich nur sozusagen etwas Formaldemokratisches vor sich gegangen, aber man wolle dieses Maß an Meinungsbildung dort nicht ernst nehmen.
    Auf der anderen Seite stelle ich fest, daß in den Parteiengruppierungen des Europäischen Parlaments — in denen Liberale aus den verschiedenen europäischen Staaten zusammengeschlossen sind, Sozialdemokraten aus den verschiedenen europäischen Staaten, Konservative, Christdemokraten — ein hohes Maß an übernationaler Koordinierung geleistet wird. Das kann sich zunehmend zu einem Faktor der Entscheidungserleichterung im Ministerrat auswirken, wo sich Regierungen gegenübersitzen — oder auch zusammensitzen, wie Sie wollen —, die, in nationalen Wahlen gewählt, immer wieder unter dem Druck nationaler Interessen stehen. Mein Kollege Josef Ertl hat bei seinem — wie ich feststellen möchte — beharrlichen und erfolgreichen Ringen für die Rechte der deutschen Fischerei erleben müssen, wie lange es dauert, bis man hier europäischen Geist auch in europäische Wirklichkeit übersetzen kann.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Ich denke, an der deutschen Küste wird man begrüßen, was er in der letzten Nacht erreicht hat.
    Was wir brauchen, ist in der Tat ein einiges handlungsfähiges Europa, das seinen Teil der Verantwortung als Teil der westlichen Welt übernehmen kann und das in dem Bewußtsein handelt, daß Gleichberechtigung auch Gleichgewichtigkeit und den Willen dazu voraussetzt. Hier müssen wir darüber nachdenken, Herr Kollege Brandt, wie wir alle die Institutionen, die wir haben, alles das, was an gemeinsamer Politik erreicht worden ist, an koordinierter



    Bundesminister Genscher
    Außenpolitik, an Wirtschaftspolitik, an Sozialpolitik zusammenfassen können, um dem Grundgedanken der Europäischen Union folgend Fortschritte zu machen.
    Ich bin sehr froh darüber, daß der französische Präsident in seiner gestrigen Fernsehsendung diese Notwendigkeit der Stärkung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit dieses Europa der Demokratien so nachdrücklich unterstützt hat, in dem vollen Bewußtsein, welche Rolle wir zu erfüllen haben, und zwar nicht nur für uns, sondern im Bewußtsein der Staaten in der Welt, vor allen Dingen in der Dritten Welt. Ich habe bei anderer Gelegenheit schon einmal gesagt: Dieses Europa hat mit einem zunächst geradezu grotesk wirkenden Widerspruch zu ringen, nämlich daß es von außen viel handlungsfähiger, gewichtiger, bedeutsamer eingeschätzt wird, als das im Inneren gesehen wird. Zwischen Überschätzung von außen und Unterschätzung von innen einen gesunden, aber nicht statischen, sondern nach vorn weisenden Mittelweg zu finden, ist die große Aufgabe derjenigen, die sich als europäische Realisten und nicht als europäische Skeptiker oder als europäische Phantasten verstehen.
    Die Gründungsväter der Europäischen Gemeinschaft wollten die politische Vereinigung Europas. Sie hofften, dieses Ziel am leichtesten erreichen zu können, wenn sie zunächst einmal die Wirtschaftsgemeinschaft aufbauten. Vielleicht hat man damals wirklich, Herr Kollege Brandt, zu sehr auf die Integrationsfähigkeit europäischer Bürokratien gerechnet. Ich will gar nichts gegen die Kommission sagen und was sich dort gebildet hat. Aber die Bürokratie in Brüssel wird es ganz sicher nicht schaffen, wenn nicht die Impulse von den demokratischen Kräften in Europa ausgehen, wie sie sich einerseits in dem neuen Europäischen Parlament formieren und wie sie sich andererseits in den Parlamenten der Mitgliedstaaten formiert haben. Das ist ja der große Gewinn, daß diese Mitgliedstaaten zunehmen und daß es jeweils Länder sind, die jetzt voraussehbar Mitglieder werden, die zur Demokratie zurückgekehrt sind. Das ist eine große Stärkung der Demokratie in Europa.
    Deshalb, meine Damen und Herren, wird es notwendig sein, daß wir diese Bedeutung Europas als Partner der Vereinigten Staaten — nicht gegen die Vereinigten Staaten — für die Lösung der großen weltpolitischen Probleme sehen. Die erste zentrale Aufgabe, die sich einer koordinierten, solidarischen Politik der freiheitlichen Demokratien Europas, Nordamerikas, der Welt insgesamt stellt, ist die Erhaltung des Friedens zwischen Ost und West. Diese Friedenspolitik ist j a ein moralischer Anspruch und nicht eine technokratische Veranstaltung, wie man manchmal meint verstehen zu müssen, wenn sich die Kritiker unserer gemeinsamen westlichen Politik zu Wort melden. Diese Friedenspolitik fordert die unbedingte Entschlossenheit des Westens, das Gleichgewicht zu wahren und wenn nötig wieder herzustellen. In dieser Erkenntnis müssen wir unseren Beitrag zu diesem Gleichgewicht erbringen. Wir befinden uns bei der Verfolgung des Ziels der Herstellung des Gleichgewichts in Übereinstimmung mit der neuen amerikanischen Administration.
    Der feste Wille des Bündnisses, Gleichgewicht auf jeden Fall zu garantieren, aber — wenn es nach uns, dem Westen, ginge — auf einem möglichst niedrichen Niveau der Rüstungen, zeigt, daß das, was wir wollen, das Gegenteil von dem Eintreten in einen neuen Rüstungswettlauf ist. Deshalb haben Rüstungskontrollverhandlungen eine so hohe Priorität. Ich bin sehr dankbar dafür, daß Außenminister Haig eben diese Priorität der Rüstungskontrollverhandlungen auch für seine Regierung unterstrichen hat.
    Meine Damen und Herren, Rüstungskontrollverhandlungen sind in den 80er Jahren notwendiger denn je und das eben nicht nur im Verhältnis zwischen West und Ost. Rüstungskontrolle und Abrüstung und — um eine Thema, das Herr Kollege Brandt hier aufgeworfen hat, aufzunehmen — auch die Frage der Rüstungsexporte und internationaler Vereinbarungen in dieser Frage sind ein Beitrag zur Sicherung des Weltfriedens, damit wir nicht zu Stellvertreteraufrüstungen in der Dritten Welt kommen. Das setzt auch Zweiseitigkeit im Willen, etwas Derartiges zu verhindern, voraus.
    Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein paar Worte zu dem sagen, was hier bemerkt worden ist und was ja auch zu den aktuellen Diskussionen der deutschen Politik über Fragen der Rüstungsexporte gehört. Ich denke, daß unser Land gut gefahren ist, indem es eine restriktive, eine zurückhaltende Rüstungsexportpolitik betrieben hat, und zwar ganz unabhängig davon, welche Parteien jeweils die Regierung gestellt haben. Wenn ich sage, daß unser Land gut gefahren ist, dann ist das eine Abwägung der heutigen Interessen, aber ich denke, es kommt auch ein moralischer Grund dazu. Es steht unserem Land auch gut an, daß wir zu den zurückhaltenden Staaten bei dem Rüstungsexport gehören.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Ich glaube, es wird wichtig sein, daß wir die in der letzten Generalversammlung der Vereinten Nationen eingeleitete Initiative zur Offenlegung der Rüstungsexporte in der Welt mit dem Ziel zu einer Begrenzung der internationalen Rüstungsexporte zu kommen, nachdrücklich weiter verfolgen; denn wir können j a nicht sagen: „Das Problem ist dadurch gelöst, daß wir zurückhaltend sind", wenn von anderer Seite durch intensive gezielte Rüstungsexporte neue Instabilitäten in die Dritte Welt hineingetragen werden. Das eine gehört zum anderen.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

    Wir müssen sehr aufpassen, daß bei der Diskussion unserer Rüstungsexportpolitik, die wir in ihrer zurückhaltenden Form aufrechterhalten sollten, nicht beschäftigungspolitische Argumente eine ausschlaggebende Rolle gewinnen. Nichts wäre gefährlicher, als für Rüstungsexporte Industrien und Kapazitäten aufzubauen, die nachher die Regierung zwingen, Märkte zu suchen, wo sie sie findet.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)




    Bundesminister Genscher
    Dann würden wir die Außenpolitik zum Büttel einer solchen Politik machen.
    Ich denke, daß es vielmehr darum geht, die Kriterien, nach denen wir uns bisher für unsere zurückhaltende Rüstungsexportpolitik entschieden haben, auf ihre heutige Tauglichkeit zu untersuchen. Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß der Begriff des Spannungsgebiets etwas ist, das wir daraufhin untersuchen müssen, ob es noch tauglich ist, ober ob wir nicht vielmehr in einer Zeit weltweiter Spannung leben, wo das Kriterium allenfalls höhere oder niedrigere Spannung sein könnte.
    Ich glaube, daß die Regierung durch den Bundeskanzler aus guten Gründen in einem Brief an die Vorsitzenden der Fraktionen der Sozialdemokratischen Partei und der Freien Demokratischen Partei ihre Bereitschaft geäußert hat, den Wunsch nach Information des Parlaments, nach parlamentarischer Unterrichtung, zu erfüllen. Das muß geschehen. Das kann der Regierung nicht ihre Verantwortung für die Entscheidungen abnehmen. Aber Information ist ganz sicher wichtig.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Pflicht zur Mehrheit!)

    Wenn wir über Rüstungsexporte sprechen und wenn wir versuchen werden, uns über Grundsätze zu verständigen — da wird der Bundessicherheitsrat noch gründlich zu beraten haben —, werden wir immer auch in Betracht ziehen müssen, daß bei Rüstungsexporten in den Nahen Osten die Sicherheitsinteressen Israels und die geschichtliche Verantwortung der Deutschen gegenüber dem jüdischen Volk ihre gebührende Beachtung zu finden haben.

    (Beifall bei allen Fraktionen)

    Auch das ist etwas, was wir sagen werden. Das wird man in allen internationalen Lagern verstehen.
    In Europa geht es bei der Rüstungskontrolle darum, daß wir unseren Beitrag dazu leisten, daß die MBFR-Verhandlungen in Wien zu konkreten Ergebnissen führen. Da steht unverändert der westliche Vorschlag für ein Zwischenabkommen im Mittelpunkt. Wir hoffen, daß es gelingen möge, die Datenfrage, die ja von entscheidender Bedeutung ist, zu lösen.
    In diesen Tagen wird, wie ich hoffe, die Aufmerksamkeit der Welt wieder stärker auf die zweite Phase des KSZE-Folgetreffens in Madrid gelenkt werden. Hier halte ich es für besonders wichtig, daß wir zusammen mit unseren westlichen Partnern, mit den Vereinigten Staaten, mit Kanada, mit den Staaten der Europäischen Gemeinschaft und mit unseren Verbündeten in der Nato, aber auch anderen Ländern den französischen Vorschlag eines konkreten Mandats für eine europäische Abrüstungskonferenz unterstützen. Das ist eine dringend notwendige Aufgabe.
    Da muß man der Klarheit halber wissen, daß der dem Namen nach gleichlautende Vorschlag der Warschauer-Pakt-Staaten für eine europäische Abrüstungskonferenz in einem fundamentalen Punkt einen unterschiedlichen Inhalt hat. Wir wünschen, daß der Konferenzauftrag konkret Verhandlungen über vertrauensbildende Maßnahmen in ganz Europa vorsieht; das bedeutet: einschließlich des europäischen Teils der Sowjetunion bis zum Ural. Denn Vertrauen ist unteilbar, auch geographisch unteilbar.
    Es geht hier nicht um eine taktische Frage; es geht nicht um eine taktische Verhandlungsposition des Westens. Sondern es geht hier um eine ganz prinzipielle Frage der Vertrauensbildung in Europa. Deshalb ist der Geltungsbereich nach dem französischen Vorschlag im Verständnis des Westens eine unverzichtbare Voraussetzung für das Zustandekommen dieser Konferenz.
    Wir haben mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, daß die neue amerikanische Administration den SALT-Prozeß fortsetzen will. Unmittelbare Bedeutung für Europa haben hier die im vorigen Jahr bereits begonnenen Gespräche über nukleare Mittelstreckenraketen. Wir hoffen, daß diese Gespräche die erhofften Fortschritte machen.
    Bemühungen um Rüstungskontrolle sind Teil der Sicherheitspolitik, aber — auch das ist für die öffentliche Diskussion wichtig — Bemühungen um Rüstungskontrolle können immer nur Teil der Sicherheitspolitik sein; sie können nicht Ersatz für eigene und notwendige Verteidigungsanstrengungen sein.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Eben!)

    Diese Verteidigungsanstrengungen umfassen auch den Dienst in der Bundeswehr, die Ausrüstung der Bundeswehr, ihre Bewaffnung, ihre Ausbildung. Sie umfassen die Haltung der Bürger in unserem Land zur eigenen Sicherheit und zur eigenen Verteidigung. Ich frage mich, ob nicht die Ereignisse der letzten Monate, die wir j a alle mit großer Sorge bei den öffentlichen Gelöbnissen erlebt haben, für uns alle Anlaß sein sollten, noch viel deutlicher und klarer und nicht entschuldigend und verteidigend, sondern offen fordernd die Notwendigkeiten deutscher, europäischer und westlicher Sicherheitspolitik darzulegen.

    (Beifall bei der FDP)

    Ich denke und habe das bei vielen Gesprächen erlebt, daß junge Menschen verstehen, daß die sowjetische Vorrüstung Nachrüstung erfordert, und daß sie erkennen, daß unser Angebot zusammen mit der Entscheidung über Nachrüstung bei bestimmten Waffensystemen, über Rüstungsbegrenzung zu verhandeln, eben zeigt, daß wir nicht, wie es uns von manchen nachgesagt wird, eine neue Stufe des Wettrüstens einleiten wollen, sondern daß wir es ernst meinen mit dem Ziel Gleichgewicht, aber Gleichgewicht, wenn es nach uns geht, auf einem möglichst niedrigen Niveau der Rüstungen. Das muß die zentrale deutsche sicherheitspolitische Position bleiben.

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

    Meine Damen und Herren, wer die Entwicklung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Bundesrepublik Deutschland beobachtet, kann feststel-



    Bundesminister Genscher
    len, daß gerade in den 70er Jahren eine große Stetigkeit in der Zunahme unserer Bemühungen um Stärkung und Festigung unserer Verteidigungsfähigkeiten die deutsche Sicherheitspolitik auszeichnete, und zwar deshalb, weil wir Entspannungspolitik immer als eine realistische Entspannungspolitik verstanden haben, als eine Politik, die nur dann Erfolg haben wird, wenn die eigene Sicherheit garantiert ist. Nicht in allen westlichen Staaten war das so.
    Die Sowjetunion hat mit erheblichem Aufwand weitergerüstet, wahrscheinlich bis zur Grenze ihrer industriellen Kapazität in einer Zeit, in der in den Vereinigten Staaten über lange Zeit die Verteidigungsaufwendungen eher stagnierten. Die Sowjetunion hat das nicht nur im Bereich der interkontinentalen Nuklearwaffen getan, wo es ihr um ein Gleichziehen ging, sie hat in allen Bereichen weitergerüstet, auch im konventionellen Bereich, wo in Europa ohnehin schon Überlegenheit vorhanden war. Sie hat ein erhebliches Modernisierungsprogramm für ihre Marine durchgeführt, auch ein erhebliches Neubauprogramm in einem breiten Spektrum als Ausdruck ihres Weltmachtanspruches. Ende der 70er Jahre hat sie dann das begonnen, was der Bundeskanzler der internationalen Öffentlichkeit als erster deutlich gemacht hat, nämlich die Dislozierung in rascher Folge von neuartigen, mobilen und höchst treffsicheren SS-20-Mittelstreckenraketen.
    Hier ist ein ganz gefährliches Ungleichgewicht entstanden, das vor dem Hintergrund der amerikanisch-sowjetischen Parität bei den interkontinentalen Waffensystemen und vor dem Hintergrund des konventionellen Kräfteverhältnisses sowie der geographischen Lage der Sowjetunion zu Westeuropa gesehen werden muß. Deshalb ist es so wichtig, meine Damen und Herren, daß wir die getroffene Entscheidung in allen ihren Elementen verwirklichen.
    Die Vereinigten Staaten hatten bekanntlich 1972 in dem amerikanisch-sowjetischen Abkommen der Sowjetunion sozusagen nukleare Parität und Gleichberechtigung als Weltmacht konzediert. Sie hatten damit die Erwartung verknüpft, daß sich die Sowjetunion selbst beschränken möge, daß sie darauf verzichtet, durch Überrüstung und Expansion in der Dritten Welt einseitig Vorteile zu erstreben. Diese Erwartung der Vereinigten Staaten hat sich nicht erfüllt, obwohl die Vereinigten Staaten immerhin Maßnahmen ergriffen haben, die hätten zeigen müssen, daß sie nichts weniger als einen Rüstungswettlauf wollen. Ich erinnere daran, daß die Vereinigten Staaten zu dieser Zeit die Wehrpflicht abgeschafft haben, auf den B-1-Bomber verzichtet haben, die Entscheidung über die Neutronenwaffe ausgesetzt haben. Das ist auf der anderen Seite nicht honoriert worden, und in der Dritten Welt hat die Sowjetunion eine Politik der Einflußzonen und Machtausübung aufgenommen, die in der Invasion Afghanistans kulminierte.
    Hier liegen in Wahrheit die Gefahren für Zusammenarbeit und Entspannung. Die Verträge, die wir, die Bundesrepublik Deutschland, in den 70er Jahren geschlossen haben, die Schlußakte von Helsinki, der wir beigetreten sind, sie alle haben durch diese Entwicklung von ihrer Bedeutung und ihrer Richtigkeit nichts verloren. Ich glaube, deshalb ist es durchaus konsequent, daß sich die Opposition, die in der Vergangenheit diese Verträge nach Art und Inhalt und aus anderen Gesichtspunkten kritisierte, heute auf die Grundlage dieser Verträge stellt. Wir sind uns aber bewußt, daß die Möglichkeiten für Zusammenarbeit, die sich aus diesen Verträgen und Verpflichtungen ergeben, in Gefahr sind, wenn der Grundsatz der Unteilbarkeit der Entspannung verletzt und wenn eine Verschiebung des weltweiten Kräfteverhältnisses betrieben wird.
    Dabei, meine Damen und Herren, ist ganz offenkundig, daß es für West und Ost viele Möglichkeiten, ja, Notwendigkeiten zu gegenseitiger vorteilhafter Zusammenarbeit gibt. Der Westen und der Osten stehen doch vor großen wirtschaftlichen Problemen, Problemen der Energieversorgung, des Wirtschaftswachstums, des Strukturwandels, vor Umweltproblemen, sie stehen vor dem großen Problem, wie der Nord-Süd-Konflikt überwunden werden kann.
    Durch Zusammenarbeit könnten Westen und Osten die Lösung dieser Aufgaben wesentlich leichter machen. So geht es darum, daß wir in unserer Öffentlichkeit das Verständnis dafür wecken müssen, daß wir j a diese Zusammenarbeit wollen, wir, der Westen. Auch die sowjetische Führung sollte zu der Überzeugung gelangen, daß eine solche Zusammenarbeit, wie sie der Westen anbietet, wozu der Westen bereit ist, daß also eine solche Zusammenarbeit, daß eine Politik der weltweiten Partnerschaft auch für die Sowjetunion vorteilhafter ist als eine Politik der Vorherrschaft, des Machtstrebens, die die Ost-WestZusammenarbeit beeinträchtigt, die wirtschaftliche Entwicklung der kommunistischen Länder erheblich belastet und die die Sowjetunion in zunehmendem Gegensatz zu den Staaten der Dritten Welt bringt.
    Ich denke, daß wir durch unsere Entschlossenheit in unserer Haltung und durch die Einheit im westlichen Lager dazu beitragen können, daß die Sowjetunion leichter zu dieser Erkenntnis kommen kann.

    (Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

    — Bitte, Herr Kollege.


Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Mertes, bitte.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Alois Mertes


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Bundesminister, wie erklären Sie eigentlich den Rückgang des Bedrohungsbewußtseins in unserem Lande in den letzten zehn Jahren in bezug auf die Natur und die Intensität der sowjetischen Politik? Teilen Sie meine Auffassung, daß der Rückgang des Verteidigungswillens und des Bedrohungsbewußtseins auch mit illusionären Entspannungsvorstellungen im Verhältnis zur Sowjetunion ursächlich zusammenhängt?