Rede von
Dr.
Jürgen
Linde
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stehen am Ende einer rechtspolitischen Beratung. Sie hat mancherlei bemerkenswerte Töne gebracht und unter anderem die Erkenntnis, daß die Rechtsordnung ohne ein gewisses Maß von Gemeinsamkeit kaum aufrechtzuerhalten ist.
Herr Kollege Erhard, ich habe nun zu einem Gesetz zu sprechen, wo ich sehr gespannt bin, welche Begründung dagegen von Ihrer Seite wohl vorgebracht werden könnte, weil es hier nicht darum geht, ein Gesetz neu einzuführen oder zu verändern, sondern darum, daß ein Gesetzentwurf zwei Vorschriften unseres Strafgesetzbuches schlicht zur Streichung vorschlägt.
— Dies haben wir schon zusammen mit dem Kollegen Hartmann hier eingehend diskutiert. Ich freue mich, daß ein neuer Kollege, Herr Dr. Götz, nun auch ein paar andere Argumente in die Diskussion einbringt, Herr Erhard.
Bloß das, was Sie, Herr Kollege Götz, zum Neunzehnten Strafrechtsänderungsgesetz gesagt haben, ist natürlich eine Argumentation, die Perspektiven eröffnet, wie sie — wenn ich das richtig überschaue
— in der elfjährigen Geschichte der sozialliberalen Koalition eigentlich schon überwunden waren. Ich hoffe, daß wir nicht wieder bei strafrechtlichen Vorstellungen anfangen müssen, die wir etwas zu reformieren — in Gemeinsamkeit — versucht haben.
Aber nun zu diesem Zwanzigsten Strafrechtsänderungsgesetz. Ich brauche nicht das zu wiederholen, was im Juni hier von mir, aber auch von anderer Seite, vorgetragen worden ist und was dann im Bundesrat letzten Endes beerdigt wurde. Unsere Überzeugung ist es — und das kommt auch in diesem Ge-
setzentwurf zum Ausdruck —, daß Eingriffe des Staates mit strafrechtlichen Mitteln eben nur dort wirklich sinnvoll und angezeigt sind, wo der Schutz von Rechtsgütern diesen stärksten hoheitlichen Eingriff erfordert.
Diese Voraussetzungen sind nach unserer Überzeugung weder bei der Gewaltbefürwortung — § 88 a
— noch bei der Anleitung zur Gewalt — § 130 a — gegeben.
Ich darf an den ausgeschiedenen Kollegen Dürr erinnern, der schon 1976 bei der Einführung von einer gesetzgeberischen Investitionsruine gesprochen hat. Wir sind frei und offen genug — und unsere Rechtsordnung erfordert das auch —, daß wir solche Investitionsruinen dann schließlich ganz zum Einsturz bringen, um unserer Rechtsordnung willen.
Lassen Sie mich noch einmal daran erinnern, daß für uns die Antwort der Bundesregierung vom 17. Januar 1980 auf die Kleine Anfrage über den Erfolg der einzelnen Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung maßgebend war. Hier gibt es eine klare und eindeutige Antwort — Herr Kollege Hartmann, wir haben uns mehrfach damit auseinandergesetzt —: § 88 a hat hur wenig gebracht, und § 130 a hat gar nichts gebracht.
— Es war vielleicht ein Thema mit Variationen — dies gebe ich durchaus zu —,
aber auch in anderen Ausschüssen, z. B. im Innenausschuß, Herr Erhard, gibt es durchaus die Möglichkeit, daß sich einmal jemand eines Besseren besinnt. Dies müssen nicht immer wir sein, das können auch einmal Sie sein.
— Vielen Dank, wir sollten vielleicht einmal Buch führen.
Lassen Sie mich kurz die vier Gründe nennen, die für uns maßgebend sind und die auch die weitere Diskussion bestimmen sollten.
Erstens. Strafrechtliche Unwerturteile laufen leer, wenn von 111 eingeleiteten Verfahren innerhalb von vier Jahren nur eines zur Verurteilung führt, nur zehn Hauptverfahren durchgeführt wurden und 100 Ermittlungsverfahren angezettelt worden sind, bei denen es gar nicht zum Hauptverfahren kam.
Zweitens. Nicht tagespolitische Opportunität, Herr Erhard, sondern die Wahrung von Rechtsstaatlichkeit und Liberalität gebieten diese Aufhebung.
326 Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1980
Dr. Linde
Drittens. Politisch ärgerlich — dies haben wir doch alle miteinander erfahren — waren eben die zahlreichen Ermittlungsverfahren, die nicht zu Verurteilungen geführt haben. Dann kommt mein Wort, das Sie, Herr Hartmann, ja damals aufgespießt haben, von dem negativen Symbolcharakter dieser Vorschrift und den Gefahren für die Meinungsfreiheit. Dieser negative Symbolcharakter hat mit diesen Vorschriften das bewirkt, was wir nicht wollen, nämlich mehr Schaden als Nutzen für das Ansehen unseres Strafrechts und das Ansehen unseres Staates.
Viertens. Meinungsfreiheit ist immer die Meinungsfreiheit des Andersdenkenden, auch wenn es schwerfällt, sich daran zu gewöhnen, selbst wenn — ich will dies ganz offen sagen — es hier peinliche Geschmacklosigkeiten oder gefährliche, manchmal auch nur unreife politische Gedanken gibt. Sie lassen sich aber strafrechtlich unseres Erachtens überhaupt nicht einfangen, sondern sie müssen an die Öffentlichkeit getragen werden und politisch oder gar pädagogisch — wie auch immer — beantwortet werden. Aber das Mittel des Strafrechts ist nicht geeignet, diese politische Auseinandersetzung so zu führen, wie der Ernst der geistigen Auseinandersetzung es gebietet.
Daß die Koalition bei den zu streichenden Vorschriften nun dem § 88 a — Befürwortung von Gewalt — noch den § 130 a — Anleitung zur Gewalt — hinzufügt,
hat, um dies vorwegzunehmen, in keiner Weise etwas mit Salami-Taktik, etwa beim Abbau der Terrorismus-Gesetzgebung, zu tun. Es hat gesetzessystematische und kriminalpolitische Gründe. Ich will das ausführen.
— Natürlich, bei uns hat jedwede Politik Koalitionsgründe, denn dies ist eine Politik aus einem Guß, die miteinander abgesprochen ist und die auch miteinander durchgeführt wird. — Aber hier überwiegen die gesetzessystematischen und die kriminalpolitischen Gründe.
Lassen Sie mich zunächst einmal daran erinnern — diejenigen, die das beraten haben, wissen das ganz genau; das war ich nämlich gar nicht; das waren Sie mit —, daß ein ganz enger Zusammenhang zwischen § 88 a und § 130 a bestand. Das ist zunächst einmal zusammengefügt und dann wieder getrennt worden.
Die Trennung von „Befürworten von" und „Anleitung zu Gewalt" ist sehr schwer. Der Bundesgerichtshof hat uns j a auch ins Stammbuch geschrieben, daß der systematische Zusammenhang hier nur sehr schwer zu erkennen ist. Nach Fortfall des § 88 a würde man sich j a überlegen können, ob der § 130 a vielleicht nachzubessern wäre, um ihn dogmatisch
klarer zu fassen. Doch dies verbietet sich kriminalpolitisch, weil § 130 a überhaupt keine praktische Bedeutung erlangt hat. Wenn ich sage „überhaupt", muß ich vorsichtig sein; „überhaupt" heißt: nach der Antwort der Bundesregierung. Da liegt ja ein bißchen Zeit dazwischen. Nach meinen Erkenntnissen gibt es inzwischen ein Urteil des Jugendschöffengerichts in Karlsruhe vom Mai. Dies war, wie ich es empfinde, ein ärgerliches Strafverfahren gegen eine 17jährige Schülerin aus Karlsruhe, die bei sich zu Hause 120 Exemplare einer Schülerkampfschrift namens „Zoff" — Nummer 3, wie hinzugefügt wurde — unter dem Bett aufbewahrte. Sie hatte davon drei Exemplare in Umlauf gebracht, und zwar zwei gar nicht auf eigenes Zutun; ein Exemplar hat sie tatsächlich weitergegeben. Dieses Exemplar ist dann zur Polizei gekommen. Darauf erfolgte eine Hausdurchsuchung mit einer anschließenden Beschlagnahme. Der Inhalt der Zeitschrift war der Klage über Schülerselbstmorde wegen schlechter Noten in Karlsruhe gewidmet. Geschrieben war dieses publizistische Machwerk in dem sattsam bekannten Wortradikalismus. Das Gericht hat erkannt — nur darauf kann ich mich stützen; ich kenne die Zeitschrift selber nicht —, daß in dieser Zeitschrift ein Poster enthalten war, in dem folgende Sätze standen, die dann zur Verurteilung geführt haben:
Macht kaputt, was euch kaputt macht! Nicht trauern und flennen, sondern Schulen verbrennen!
Hinzugefügt war eine konkrete Anleitung zur Herstellung sogenannter Molotowcocktails — Flasche, Benzin rein, Korken drauf und so ähnlich.
— Ganz genau!
Ich habe gesagt, ich möchte gern versuchen, rechtsdogmatisch zu begründen, warum § 130 a nicht nötig ist. Zum ersten Teil ist zunächst zu fragen, ob man wirklich strafrechtlich reagieren soll, nicht pädagogisch. Bei der pädagogischen Beurteilung bitte ich die Herren Rechtspolitiker — und das gilt auch für das Jugendschöffengericht —, das Elternhaus dieser jungen Straftäterin und ihre schulischen Schwierigkeiten mit in Rechnung zu stellen. Ich halte das Mittel des Strafrechts hier gegenüber der Pädagogik für nachrangig.
Aber will man justizpolitisch reagieren, so gibt es für den ersten Teil — Aufforderung zur Gewalttat —
den § 111 des Strafgesetzbuchs, der die öffentliche Aufforderung zu Straftaten unter Strafe stellt. Wozu brauchen wir noch den § 130 a?
Für den zweiten Teil, den Molotowcocktail, gibt es § 53 Abs. 1 Nr. 5 des Waffengesetzes. Den hat das Ju-
Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 10. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 11. Dezember 1980 327
Dr. Linde
gendschöffengericht Karlsruhe — das ist meine Überzeugung — einfach nicht erkannt. Wenn es ihn erkannt hätte, hätte es urteilen müssen, daß § 53 des Waffengesetzes dem § 130 a StGB als lex specialis vorgeht. Für diese Fälle brauchen wir den § 130 a nicht.
Damit keine Mißverständnisse entstehen, füge ich hinzu: Die Rezepte zum Bombenbasteln sind kriminalpolitisch nicht Leichtzunehmen. Aber für diese hat das Waffengesetz immer gegolten und wird das Waffengesetz immer weiter gelten, solange nicht neue Erkenntnisse vorliegen. Es bedarf also beider. Vorschriften nicht.
Wir sollten den vorliegenden erweiterten Gesetzentwurf im Rechtsausschuß schnell beraten, um uns dann alsbald den rechtspolitisch noch wichtigeren Dingen in der nötigen Gemeinsamkeit zuzuwenden. — Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.