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ID0900705400

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    Plenarprotokoll. 9/7 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 7. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 27. November 1980 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 167 C Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Kiep CDU/CSU 129A Roth SPD 136 B Dr. Haussmann FDP 142 D Dr. Graf Lambsdorff, Bundesminister BMWi 145 C Dr. Stoltenberg, Ministerpräsident des Lan- des Schleswig-Holstein 150 C, 174 B Westphal SPD 159 B Frau Matthäus-Maier FDP 164 D Matthöfer, Bundesminister BMF . . . 168A Dr. Blüm CDU/CSU 175 C Rohde SPD 183A Cronenberg FDP 189A Dr. Ehrenberg, Bundesminister BMA . . 193 D Frau Dr. Wex CDU/CSU 197 D Kuhlwein SPD 202 D Frau Dr. Adam-Schwaetzer FDP . . . 207 B Frau Huber, Bundesminister BMJFG . 210A Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP KIM Dae-Jung — Drucksache 9/28 — 167 D Nächste Sitzung 213 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . 215*A Deutscher Bundestag — 9. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 27. November 1980 129 7. Sitzung Bonn, den 27. November 1980 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. van Aerssen 28. 11. Dr. Ahrens * 28. 11. Dr. Barzel 28.11. Büchner (Speyer) * 27. 11. Handlos 28. 11. Höffkes 28. 11. Frau Hürland 28. 11. Kunz (Berlin) 28. 11. Landré 28. 11. Mahne 28. 11. Dr. Mertens (Bottrop) 28. 11. Pawelczyk 28.11. Picard 28.11. Rappe (Hildesheim) 28. 11. Rayer 28. 11. Reddemann * 27. 11. Schmidt (Wattenscheid) 28. 11. Spilker 28. 11. Dr. Steger 28. 11. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Helmut Rohde


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Da ist niemand entlassen worden — das wissen Sie genau aus der öffentlichen Diskussion —,

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    sondern da ist ein Sozialplan im Zusammenhang mit
    der Umorganisation des Parteivorstandes erstellt
    worden. Sie machen hier den Versuch, angesichts einer gesellschaftlichen Entwicklung, mit der wir uns in den Industrieländern auseinanderzusetzen haben, wiederum einen kleinlichen feuilletonistischen Ausweg zu suchen.

    (Beifall bei der SPD)

    Meine Damen und Herren, man darf der Frage, wie wir uns zu dieser Philosophie der „Tendenzwende" stellen, nicht ausweichen. Dabei müssen auch unterschiedliche Auffassungen im sogenannten „eigenen Lager", wie ich finde, auch im Parlament zum Ausdruck kommen, ob das in der Koalition oder — wie ich hinzufügen will — in der Opposition ist. Ich jedenfalls meine, daß dies ein Gewinn für den Parlamentarismus in der vor uns liegenden Legislaturperiode sein würde. Ich bestreite überhaupt nicht, daß z. B. — um einen Kollegen zu nennen — zwischen Graf Lambsdorff und mir auf Grund von Lebenserfahrung, Überzeugungen, Einschätzungen und Beurteilungen von Interessen Unterschiede bestehen, die in die Meinungsbildung eingehen müssen.
    Wie ist das aber eigentlich mit Ihnen, Herr Kollege Blüm, und anderen aus den Sozialausschüssen, die Sie zumeist hinter pauschalen Angriffen auf die Regierung die unterschiedlichen Auffassungen und die unterschiedlichen Interessen in Ihrer eigenen Partei zu verstecken suchen? Ich will dafür Beispiele nennen, orientiert an dem, was Sie hier kritisch eingewandt haben.
    Zuerst frage ich, wie es sich mit der Ehrlichkeit verträgt, wenn auf der einen Seite Kollege Blüm — auch im Zusammenhang mit dem, was gestern die „neue soziale Frage" genannt worden ist, — die Lage von Beziehern niedriger Einkommen beklagt, aber auf der anderen Seite das Diskussionsangebot — mehr ist es nicht, aber auch nicht weniger — der Sozialdemokraten, gemeinsam darüber nachzudenken, wie man für Rentner mit zusätzlicher Sozialhilfe eine bessere Form der Leistungsdarbietung organisieren kann, einfach mit einer Handbewegung vom Tisch gewischt worden ist?

    (Beifall bei der SPD)

    Wäre dies nicht gemeinsamen Nachdenkens wert?
    Was ist davon zu halten, wenn die Sozialausschüsse der CDU fordern, daß bei allen Finanzierungshilfen an private Haushalte künftig Einkommensgrenzen gezogen werden sollen, aber, wie Sie wissen, in der Kindergeldgesetzgebung die Mehrheit Ihrer Fraktion, vielleicht sogar die ganze, auf den steuerlichen Kinderfreibeträgen beharrt und jeden Ansatz zu einer sozial gezielteren Familienpolitik und einem sozialeren Familienlastenausgleich unter Ideologieverdacht stellt oder gar diffamiert?

    (Beifall bei der SPD)

    Herr Kollege Blüm, hier wurde gestern und heute wieder die Kernenergiepolitik als eine Politik „ohne Wenn und Aber" — das ist so eine Lieblingsvokabel von Ihnen und auch von Strauß — vorgestellt, während die Sozialausschüsse in ihren Erklärungen nach der Bundestagswahl darauf hingewiesen haben, daß man auf diesem Felde behutsam vorgehen



    Rohde
    und erst eine sorgfältige Klärung der Möglichkeiten, Risiken und Gefahren der Entsorgung vorliegen müsse. Mit einer solchen Haltung stehen die Sozialausschüsse den Arbeiten der Enquete-Kommission und den Überzeugungen der Sozialdemokraten viel näher als dem, was hier von der CDU unter einer Ohne-Wenn-und-Aber-Politik verstanden wird.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Das steht im Grundsatzprogramm der CDU!)

    Herr Kollege Blüm, ein Wort zur Mitbestimmung, bei deren Behandlung Sie sehr selbstgerecht gegenüber der Koalition im allgemeinen und den Sozialdemokraten im besonderen vorgegangen sind. Wenn man die Erfahrung des hinter uns liegenden Jahrzehnts zugrunde legt, besteht zu einer solchen Selbstgerechtigkeit kein Anlaß. Am Ende des vergangenen Jahrzehnts, unter einer anderen politischen Konstellation, wie wir wissen, haben die Sozialdemokraten als Bundestagsfraktion einen Gesetzentwurf über die Gestaltung paritätischer Mitbestimmung in der deutschen Wirtschaft vorgelegt. Damals hat sich in der CDU/CSU niemand für diesen Schritt eingesetzt; es gab nicht eine Stimme, die das unterstützte.
    1972, als wir das Betriebsverfassungsgesetz verabschiedeten, waren es gerade 21 Abgeordnete aus der Fraktion der CDU/CSU, die sich dieser Gesetzesvorlage angeschlossen haben. Bei allem — das will ich gegenüber den Kollegen der FDP sagen —, was es heute an kritischen Stimmen in den Gewerkschaften gegenüber manchen Positionen der FDP gibt, will ich aber hinzufügen: Wir haben es nicht vergessen, daß wir damals mit der Fraktion der Liberalen ein Betriebsverfassungsgesetz verabschieden konnten, für das wir bei der Mehrheit der CDU keine Zustimmung gefunden haben.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Herr Kollege Blüm, als wir wiederum, Liberale und Sozialdemokraten, in diesem Bundestag einen Antrag eingebracht hatten, der dazu aufforderte, als Parlament der Abwehr der Mitbestimmungsklage der Arbeitgeber vor dem Bundesverfassungsgericht beizutreten, hörten wir ein Nein Ihrer Partei,

    (Dr. Kohl [CDU/CSU]: Gott sei Dank! Einer der größten rechtspolitischen Skandale in der Geschichte der Republik!)

    und Sie begründeten das. Dabei haben Sie völlig außer acht gelassen, welche grundsätzliche Bedeutung dieses Verfassungsgerichtsurteil für die Weiterentwicklung der Mitbestimmung in der Bundesrepublik haben würde.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Und wie sah es aus, als der Vorstand bei Mannesmann seine Absicht veröffentlichte, Strukturveränderungen im Betrieb zu benutzen, um die Montan-Mitbestimmung aus der Welt zu schaffen? Damals gab es am 30. Juli 1979 eine Presseinformation der CDU/CSU. Das war wenige Wochen vor der von Mannesmann angekündigten Absicht, nicht nur eine Aufsichtsratssitzung, sondern möglicherweise auch eine Aktionärsversammlung einzuberufen, wo man dann die Mitbestimmung mit einer dort erwarteten Mehrheit aushebeln wollte. In dieser Lage gab es eine bemerkenswerte Erklärung der Union: Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU war am 30. Juli einstimmig, Herr Kollege Blüm, der Auffassung, daß eine politische Stellungnahme zu möglichen Entwicklungen nicht sachdienlich sei. Wenn sich alle politischen Kräfte dieses Parlaments in einer solchen Weise verhalten hätten, dann hätte man die Frage zu stellen, was dann aus der Sicherung der MontanMitbestimmung in der Bundesrepublik geworden wäre.

    (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ CSU)

    Sie haben das damals als Sommertheater bezeichnet.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das war es auch, das sieht man jetzt noch!)

    Weil man diese Linie, auf Tauchstation zu gehen, nicht durchhalten konnte, wurde später durch Strauß und andere eine Erklärung mit drei Hintertüren herausgegeben.
    Da Sie den Gruppenantrag der SPD zur Montan-Mitbestimmung zitiert haben, möchte ich Ihnen folgendes sagen: In der gleichen Zeit, in der die Sozialdemokraten — und das macht den Unterschied aus, und Sie können sicher sein, daß die Arbeitnehmer und Gewerkschafter das wahrgenommen haben — den Antrag zur Sicherung der Montan-Mitbestimmung vorbereitet haben, hat die CDU/CSU einen Gruppenantrag zur Einführung von Sprecherausschüssen leitender Angestellter im Betriebsverfassungsgesetz vorgelegt.

    (Beifall bei der SPD)

    Das definiert die Interessen und ihre Einschätzung durch die politischen Kräfte in diesem Lande.
    Nun will ich nicht verhehlen — das könnte ich gar nicht —, daß es mich bedrückt, wie die Montan-Mitbestimmung in den letzten Monaten im Streit gelegen hat. Ich will die Gründe dafür nennen, warum ich und warum viele Arbeitnehmer und Gewerkschafter das so empfinden. Hier handelt es sich nicht um Druck oder ähnliches, sondern um. mehr.
    Die Montan-Mitbestimmung ist nicht nur ein bedeutsamer historischer Vorgang, als den ihn auch der Kollege Blüm gewürdigt hat, weil ja mit diesem Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer die Ablösung von Besatzungsrechten verbunden war und deutsche Selbstbestimmung in der Schwerindustrie hergestellt wurde. Nicht nur deshalb beschäftigt uns das. Vielmehr möchte ich auch gegenüber meinen Kollegen von der FDP nun Verständnis für eine Erfahrung werben, die man im Ruhrgebiet machen kann. Für die Arbeitnehmer im Ruhrgebiet stellt die Montan-Mitbestimmung eine soziale Wegmarkierung dar, die in ihren Lebenserfahrungen und in ihrer sozialgeschichtlichen Entwicklung einen hohen Rang einnimmt.

    (Beifall bei der SPD)

    Die Arbeiterschaft an Rhein und Ruhr ist im
    19. Jahrhundert, also früher, intensiver und — so
    muß man hinzufügen — auch härter und mitleidlo-



    Rohde
    ser von der Industrialisierung erfaßt worden als andere — ohne sozialen Schutz, ohne soziale Rechte und mit all den Konsequenzen, die für sie und ihre Familien damit verbunden gewesen sind. Für diese Arbeiterschaft bedeutete Mitbestimmung in der Schwerindustrie eine Hoffnung, die Hoffnung nämlich, als Arbeiter einen neuen Status zu gewinnen, in dem man beachtet wird, respektiert wird und der die Chance eröffnet, seine Rechte wahrzunehmen und seine Erfahrungen in der Wirtschaft zum Ausdruck zu bringen.

    (Beifall bei der SPD)

    Dies ist mehr als ein Streit um Paragraphen und vielerlei Einzelgesetze, über die 51er, 56er oder 71er Regelungen. Der Paragraphenstreit geht deswegen über die Köpfe der Arbeiterschaft hinweg, weil sich diese Arbeiterschaft an der Ruhr und andernorts sagt: Unsere Industrie, in der wir arbeiten, in der wir bisher paritätisch mitbestimmen konnten, die bleibt doch trotz innerbetrieblicher Strukturveränderungen Schlüsselindustrie mit ihrer Bedeutung, die sie für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung unseres Landes besitzt. Das sind Grundüberzeugungen.
    Wir müssen das geltende Recht ändern, um Montan-Mitbestimmung zu sichern. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung den Beschluß der Koalition deutlich gemacht und im einzelnen erklärt, daß für die nächsten sechs Jahre der Anwendungsbereich und der Inhalt der Montan-Mitbestimmung gesichert werden sollen. Beides ist wichtig. Das heißt zunächst erst mal, Herr Kollege Blüm, daß dieses, wie ich es sehe, soziale Grundrecht der Arbeitnehmer in dieser Legislaturperiode nicht durch einen Handstreich ausgehebelt werden kann.
    Natürlich bewegt mich wie auch Gewerkschaftler draußen in den Betrieben die Frage, was nach diesen sechs Jahren passiert. Es wäre nicht redlich, darüber in dieser Debatte nicht sprechen zu wollen. Deshalb werde ich mir als Abgeordneter das Recht nehmen, in den bevorstehenden Beratungen des Bundestages über dieses Gesetz die Frage zu stellen, ob es wirklich zu viel verlangt ist, in diesem gesetzlichen Verfahren eine rechtliche Möglichkeit für Vereinbarungen der Beteiligten über die Fortsetzung der Montan-Mitbestimmung über die sechs Jahre hinaus zu erreichen.

    (Beifall bei der SPD)

    Wenn der Gedanke der „Sozialpartnerschaft" in diesem Hause von der CDU-Fraktion so beklatscht worden ist und wenn es darüber viele grundlegende, wie das heute heißt, Ausführungen aus verschiedenen festlichen Anlässen gibt, dann muß gefragt werden, ob man diesen hohen Anspruch nicht auch auf die Erde zurückholen darf: der Gesetzgeber könnte den Beteiligten in dieser für sie und für die wirtschaftliche Entwicklung so wichtigen Sache das Recht zu Vereinbarungen eröffnen. Das ist nicht nur eine Mitbestimmungs- und Arbeitnehmerfrage im engeren Sinne.
    Dieses paritätische Mitbestimmungsrecht diskutieren wir heute auf dem Hintergrund von zwei Wirtschaftszweigen, in denen große Aufgaben und Probleme in den 80er Jahren zu bewältigen sind. Soweit
    es den Bergbau angeht — Kohle als entscheidender Eckwert der Energiepolitik —, bedeutet das, gewaltige Anstrengungen zu unternehmen, und soweit es die Stahlindustrie betrifft, haben wir mit Strukturveränderungen zu rechnen. Beide Aufgaben, sowohl Bergbau und Kohle als wesentliche Energiegrundlage für die Zukunft zu sichern, als auch die Strukturveränderungen in der Stahlindustrie können wir nur zusammen mit der Arbeitnehmerschaft und im Sinne der Mitbestimmung bewältigen.

    (Beifall bei der SPD)

    Herr Kollege Blüm, ich war enttäuscht darüber — ich will das ganz offen sagen —, daß Sie hinsichtlich der Arbeitsmarktpolitik außer allgemeinen Anklagen nur gesagt haben: „Es gibt hier tausend Wege",

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Mindestens zehn!) ohne auch nur einen konkret werden zu lassen.


    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    So können doch Arbeitnehmerinteressen vor dem Deutschen Bundestag nicht behandelt werden.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Blüm [CDU/ CSU]: Herr Rohde, mindestens zehn habe ich genannt! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Da hat er nicht zugehört! — Hat zwischenzeitlich geschlafen!)

    Dazu werde ich Ihnen sagen, wie wir in diesem Bundestag unsere Verantwortung wahrnehmen und was wir in Bewegung bringen wollen. Erstens gehen wir dabei von den Sachverständigengutachten aus, den vielfältigen Einschätzungen der wirtschaftlichen Entwicklung im Jahre 1981. Sie wissen wie ich, daß die Institute zumeist nahezu Nullwachstum voraussagen, daß mit wachsender Arbeitslosigkeit zu rechnen sei, allerdings im Herbst 1981 eine Festigung der Konjunktur in Rechnung gestellt werden könne. Diese Hoffnungen — —

    (Zuruf von der CDU/CSU: Bis jetzt hat er noch keinen einzigen genannt! — Broll [CDU/CSU]: Das war die erste Methode!)

    — Ich komme dazu, Herr Kollege. — Diese Hoffnungen auf den Herbst 1981 sind aber eher vage. Unsere Auffassung ist, daß es der Politik nicht erlaubt sein kann, bis zum 31. Dezember 1981 zuzuwarten, um dann festzustellen, ob die wirtschaftspolitischen Vorausschätzer mit ihrer Theorie der „vorübergehenden Flaute" und ihrer Empfehlung, „einfach durchzusegeln", recht hatten, ob es sich im Blick auf die Europäische Gemeinschaft — wir haben ja nicht nur mit deutschen Prozessen zu rechnen — wirklich nur um einige Monate des „Durchsegeln" handelt oder ob Gefahren des „Reinsegelns" zu erwarten sind.

    (Broll [CDU/CSU]: Das war die zweite Methode!)

    Wir ziehen daraus die Konsequenz, auf die wir uns in der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion darauf vorbereiten, im ersten Halbjahr 1981— konkret: im Frühjahr — eine wirtschafts- und vor allem beschäftigungspolitische Zwischenbilanz aufzumachen, um dann, gestützt auf die tatsächlichen Erfah-



    Rohde
    rungen, darüber zu entscheiden, was für die weitere Entwicklung notwendig erscheint.

    (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ CSU: Das ist j a sehr konkret! — Bloße Vertagung! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

    Zweitens, Herr Kollege Blüm, werden wir darauf dringen, zu einer kritischen Überprüfung der Methoden und Instrumente der Arbeitsmarktpolitik zu kommen. Das beginnt schon mit der Art und Weise, wie die deutsche Öffentlichkeit — auch der Deutsche Bundestag — über Arbeitslosigkeit in diesem Lande informiert wird. Ich sage es jetzt einmal zugespitzt, wie ich zugebe: Einmal im Monat erscheint der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit im Fernsehen, tritt wie ein Mann aus dem Wetterhaus heraus, verkündet ein paar Zahlen, gibt drei Sätze als Kommentar. Dann wird wieder abgeschaltet. Anschließend gibt es die obligatorischen Stellungnahmen der Bundestagsfraktionen. Der eine hat Bedenken, ist aber-nicht ohne Hoffnung. Der zweite sagt, man müsse das von beiden Seiten sehen, und der dritte meint, es sei genauso düster, wie er immer in Rechnung gestellt habe. Anschließend wird dann das Buch bis zum nächsten Monatsende wieder zugeklappt.

    (Beifall bei der SPD und FDP — Dr. Blüm [CDU/CSU]: Und Sie sagen: Im Ausland ist es schlechter!)

    Ich frage mich — und wir müßten doch alle ernsthaft diese Frage stellen —, ob in dieser nun schon jahrelang anhaltenden Behandlung nicht die Gefahr liegt, daß sie zu einem Routineakt in einem Klima verwalteter Arbeitslosigkeit wird.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Zurufe von der CDU/CSU)

    Deshalb ist es doch nicht zuviel verlangt, daß wenigstens einmal im Jahr ein umfassender Arbeitsmarktbericht vorgelegt wird und die Bundesanstalt für Arbeit für die Öffentlichkeit, aber auch für die Behandlung hier im Deutschen Bundestag, über das Zahlenwerk hinaus dokumentiert, was hinter diesen Zahlen steht. Dann könnten wir im Blick auf regionale Verhältnisse und die Arbeitslosigkeit bestimmter Gruppen

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Gut, das können wir ja machen! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

    konkret und in einer weniger literarischen Weise, als das bei Ihnen heute der Fall war, die Probleme und Aufgaben erörtern. Dazu würde auch gehören, wie Arbeitsvermittlung und Berufsberatung wirken und wie bei den einzelnen Arbeitsmarktprogrammen das Verhältnis von Mitnahmeeffekten der Unternehmen zu den Arbeitsplatzeffekten für die Betroffenen beschaffen ist.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Dieser Arbeitsmarktbericht, der eine Jahresbilanz sein soll, soll kein Selbstzweck sein. Davon müßten Ziele der Arbeitsmarktpolitik für die nächste Periode abgeleitet werden.
    Der Bundeskanzler hat am Montag in seiner Regierungserklärung mit Recht auf die gemeinsame Verantwortung von Unternehmen, Tarifpartnern, Regierung und Gesetzgebern in Bund und Ländern für die Vollbeschäftigung hingewiesen. Für diese gemeinsame Verantwortung muß allerdings auch ein Boden geschaffen werden, auf dem sie wirksam werden kann. Es müssen beschäftigungspolitische Ziele gesetzt werden, die die Verpflichtungen der Beteiligten für die jeweils nächste Periode deutlich machen und uns somit in die Lage versetzen, nachzuprüfen und nachzumessen, wie diese Ziele von den jeweils Verantwortlichen wahrgenommen werden.
    Ferner, Herr Kollege Blüm, bin ich davon überzeugt, daß uns in dieser Legislaturperiode die Frage der Finanzierung der Bundesanstalt für Arbeit beschäftigen muß.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Da hat sich die Bundesregierung verschätzt! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Was wollen Sie denn gegen die Arbeitslosigkeit tun?)

    Ich weiß nicht, wie Sie das einschätzen. Ich bin der Meinung, daß, auf Dauer gesehen, die Kosten der Bundesanstalt für Arbeit — von der Arbeitsmarktförderung bis zur Arbeitslosenversicherung — nicht voll und ganz nur von den Arbeitern und den Angestellten finanziert werden können.

    (Beifall bei der SPD)

    Manchmal frage ich mich, ob mit dem Begriff der Versicherung überhaupt noch das erfaßt werden kann, was uns in den 80er Jahren an arbeitsmarktpolitischen Verpflichtungen aufgegeben ist.
    Die Koalition hat sich dafür entschieden, daß die Finanzierungsdefizite der Bundesanstalt für Arbeit vom Bund gedeckt werden und nicht zu Beitragserhöhungen führen sollen. Ich weiß, daß die Art dieser Deckung Kritik hervorgerufen hat. Ich wische diese Kritik auch nicht einfach vom Tisch. Auf der anderen Seite bedeutet diese Entscheidung aber, daß hier nicht der bequeme Ausweg einer Beitragserhöhung für die Arbeitslosenversicherung — unter der Überschrift: Ein für allemal wird damit die Bundesanstaltsfinanzierung entschieden — gesucht worden ist. Wir werden uns also im nächsten Jahr — wie ich hoffe, gestützt auf konkrete Vorarbeiten der Bundesregierung — mit diesem Thema zu beschäftigen haben.
    Schließlich bin ich davon überzeugt, daß die Frage der Arbeitszeitverkürzung auch unter beschäftigungspolitischen Gesichtspunkten in den 80er Jahren nicht ausgeklammert werden kann.

    (Sehr wahr! bei der CDU/CSU)

    Ich will dabei offen sagen, daß ich nicht der Meinung bin, daß alle beschäftigungspolitischen Probleme der 80er Jahre allein mit Arbeitszeitverkürzung bewältigt werden können. Aber ich bin der Meinung, daß ohne Arbeitszeitverkürzung die beschäftigungspolitischen Probleme insgesamt die Tendenz haben, sich zu verschärfen.
    Ich glaube, daß wir hier insbesondere im Blick auf zwei Gruppen besondere Prioritäten sehen müßten, für die Schichtarbeiter und für die älteren Arbeit-



    Rohde
    nehmer. Was immer man über Familienpolitik sagen mag und auch sagen muß: Ich bin der Meinung, daß es auch eine wesentliche familienpolitische Aufgabe ist, für die 3,7 Millionen Schichtarbeiter bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu schaffen, damit Millionen von Menschen überhaupt eine Chance erhalten, Familien sein zu können.

    (Beifall bei der SPD)

    Für die älteren Arbeitnehmer sollten wir anstreben, einen flexibleren und damit menschlicheren Übergang aus dem Arbeitsleben in die soziale Sicherung zu erreichen. Ich erlaube mir den Rat an die Bundesregierung, sich mit den Tarifvertragsparteien an einen Tisch zu setzen, um mit ihnen gemeinsam die Möglichkeiten zu erörtern, die auf diesem Felde durch ein Zusammenwirken von Tarifvertragsparteien, Arbeitmarktpolitik und staatlicher Sozialpolitik zu konkreten Fortschritten führen können.
    Zum Schluß möchte ich noch einige Anmerkungen zum sozialen Sicherungssystem machen, wobei der Bundesarbeitsminister sicherlich noch auf Finanzierungszusammenhänge eingehen wird. Herr Kollege Blüm, Ihren Ausführungen über die Sozialpolitik will ich Sachverhalte entgegenstellen, von denen ich glaube, daß sie Gewicht haben und deutlicher als Ihre an manchen Stellen zynische Kritik

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Wieso zynisch?)

    die soziale Lage in unserem Lande widerspiegeln.
    Erstens. Die Gesamtrechnung aller sozialen Leistungen in der Bundesrepublik — von Bund, Ländern, Sozialversicherungsträgern und anderen — umfaßte 1980 einen Betrag von 449 Milliarden DM.
    Nun bin ich der Meinung — ich komme damit auf eine Bemerkung des Kollegen Kohl von gestern zurück —, daß wir in dieser Legislaturperiode nicht nur darüber sprechen können, sondern auch darüber sprechen müssen, ob mit den Gesamtausgaben im sozialen Bereich in Höhe von 449 Milliarden DM jenes Maß an Wirkungen erreicht wird, das wir im Blick haben, wenn wir über soziale Gerechtigkeit sprechen. Denn in diesen Gesamtausgaben sind nicht nur die Sozialhilfeleistungen enthalten, sondern beispielsweise auch Arzthonorare im Bereich der Krankenversicherung und Leistungen an die pharmazeutische Industrie. Was hier gerecht an manchen Stellen überzogen erscheint, wo möglicherweise oder auch tatsächlich Mißbrauch getrieben wird, wie wir soziale Initiative fördern und bürokratischer Verkrustung entgegentreten können, sollten wir in dieser Legislaturperiode behandeln. Aber das muß konkret sein, damit wir nicht in einer Grauzone allgemeiner Verdächtigungen gegenüber den Sozialleistungen und der Sozialpolitik im ganzen steckenbleiben.

    (Beifall bei der SPD)

    Denn das würde die Verhältnisse nicht ändern, damit würde man auch Wert und Bedeutung der Sozialpolitik nicht gerecht.
    Zum zweiten, Herr Kollege Blüm, wird ab 1982 in unserem Lande die Rentenanpassung, wie Sie wissen, wieder bruttolohnbezogen erfolgen

    (Dr. Blüm [CDU/CDU]: Soll ich das noch einmal vorlesen!)

    — ist das nichts? —, während die konservative englische Regierung zur gleichen Zeit die Lohnbezogenheit der Rente abgeschafft und das Beitragsniveau angehoben hat.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Sind wir jetzt auch noch für England zuständig?)

    Die Regierungserklärung von Bundeskanzler Schmidt weist aus, daß nicht in das soziale Netz eingeschnitten wird. Man muß sich einmal klarmachen, was das allein für den Bereich der Rentenversicherung, der Arbeitsmarktförderung und der Arbeitslosenversicherung bedeutet. Das heißt, daß Ausgaben in Höhe von 160 Milliarden DM jährlich in diesem Bereich gesichert sind.
    Herr Kollege, was die Renten anbetrifft, so wissen Sie im Grunde genommen genauso gut wie ich, daß sich das Nettoniveau der Renten, in dem sich der Vergleich von Altersruhegeld und Arbeitseinkommen auswirkt, in diesem Jahr so hoch ist wie in keinem Jahr zuvor, in dem die CDU/CSU dieses Land regiert hat.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Blüm [CDU/ CSU]: Weil Sie den Arbeitnehmern so viel Steuern abnehmen!)

    Es liegt heute. bei 71,2 %, während es beispielsweise in dem Jahr, in dem Bundeskanzler Erhard die Regierungserklärung abgab, bei 59 % lag.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Weil die Arbeitnehmer damals weniger Steuern gezahlt haben!)

    — Herr Kollege, über die Einzelheiten der künftigen Rentengesetzgebung werden wir uns unterhalten, wenn der Entwurf auf dem Tisch liegt

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: So ist es!)

    und wenn wir die Unterlagen der Transferkommission und die Zukunftsbilanzen der Rentenversicherung vorliegen haben. Dann werden wir die Konsequenzen bis hin zum Krankenversicherungsbeitrag erörtern, zu dem sich die CDU/CSU ja auch bekannt hat. Sie sagen das nur nicht laut,

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Doch, sehr laut!)

    das steht zumeist im Kleingedruckten Ihrer Broschüren.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das haben wir sogar im Wahlkampf gesagt, nur anders als Sie!)

    Das alles werden wir beraten, und zwar gewissenhaft.
    Ich richte dabei die Bitte an die Bundesregierung, uns als Parlament bei der Gestaltung der gesetzlichen Einzelheiten, die ihr Gewicht haben wie z. B. der Beitrag der Rentner zur Krankenversicherung, Gestaltungsraum zu lassen. Die Bundesregierung hat für den Herbst nächsten Jahres eine Reihe wichtiger Gutachten angefordert, die uns helfen sollen,



    Rohde
    die Auswirkungen von Einzelregelungen im Bereich der Rentenversicherung und in anderen Bereichen der Sozialpolitik beurteilen zu können. Wir müssen die Chance haben, alle Einzelheiten, z. B. bei der Gestaltung des Krankenversicherungsbeitrages, auf dem Hintergrund der Gutachten, die wir für den Herbst nächsten Jahres erwarten, zu prüfen und zu beurteilen.
    Zum Schluß, meine Damen und Herren: Wir werden die Bundesregierung in ihrer Politik des Ausgleichs nach innen und des Ausgleichs nach außen unterstützen und werden in diese Politik auf unsere Weise unsere Erfahrungen, unsere Erkenntnisse und all das einbringen, was sich aus der Diskussion mit dem Bürger über die Zukunft sozialer Sicherheit, über die Erwartungen der Arbeitsmarktpolitik und auch der Mitbestimmung ergibt. — Schönen Dank.

    (Anhaltender Beifall bei der SPD und der FDP)



Rede von Georg Leber
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dieter-Julius Cronenberg


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der neue Oberkoordinator für Sozialpolitik hat in dieser Funktion hier seine Jungfernrede gehalten. Man möchte ihn eigentlich ein wenig beneiden um seine Wortspiele, um seine bildhafte Darstellung, um die eine oder andere Formulierung. Lassen Sie mich deswegen versuchen,

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Jetzt kommt's!)

    eine Bewertung vorzunehmen, die auch in einem Wortspiel liegt. Herr Kollege Blüm, Sie haben viel Richtiges und viel Neues in Ihrer Rede gesagt. Bedauerlicherweise war das Neue nicht richtig und das Richtige nicht neu.

    (Beifall bei der FDP und der SPD — Dr. Blüm [CDU/CSU]: Sie waren auch schon besser!)

    Ich werde mir ganz sicher, Herr Kollege Blüm, die Mühe machen, Ihre Rede im Detail gewissenhaft nachzulesen. Aber bei gutem und wirkliçh gewissenhaftem Zuhören habe ich beim besten Willen außer, wie gesagt, hervorragenden Formulierungen wenig Substanz gefunden. Das, was ich eigentlich erwartet und, wenn Sie so wollen, sogar erhofft hatte, nämlich eine positive Kritik im Sinne einer Anregung auch für uns in diesen schweren Zeiten, habe ich leider wenig gefunden. Die Einheit in der Ablehnung war Ihr Grundtenor, nicht bessere und konkrete Gegenvorschläge, wie ich sie mir, wie gesagt, erhofft hätte.

    (Müller [Remscheid] [CDU/CSU]: Sie müssen noch einmal nachlesen!)

    — Ich werde dies, Kollege Müller, ganz sicher tun. Ich bin auch, wie Sie mich kennen, bereit, gegebenenfalls meine Position zu korrigieren.

    (Lutz [SPD]: Das ist nicht notwendig! — Dr. Blüm [CDU/CSU]: Der Lutz weiß alles schon vorher!)

    — Ich werde sie nachlesen, Herr Kollege Lutz; das bin ich mir selber schuldig.
    Lassen Sie mich eine kurze Positionsbeschreibung der Situation aus unserer Sicht hier geben, damit die Positionen für die kommende Legislaturperiode zwischen den Fraktionen, insbesondere zwischen der Koalition und der Opposition, klar sind.
    Sozialleistungen, die nicht das Ergebnis wirtschaftlicher Leistungen sind, die nicht solide finanziert sind, bewirken keine soziale Sicherheit, sondern genau das Gegenteil.

    (Beifall bei der FDP)

    Deswegen reden wir nicht nur von der Einheit von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, sondern wir versuchen, sie zu praktizieren, und wir praktizieren sie auch. Sie ist die Voraussetzung für die Leistungen, mit denen die soziale Sicherheit finanziert wird, nämlich für die Leistungen, die die Arbeitnehmer und die Unternehmer in Form von Beiträgen und Steuern — ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, Kollege Blüm, daß das meistens dieselben Zahler sind —, aufbringen. Voraussetzung für all dies ist Beschäftigung, Arbeit.

    (Kroll-Schlüter [CDU/CSU]: Das war aber auch nicht neu!)

    Für ein exportorientiertes Land wie das unsrige ist die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft von ganz entscheidender Bedeutung. Neben Qualität und Pünktlichkeit ist der Preis unserer Arbeit, unserer Produkte und Dienstleistungen von entscheidender Bedeutung für diese Wettbewerbsfähigkeit.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Ist das jetzt neu oder richtig?)

    — Sowohl als auch. — Der Preis wird durch die Kosten bestimmt. Deswegen muß gerade an dieser Stelle festgestellt werden: Wir bejahen die soziale Sicherheit auf solidarischer Grundlage, weil sie die individuelle Freiheit des Bürgers in der modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft gewährleistet. Wir wissen aber auch, daß diese im wesentlichen durch die Beiträge finanziert wird. Soziale Sicherheit ist eben nicht nur Leistung, sondern sie bedeutet auch Kosten wie Lohn und Material, Kosten, die letztendlich auch die Wettbewerbsfähigkeit bestimmen.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Ist das neu?) Wie gesagt, wir bejahen die soziale Sicherheit.

    Eine soziale Sicherheit, die den einzelnen aus seiner persönlichen Verantwortung entläßt, schränkt aber auch seine individuellen Freiheiten ein. Wer an den mündigen Bürger glaubt und nicht nur über ihn redet, darf die Eigenverantwortung und auch die Selbstbeteiligung, wo immer möglich und verantwortbar, nicht ausschließen.

    (Beifall bei der FDP — Müller [Remscheid] [CDU/CSU]: Wo ist da der Unterschied zu Herrn Blüm?)

    Beitragsstabilität in der sozialen Sicherung ist eben nicht nur aus Kosten- und Wettbewerbsgründen erforderlich, sondern sie ist auch notwendig, damit das frei verfügbare Einkommen des einzelnen abhängig



    Cronenberg
    Beschäftigten möglichst hoch ist. Dieses frei verfügbare Einkommen wird nun einmal durch notwendige Steuerzahlungen und durch die Sozialbeiträge eingeschränkt.
    An dieser Stelle möchte ich, Herr Kollege Kiep, eine Korrektur an Ihren Feststellungen von heute morgen vornehmen — auch Ihnen, Herr Kollege Blüm, möchte ich das in Erinnerung rufen —: Herr Kollege Kiep, Sie haben heute morgen festgestellt, wir hätten es mit einer annähernd 50%igen Staatsquote zu tun.

    (Kiep [CDU/CSU]: 47 %!)

    Es entspricht eigentlich nicht Ihrem intellektuellen Niveau, die Sozialversicherungsbeiträge ohne weiteres der Staatsquote zuzurechnen; denn diese Sozialversicherungsbeiträge, die jedenfalls nach unseren Vorstellungen individuelle Ansprüche des einzelnen Bürgers sind, der die Beiträge gezahlt hat, können nicht einfach der Staatsquote zugerechnet werden.

    (Beifall bei der FDP)

    Ich hielte es für sauber, wenn Sie sagen würden, es gehöre zur Abgabenquote. Von diesem Platz aus ist heute morgen durch den Bundesfinanzminister noch einmal, wie ich meine, richtigerweise festgestellt worden, daß die Steuerquote seit Beginn der sozialliberalen Koalition konstant geblieben ist. Da die Abgabenquote durch die Steuerquote und die Sozialquote — die Abgabenquote für soziale Beiträge — bestimmt wird, kann es sich also nur darum handeln, daß die Sozialbeiträge gestiegen sind. Das ist in der Tat die wesentliche Ursache für die Steigerung der Abgabenquote.
    Wenn man sich in diesem Zusammenhang noch einmal erlaubt, auf die Identität der Beitrags- und Steuerzahler hinzuweisen — denn in der Lohnabrechnung des abhängig Beschäftigten sind Steuern wie Sozialbeiträge natürlich Abzüge dann ist es doch wohl richtig zu untersuchen, wer denn Ursachen mit dafür gesetzt hat, daß die Sozialbeiträge in diesem Umfang gestiegen sind.
    Herr Kollege Blüm, in diesem Zusammenhang möchte ich einiges in Ihre Erinnerung zurückrufen. Für diese Steigerungen der Sozialbeiträge ist u. a. auch die Tatsache ursächlich, daß zwischen 1967 und 1969 die Rentenbeiträge von 14 auf 18 % gestiegen sind, zu einer Zeit, als Sie, die CDU/CSU, in der Regierung die Hauptverantwortung für diesen Bereich getragen haben.

    (Beifall bei der FDP)

    Wenn die Rentenreform von 1972 in gewissem Umfang Ausuferungen zu verzeichnen hatte, die mitursächlich für zukünftige Probleme waren, dann sind sie weitestgehend von Ihnen initiiert worden. Sie haben sich das von dieser Stelle aus gelegentlich als eine besondere Leistung zugeschrieben.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Haben Sie den Krankenversicherungsbeitrag abgeschafft oder wir?)

    — Ich werde gleich auf den Punkt zurückkommen.
    Sie haben uns 1976 die Zustimmung für die notwendigen Konsolidierungsmaßnahmen in der Rentenversicherung verweigert. Wären diese nicht durch das 21. Rentenanpassungsgesetz verwirklicht worden, wären die Lage und die Liquidität der Rentenversicherung eben nicht so, wie sie jetzt sind.
    Es war Ihre Politik, mit der Sie die Aufhebung der Versicherungspflichtgrenzen in der Renten- und Arbeitslosenversicherung erreicht haben. Es war — wie die Kollegen Haussmann und Lambsdorff von dieser Stelle heute morgen schon gesagt haben — Ihre Politik, die die Einführung der arbeitsrechtlichen Lohnfortzahlung mit besonderer Belastung für kleine und Mittelbetriebe statt der versicherungsrechtlichen Lösung ermöglicht hat. Die Verfestigung des nivellierenden und die Eigenverantwortung der Versicherten beseitigenden Sachleistungssystems in der gesetzlichen Krankenversicherung ist insbesondere von Ihnen betrieben worden. Die Zwangsdynamisierung der betrieblichen Altersversorgung, die für diese außerordentlich gefährlich ist, ist von Ihnen gefordert worden und hier als Antrag eingebracht worden, allerdings dann von der Koalition abgelehnt worden. Die unangebrachte Großzügigkeit bei Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz, über die Sie sich eben selber mokiert haben, ist weitestgehend von Ihnen mitbetrieben worden.
    Schauen wir uns mal die Vorschläge an, die sie uns in diesem Wahlkampf auf den Tisch gelegt haben. Da haben wir es mit einem Erziehungsgeld in Milliardenhöhe zu tun, das am Widerstand Ihrer eigenen Haushaltspolitiker gescheitert ist. Da legen Sie uns für die 84er Reform den Vorschlag auf den Tisch, fünf Erziehungsjahre mit Kosten von 15 Milliarden jährlich einzuführen — so beschlossen von Ihnen im Juni 1980, wohl wissend, wie die Fakten sind.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Falsche Rechnung! Falsche Zahlen!)

    Ich erinnere an Ihren Vorschlag zur Änderung des 21. Rentenanpassungsgesetzes für 1981 mit Folgekosten für einen 15-Jahres-Zeitraum von 60 Milliarden DM. So Ihr Kollege Geißler 14 Tage vor der Wahl. Allerdings alles wohlgemerkt mit Finanzvorbehalt. Auf der anderen Seite werfen Sie uns vor, wir hätten nicht gesehen, aber sie hätten immer gewußt, wie es um die Finanzen dieses Landes. bestellt ist.

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Sagen Sie doch mal, was wir vorhaben! Müller [Remscheid] [CDU/CSU]: Reden wir eigentlich über die Regierungserklärung oder die Blüm-Rede?)

    Weiter erinnere ich an die Umverteilung zu Lasten der Bezieher höherer Renten durch die sogenannte Sozialkomponente beim Krankenversicherungsbeitrag. Herr Kollege Blüm, Sie haben soeben von dieser Stelle aus für leistungsbezogene Renten geworben und argumentiert. Erklären Sie mir bitte einmal, wie Ihr Krankenversicherungsbeitrag mit der sogenannten sozialen Komponente leistungsgerechte Renten ermöglicht. Denn nach unserem Umlagen-



    Cronenberg
    system und nach unseren Vorstellungen ist es nun einmal so, daß die Dauer und die Höhe der Beiträge die Höhe der Rente bestimmen sollen.

    (Müller [Remscheid] [CDU/CSU]: Man darf die Gerechtigkeit bei der sozialen Komponente nicht ausschalten!)

    Sie wollen mit Hilfe einer sogenannten sozialen Komponente beim Krankenversicherungsbeitrag die höheren Renten mehr kürzen. Das ist in Ihrem Parteiprogramm zu finden. Auf Seite 28 ist dort zu lesen:
    Das Festhalten an der bruttolohnbezogenen Rente, deren Einführung durch die CDU/CSU ein Jahrhundertwerk echter Reformpolitik war, ermöglicht die Einführung eines nach den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit gestaffelten Krankenversicherungsbeitrags.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: So ist es! — Müller [Remscheid] [CDU/CSU]: Danke schön! So ist es!)

    Wenn Sie die sogenannte Sozialkomponente an dieser Stelle einführen, bedeutet das schlicht und ergreifend: Nivellierung der Renten, Kürzung der Ansprüche jener, die mehr Beiträge gezahlt haben, da der Topf sich j a nicht verändert. Das muß man mit dieser Deutlichkeit und Klarheit sagen.

    (Beifall bei der FDP und der SPD — Müller [Remscheid] [CDU/CSU]: Das ist aber falsch!)

    — Das ist nicht falsch, Herr Kollege Müller.
    Die sozialliberale Koalition hat in diesem Wettstreit um mehr Ausgaben nicht mitgemacht. Wir praktizieren eben die Einheit von Wirtschaftspolitik, Finanzpolitik und Sozialpolitik. Genau deswegen funktioniert zur Überraschung einiger oder auch vieler bei Ihnen unsere Zusammenarbeit in der sozialliberalen Koalition im Bereich der Sozialpolitik um vieles besser, als die Kritiker vermuten mögen.
    Nun lassen Sie mich das gleiche Zitat aus der Regierungserklärung vortragen, das Sie, Herr Kollege Blüm, gebracht haben, nämlich zu der Frage: Wie geht es nach 1984 weiter? Wenn eine Aussage dieser Regierungserklärung klar, deutlich und unmißverständlich ist, dann ist es genau die zu dem Bereich der Renten ab 1984. Ich möchte genau wie Sie — aber nicht als Beweis für Unklarheit, sondern als Beweis für Klarheit — die Regierungserklärung noch einmal zitieren:
    Nach 1984 wird bei der Anpassung dem Gesichtspunkt der gleichgewichtigen Entwicklung des Anstiegs der verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmer und der Rentner unter Beachtung der finanziellen Stabilität der Rentenversicherung im Rahmen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Rechnung getragen werden.

    (Müller [Remscheid] [CDU/CSU]: Lauter Vorbehalte!)

    Falls dieses Ziel dadurch erreicht wird, daß die
    Rentner ab 1985 schrittweise bis zur Höhe des
    halben Krankenversicherungsbeitrags so wie
    aktive Arbeitnehmer an der Finanzierung ihrer Krankenversicherung beteiligt werden, so wird dieser Krankenversicherungsbeitrag von allen Rentnern zum gleichen prozentualen Beitragssatz erhoben.

    (Müller [Remscheid] [CDU/CSU]: Der Kanzler hat das besser vorgelesen!)

    Schauen Sie, das ist genau das, was wir inhaltlich verlangt haben.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Was ich gesagt habe!)

    — Entschuldigen Sie, das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie gesagt haben, Herr Kollege Blüm.

    (Widerspruch des Abg. Dr. Blüm [CDU/ CSU])

    Das müssen wir einmal in aller Klarheit und Deutlichkeit hier feststellen.
    Nun lassen Sie mich einige Bemerkungen zu der Kritik machen, hier würden 3,5 Milliarden DM hin-und hergeschoben,

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: So ist es!)

    sowie zu dem weiteren Vorwurf, die Zuschüsse des Bundes an die Rentenversicherungsträger würden laufend gekürzt.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: So ist es!)

    Lassen Sie mich einige Bemerkungen machen, die auch für die zukünftige Diskussion von hoher Bedeutung sind.
    Zunächst ist die Tatsache zu vermerken, daß die Liquidität unserer Rentenversicherungsträger um vieles, vieles besser ist, als es bei den Beiträgen von Ihnen, meine verehrten Herren Kollegen von der CDU/CSU, in der Diskussion zum 21. Rentenanpassungsgesetz zu vermuten war. Liquiditätsprobleme haben wir in den Rentenversicherungen seit dem 21. Rentenanpassungsgesetz nicht mehr. Das ist der Beweis dafür, daß dieses Gesamtunternehmen trotz aller Unkenrufe erfolgreich und richtig war.
    Die zweite Bemerkung. Wenn jemand die Idee hätte haben können, etwa die 84er Reform im wesentlichen durch die Reserven zu machen, die sich durch das halbe Prozent ergeben —18,5 statt 18 % = 3,5 Milliarden DM —, dann möchte ich Ihnen aus meiner Sicht mit aller Deutlichkeit sagen: Das wäre in der Tat eine ungewöhnlich unseriöse Finanzierungsmethode. Denn eine langfristige Reform wie die für 1984 vorgesehene Reform der Hinterbliebenenversorgung kann nach unserem Umlagesystem selbstverständlich nicht dadurch finanziert werden, daß etwa mit einem halben Beitragspunkt über einen relativ kurzen Zeitraum gewisse Reserven angesammelt werden. Vielmehr muß dieses Unternehmen, wenn es seriös finanziert werden soll, in sich selbst stimmig gemacht werden. Insofern ist es geradezu gut, daß es uns nicht in die Versuchung führt, möglicherweise mit Reserven - ich nenne die 3,5 Milliarden DM — Abenteuer zu beginnen, die auf die Dauer nicht durchhaltbar sind.

    (Beifall bei der FDP)




    Cronenberg
    Uns kommt es entscheidend auf folgendes an. Darauf möchte ich im Zusammenhang mit der Wettbewerbsfähigkeit, von der ich eben gesprochen habe, hinweisen.