Rede von
Dr.
Karl-Heinz
Narjes
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Fraktion der CDU/CSU begrüßt erneut den Abschluß der Verhandlungen über den Beitritt der Republik Griechenland zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, zur Europäischen Atomgemeinschaft und zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Mit dem vorliegenden Vertragswerk sind wir dem großen Ziel der Einheit des freien und demokratischen Europas um einen bedeutsamen Schritt nähergekommen. Der Abschluß des griechischen Beitrittsvertrages und der Beginn der Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft legen Zeugnis ab von der über alle Rückschläge hinweg lebensfähigen Idee der Einigung Europas. Sie erweist sich erneut als die konstruktivste politische Idee unseres Jahrhunderts. Ihr Anspruch als Modell regionaler Friedenspolitik wird dadurch abermals untermauert. Der Beitritt betrifft nicht nur die drei Integrationsverträge, sondern auch das politische Konsultationssystem der Europäischen Gemeinschaften, der EPZ. Er bringt dadurch die untrennbare Ver-
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Dr. Narjes
knüpfung aller wirtschaftlichen und politischen Lebensinteressen der europäischen Staaten zum Ausdruck.
Die Süderweiterung gibt Europa die Chance, sein Ziel als Region der Demokratie, des wirtschaftlichen Wohlstands, der sozialen Solidarität und Stabilität und der weltwirtschaftlichen Verantwortung erfolgreich auszubauen und zu entwickeln zu einer tiefen und unauflösbar im Bewußsein der Völker verankerten Schicksals- und Friedensgemeinschaft der Freien und Gleichen. „Schicksalsgemeinschaft" bedeutet den Vorrang der europäischen Verpflichtungen bei der Bestimmung aller politischen Interessen der Mitgliedstaaten einschließlich der Verteidigungspolitik und der Außenbeziehungen. „Friedensgemeinschaft" verlangt den unwiderruflichen und über alle anderen Verpflichtungen hinausgehenden Verzicht auf die Anwendung von Gewalt oder auch nur die Drohung mit Gewalt bei der Lösung von Konflikten mit anderen Mitgliedstaaten oder Assoziierten der Europäischen Gemeinschaft.
Unsere Genugtuung über das Zustandekommen dieses Vertrags ist besonders groß, weil der ihm vorhergehende Assoziierungsvertrag für nahezu sieben Jahre einer leidvollen Prüfung des griechischen Volkes unterbrochen war. Wir sehen es als einen Teil unserer Verpflichtung zur europäischen Solidarität an, durch einen erfolgreichen Beitritt die demokratische Entwicklung in Griechenland zu festigen und unauflösbar zu verankern.
Diese erfreuliche Entwicklung der griechischen Beziehungen zur Europäischen Gemeinschaft ist in erster Linie das persönliche Verdienst der Weitsicht und Beharrlichkeit eines großen griechischen Staatsmannes, des Ministerpräsidenten Konstantin Karamanlis, des Ministerpräsidenten Griechenlands 1961/62 und heute wieder. Ich erinnere mich — wenn dieses persönliche Wort erlaubt ist — noch gerne an seinen Besuch in Brüssel, als er vor 20 Jahren Walter Hallstein, dem ersten Präsidenten der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, den griechischen Assoziationsantrag überreichte und diesen damals eindrucksvoll und ausschließlich politisch begründete. Wir haben deshalb seine Auszeichnung mit dem Karlspreis der Stadt Aachen im vergangenen Jahr besonders begrüßt.
Die Beitrittsverhandlungen mit Griechenland wurden 1975 in einer Phase der Europäischen Gemeinschaft begonnen, die durch eine deutliche Schwäche gekennzeichnet war; eine Schwäche, die durch die Rezession und die im Tindemans-Bericht damals beschriebene Unsicherheit über die politische Orientierung des europäischen Einigungswerkes verursacht war. Die innergemeinschaftlichen Entscheidungsprozesse der Jahre 1975 bis 1977 zwischen dem in den europäischen Verträgen nicht vorgesehenen Europäischen Rat, dem Ministerrat und der Europäischen Kommission über den Beitritt Griechenlands wiesen damals deutliche Mängel auf, an die wir uns erinnern müssen, wenn wir über die durch die Erweiterung ausgelösten institutionellen Probleme zu befinden haben.
Auch für das Ratifizierungsverfahren des vorliegenden Beitrittsvertrages gibt es, Herr Staatsminister von Dohnanyi, ein offenes Problem, das einer konstruktiven und demokratischen Lösung zugeführt werden sollte; wir meinen die förmliche Beteiligung des vor vier Monaten direkt gewählten Europäischen Parlaments an der Ratifizierung des griechischen Beitrittsvertrages, so wie es die Fraktion der Europäischen Volkspartei auf eine Initiative unseres Berliner Kollegen Gero Pfennig geforder hat. Wir hoffen auf die Zustimmung der Bundesregierung.
In seiner Substanz ist der Beitrittsvertrag notwendigerweise ein Kompromiß im doppelten Sinne: einmal zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und ihren verfassungsmäßigen Organen und zum anderen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der griechischen Regierung. Kompromisse bedeuten Konzessionen von allen Seiten und schließen es aus, Maximalforderungen durchzusetzen oder sie als alleinigen Maßstab der Bewertung heranzuziehen. Wir begrüßen es, daß Griechenland von Anfang an als Vollmitglied der Europäischen Gemeinschaft beitritt, und wir meinen, daß die Prüfung dieses Vertrages in den Ausschüssen des Bundestages ergeben wird, daß es sich, alles in allem, um einen hinreichend ausgewogenen und deshalb zustimmungsfähigen Kompromiß handelt.
Dies gilt auch für die Dauer und die Ausgestaltung der fünfjährigen Übergangsperiode. Welcher Art die spezifischen Probleme hier sind, hat der Bundesrat bereits in seiner einstimmig angenommenen Entschließung zum Beitrittsvertrag umrissen: Sie liegen im Bereich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, der Agrarpolitik, der Finanzleistungen und der institutionellen Ordnung der erweiterten Gemeinschaft.
Die Diskussion über die Sachprobleme sollte in den Ausschüssen — darin stimmen wir mit der Bundesregierung überein — zügig, aber auch gründlich erfolgen, weil den Regelungen des griechischen Beitrittsvertrages in mancher Hinsicht eine präjudizierende Wirkung für die laufenden oder anstehenden Beitrittsverhandlungen mit Spanien und Portugal und auch für später denkbare Verhandlungen mit der Türkei zukommt.
Der Bundestag kann sich dabei auf das reiche Anschauungsmaterial stützen, das die Anhörungsverfahren der zuständigen Ausschüsse über die Probleme der Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft im Mai 1978 vermittelt hat.
Eine Prüfung verdient dieser Vertrag im übrigen auch wegen seiner Rückwirkungen auf die Wirtschaftsbeziehungen der Europäischen Gemeinschaft mit Drittländern, insbesondere mit den Anrainern am Südufer des Mittelmeeres.
Mit dem Abschluß dieses Vertrags hat sich die Gemeinschaft politisch zum wirtschaftlichen und sozialen Erfolg der Integration Griechenlands verpflichtet, so wie sie später auch für den ökonomischen und sozialen Erfolg der Erweiterung der Ge-
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meinschaft um Spanien und Portugal und vielleicht auch einmal um die Türkei einzustehen hat. Sie hat damit eine Herausforderung auf sich genommen, für die es kaum ein Beispiel in der Wirtschaftsgeschichte gibt. Sie kann dieser Herausforderung nur erfolgreich begegnen, wenn sie sich der konstruktiven und tatkräftigen Mitwirkung der Erweiterungspartner sicher ist. Eigene Leistungen, ob es sich um einen verstärkten Kapitaltransfer oder um die schnelle Öffnung der europäischen Märkte etwa für griechische Produkte handelt, werden allein nicht genügen, um dieses Ziel zu erreichen. Es gilt, zusammen mit den neuen Mitgliedern dynamische Wachstums- und Entwicklungsprozesse einzuleiten und auch durchzuhalten, es gilt, Barrieren umsichtig aus dem Weg zu räumen und keine neuen zu errichten. Es gilt aber auch — das hat das Anhörungsverfahren deutlich gemacht — aus den zum Teil nur begrenzten Erfolgen früheren Bemühens der Sechser-Gemeinschaft um die Lösung von Entwicklungsaufgaben in Süd- und Inselitalien Lehren zu ziehen. Dazu gehören viel Augenmaß, Zähigkeit und die Erkenntnis, daß die Verflechtungsprozesse keine Einbahnstraßen bleiben dürfen.
Kurzum: Ohne einen funktionsfähigen Binnenmarkt kann der volle ökonomische Nutzen des Beitritts nicht erzielt und die Herausforderung nicht bestanden werden. Ich nehme dazu an, daß die heiklen Probleme der Freizügigkeit der griechischen Arbeitnehmer und des Risikos einer für gewisse Agrarprodukte noch steigende Überproduktion uns in den Ausschüssen und vielleicht auch noch einmal in der Abschlußberatung dieses Hohen Hauses beschäftigen werden.
Für die politische Bewertung der Erweiterung bleibt es die wichtigste Frage, zu prüfen, ob und in welchem Umfang die Handlungsfähigkeit der Institutionen der Gemeinschaft durch die Erweiterung beeinträchtigt werden kann und mit welchen Methoden und Änderungen der gegenwärtigen Praxis der europäischen Institutionen sie den möglichen Risiken und Beschränkungen ihrer Handlungsfähigkeit begegnen kann. Sie wird sich dabei an den Grundsätzen zu orientieren haben, die in der Präambel zu den Römischen Verträgen mit einem hohen Grad an Selbstverpflichtung vereinbart worden sind.
Die Erweiterung der Gemeinschaft darf nicht zu Lasten ihrer Vertiefung gehen. Sie sollte eher als ein Hebel, eine Chance und eine Möglichkeit begriffen werden, Hindernisse ihrer Veränderung, Entwicklung und Vertiefung beiseite zu räumen. Also Vertiefung durch Erweiterung — und nicht Erweiterung anstelle von Vertiefung — sollte unsere Losung sein. Wir können ihr dann gerecht werden, wenn wir uns der ernsten Mahnung bewußt sind, die die Kommission der Europäischen Gemeinschaften im Laufe der Verhandlungen mehrmals mit beachtenswerten Gründen vorgebracht hat.
In diesem Geist wird sich die Fraktion der CDU/ CSU dafür einsetzen, daß der Vertrag über den
Beitritt Griechenlands im Deutschen Bundestag rechtzeitig ratifiziert werden kann.