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ID0816607400

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 8/166 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 166. Sitzung Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 Inhalt: Abweichung von § 60 Abs. 2 GO bei der Beratung der Verjährungsvorlagen . . . 13233 A Eintritt des Abg. Besch in den Deutschen Bundestag für den ausgeschiedenen Abg Carstens (Fehmarn) 13290 A Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung . 13233 B Beratung des Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Hermann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen Unverjährbarkeit von Mord zu der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord zu dem von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurf eines Achtzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes — Drucksachen 8/2539, 8/2616, 8/2653 (neu), 8/3032 — in Verbindung mit Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Achtzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes — Drucksache 8/2653 (neu) — in Verbindung mit Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Her- II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 mann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen Unverjährbarkeit von Mord — Drucksache 8/2539 — in Verbindung mit Beratung der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord — Drucksache 8/2616 — Dr. Mertes (Gerolstein) CDU/CSU . . . . 13234 A Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD . . . . 13239 B Kleinert FDP 13243 C Hartmann CDU/CSU 13247 C Dr. Vogel (München) SPD . . . . . . 13252 A Gattermann FDP . . . . . . . . . 13254 C Gerster (Mainz) CDU/CSU . . . . . . 13257 B Dr. Dr. h. c. Maihofer FDP . . . 13260 A, 13292 A Dr. Emmerlich SPD . . . . . . . 13265 B Helmrich CDU/CSU 13268 A Sieglerschmidt SPD 13269 C Frau Matthäus-Maier FDP . . . . . . 13272 B Dr. Lenz (Bergstraße) CDU/CSU 13274 D Dr. Weber (Köln) SPD 13277 D Ey CDU/CSU 13281 C Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 13282 B Blumenfeld CDU/CSU 13285 C Cronenberg FDP 13287 B Dr. Bötsch CDU/CSU . . . . . . . . . 13288 A Erhard (Bad Schwalbach) CDU/CSU . . . 13294 B Dürr SPD 13296 C Engelhard FDP 13298 D Dr. Gradl CDU/CSU 13301 A Thüsing SPD 13303 A Dr. Wendig FDP 13305 D Namentliche Abstimmungen . . 13290 A, 13292 B, 13308 A, 13311 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Sechsten Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes — Drucksache 8/3027 — Pfeifer CDU/CSU . . . . . . . . . . 13308 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Gesetz zur Neufassung des Umsatzsteuergesetzes und zur Änderung anderer Gesetze — Drucksache 8/3028 Westphal SPD 13309 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Gesetz zur Änderung des Gesetzes über technische Arbeitsmittel und der Gewerbeordnung — Drucksache 8/3029 — Jahn (Marburg) SPD 13313 B Nächste Sitzung 13313 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 13315* A Anlage 2 Erklärung des Abg. Dr. Penner (SPD) nach § 59 GO zu Punkt 1 der Tagesordnung . . 13315*A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 13233 166. Sitzung Bonn, den 3. Juli 1979 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich Dr. Arnold 4. 7. Bayha 4. 7. Dr. Böhme (Freiburg) 4. 7. Büchner (Speyer) * 4. 7. Dr. Dübber 3. 7. Dr. h. c. Kiesinger 4. 7. Koblitz 4. 7. Dr. Müller ** 4. 7. Picard 4. 7. Scheffler ** 4. 7. Frau Schlei 4. 7. Dr. Schmitt-Vockenhausen 4. 7. Spilker 4. 7. Volmer 4. 7. Walkhoff 4. 7. Dr. Wulff 4. 7. Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Dr. Penner (SPD) nach § 59 GO zu Punkt 1 der Tagesordnung Ich stimme einer angestrebten Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord nicht zu. Ich bin der Meinung, daß sich das abgestufte System der Verjährungsfristen im Strafgesetzbuch, in das auch schwerste Straftaten wie Mord einbezogen sind, bei allen eingeräumten Unzulänglichkeiten bewährt hat. Die zeitliche Begrenzung der staatlichen Verfolgungspflicht für Straftaten beruht auch auf der Erkenntnis, daß die Möglichkeiten der Wahrheitsfindung im Strafprozeß um so brüchiger und fragwürdiger werden, je mehr Zeit zwischen Tat und Ahndung verstrichen ist. Ich halte es daher für richtig und auch geboten, wenn der Gesetzgeber diese Regelerfahrung gesetzlich absichert und damit den Strafverfolgungsorganen eine Pflicht abnimmt, der sie auch bei bestem Wollen und Können nicht gerecht werden können. Hinweise auf ausländische Rechtsordnungen und frühere deutsche und romanische Rechtsinstitute halte ich für bemerkenswert, aber für nur bedingt aussagekräftig, da bei einem Vergleich die gesamten Verfahrensordnungen mit allen Möglichkeiten und Hemmnissen besonders des Beweisrechts gegenüber gestellt werden müssen. Der Anlaß für die Initiative ist ebenso beklemmend wie säkulär. Es geht nicht einfach um eine Neufassung des Verjährungssystems, es geht um die Frage, ob besonders Mordtaten der NS-Zeit über gesetzliche Verjährungsvorschriften einer Strafverfolgung entzogen sein können oder nicht. Das Für und Wider ist in den bewegenden Debatten der 60er * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlagen zum Stenographischen Bericht Jahre und in den Diskussionen aus jüngster Zeit engagiert, behutsam und sorgfältig beleuchtet worden. Ich bin aber der Meinung, daß es statthaft sein darf, bei der Entscheidung auch berufsbedingte Erfahrungen miteinzubeziehen, die mehr die praktische Auswirkung der Gesetzesänderung betreffen. Ich neige mehr und mehr zu der Auffassung, daß der in den 60er Jahren beschrittene Weg der Ausdehnung der Verjährungsfristen nicht richtig gewesen ist. Dabei will ich nicht verschweigen, daß ich dies seinerzeit anders gesehen habe. Aber im Verlaufe einer beruflichen Tätigkeit, bei der ich mit der Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen zu tun hatte, sind mir zunehmend Zweifel gekommen. Und das, obwohl die nazistische Wirklichkeit mit Genozid, mit Vernichtungs- und Konzentrationslagern, mit Massen- und Einzelmorden durch Akten und Zeugenaussagen erdrückend bestätigt wurde. Aber im Strafprozeß geht es nicht allein um Tatgeschehen, sondern auch um persönliche Verantwortung, um Schuld. Der Nachweis individueller Schuld war schon früher aus vielerlei Gründen kaum oder gar nicht möglich. Das ist auch nach der Erweiterung der Verjährungsfrist auf 30 Jahre noch problematischer geworden. Nicht nur statistische Hinweise geben darüber Aufschluß. Selbst das deutsch-französische Rechtshilfeabkommen des Jahres 1971, das die Verfolgungssperren des Überleitungsvertrages für deutsche Behörden lockerte, hat die strafrechtliche Bewältigung der Judendeportationen aus Frankreich nicht unterstützen können, wie man hört. Ich bin der Meinung, daß unter den gegebenen Umständen die Beibehaltung des geltenden Verjährungsrechts verantwortet werden kann. Nach meiner Erfahrung dürfte die Entdeckung neuer Sachverhalte mit der Folge strafrechtlicher Verurteilung zwar nicht ausschließbar, aber nahezu ausgeschlossen sein. Aller Voraussicht nach wird ein berechtigtes Sühnebedürfnis nicht mehr gestillt werden können. Daher halte ich es aus meiner Sicht nicht für erträglich, Zeugen, die Schwerstes erlitten und durchlitten haben, den Lasten und Beschwernissen, ja den Qualen von Vernehmungen über die gegebenen Unumgänglichkeiten hinaus auszusetzen. Daß nach Eintritt der Verjährungsfrist unentdeckte NS-Mörder sich ihrer Untaten öffentlich rühmen könnten, ist eine theoretische Möglichkeit, hat aber mit der Verjährungsproblematik nichts zu tun. Für schon Abgeurteilte oder außer Verfolgung gesetzte NS-Täter sind eher Stichworte wie „Leugnen", „Verkleinern", „Es war eben Krieg" und in Einzelfällen auch Reue kennzeichnend. Eine Neigung zu öffentlicher Erörterung dieser Vergangenheit besteht bei diesem Tätertyp nach den bisherigen Erfahrungen hingegen kaum. Für die Zukunft muß eine stetig zunehmende Zahl von Fehlbeurteilungen der Strafverfolgungsorgane befürchtet werden. Das wird für die schon anhängigen Verfahren unumgänglich sein. Die Gründe lie- 13316* .Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 gen durchweg in der Beweisnot der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Die Aufhebung der Verjährungsfrist hätte zur Folge, daß zu allen neuen Vorgängen materielle Entscheidungen über Schuld oder Unschuld erforderlich würden. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß diese durchweg Einstellungsverfügungen und Freisprüche sein werden. Ich hielte das für bedrückend, weil mit diesen staatlichen Akten, deren Qualität nicht anders ausfallen kann und wird, Geschichtslegenden gebildet und unterstützt werden können. Aus meiner Sicht ist daher das aus dem geltenden Recht folgende Offenhalten der strafrechtlichen Schuldfrage nach Ablauf der Verjährungsfrist auch der politische richtige Weg. Ich weiß, daß diese Überlegungen nur einen Teil der Fragen und Bedrängungen ausmachen. Für mich sind sie entscheidend. Eine neue gesetzliche Regelung muß sich auch an ihren Möglichkeiten und Grenzen messen lassen. Dem Anspruch der Opfer, der Betroffenen auf sühnende Gerechtigkeit kann nicht über eine Ausweitung des Verjährungsrechts Genüge geschehen. Ich meine, daß dies auszusprechen auch zur parlamentarischen Verantwortlichkeit gehört. Ich wage es daher, nein zu sagen.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Johann Baptist Gradl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf, an dem auch Mitglieder der von mir vertretenen Gruppe aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in den Beratungen mitgearbeitet haben, entspricht unserem Verlangen in der Sache. Ich beschränke mich deshalb jetzt vor der Schlußabstimmung darauf, noch einmal in Kürze die Gedanken zusammenzufassen, die uns zu unserer Haltung bewogen haben, sozusagen die Moral unseres Standpunktes deutlich zu machen.
    Aber vorweg diese Bemerkung: Man hat uns, den Gegnern der Verjährung, entgegengehalten, lebenslange Strafverfolgung sei unbarmherzig. Aber ich frage: Ist denn der mörderische Raub menschlichen Lebens nicht das Allerhärteste, da er doch die Tat endgültig macht?

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Was aber die Unverjährbarkeit der Strafverfolgung angeht, so hat sie doch mit der Strafe selbst nichts zu tun, nichts mit dem Strafverfahren, nichts mit der Höhe der Strafe und ihrem schließlichen Vollzug. Der Mordverdächtige kommt vor ein unabhängiges, öffentlich verhandelndes Gericht. Ihm wird der totale Schutz des freiheitlichen Rechtsstaates gegeben. Er kann sich verteidigen; er bekommt einen Verteidiger. Die etwaige Strafe wird unter Bewertung der Persönlichkeit, des Gewichts der Tat, der Verstrikkung und des Schuldanteils differenziert. Das alles hat er als Schutz. Das Opfer hatte das alles nicht, als ihm das Leben genommen wurde

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    — von dem hilflosen, anonymen Untergang von Millionen NS-Opfern ganz zu schweigen.
    In den Gesamtkomplex Mord ist der Komplex NS-Mord einbezogen. Das ist gar nicht neu. Das war immer so, und das ist in Wahrheit unvermeidlich. Eine klare, eindeutige Lösung findet sich nur in der Alternative: Verjährung oder Nichtverjährung von Mord allgemein.
    So ist es doch ein Gebot der Vernunft, erneut das gesamte Problem zu betrachten. Natürlich tut man das mit den Erfahrungen und dem Wissen von heute, von 1978, 1979, der Zeit, in der wir das jetzt behandeln.

    (Josten [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

    Die Verjährung von Mord generell stellt sich heute
    eben ganz anders dar als zehn Jahre zuvor. Es kann
    doch niemand bestreiten, daß die Delikte krimineller
    Gewalt seither ungemein angestiegen sind und neue Antworten verlangen. Das ist der dem NS-Mord gleichgewichtige, neue Grund, Mord ganz allgemein unverjährbar zu stellen.
    Wir haben als Verjährungsgegner nie geleugnet, daß wir aus moralischen und politischen Gründen gegen Verjährung von NS-Mord sind. Wir brauchen keinen Tarnmantel. Aber die allgemeine Unverjährbarkeit ist zum Schutz unserer Gesellschaft heute und morgen notwendig.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Man braucht neben der Kriminalstatistik doch nur die Aktivitäten der verschiedenen Terrorgruppen in Rechnung zu stellen, die dem Verbrechen in unserer Gesellschaft eine neue Dimension gegeben haben. Daß wir jetzt eine Zeitlang von spektakulären Terrormorden und Terroranschlägen sowie Erpressungen verschont geblieben sind, darf doch niemanden täuschen. Es war z. B. der bayerische Innenminister, der kürzlich gewarnt hat, daß sich die Terrorszene wieder konsolidiere. Wir meinen, diese neue Herausforderung verlangt eine neu bedachte Antwort. Gegen diese neue kriminelle Herausforderung genügen nicht Traditionen und Systematiken aus einer anderen, aus einer vergangenen Zeit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

    Bei allem Beharren — ich erkenne das an, wahrscheinlich Sie alle, daß das sein muß —, mit dem sich das Recht gegen Willkür zu schützen sucht, ist immer auch die Beachtung der Wirklichkeit notwendig, in der Recht und Gerechtigkeit je zu vollziehen sind.
    Unsere Rechtsordnung — so meinen wir — vergibt sich nichts, wenn sie aus neuen Gegebenheiten, wie hier, neue Konsequenzen zieht. Überall in ebenso betroffenen Ländern denkt man darüber nach. Auch in unserer Bevölkerung tut man es. Zu stark ist doch bereits das Gefühl auch der persönlichen Unsicherheit in der Wohnung, beim Spaziergang, beim nächtlichen Heimgang, beim Besuch von Einkaufszentren und Geldinstituten. Die alten Menschen besonders, aber keineswegs nur sie, fragen, wie das weitergehen soll, was wir, die sie für die Abwehr verantwortlich halten, zu tun gedenken.
    Mörderische Gewalt ist eben nicht bloß NS-Mord der Vergangenheit. Sie ist Gegenwart. Sie ist nach Zahl und Art eine ungemein stärkere Herausforderung und Bedrohung des einzelnen und der Gesellschaft, als sie jemals früher denkbar war. Dagegen gibt es keine Patentrezepte. Moralisch-sittliches Mühen und soziale Gesundung sind im Grunde und auf Dauer die einzigen Hilfen. Sie brauchen lange Zeit. So muß man doch vorbeugend abzuschrecken suchen durch polizeilichen und sicherheitstechnischen Aufwand, durch jedermann einsichtige rechtliche Warnsignale. Ein solches ist die drohende Mahnung, daß Mordtat nie verjährt. Dies ist unsere Überzeugung.
    Um die Situation ganz zu kennzeichnen: Dieser Tage hat der Sohn des am 30. Juni 1934 von den



    Dr. Gradl
    Nationalsozialisten ermordeten einstigen Ministerialdirektors Klausner, der Prälat Erich Klausner, im Berliner „Petrusblatt" zur Frage der Verjährung persönlich Stellung genommen. Sein Votum:
    Ich bin gegen die Verjährung von Mord, meine freilich, es sei nicht gut, diese Regelung auf NS-Verbrechen einzugrenzen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der nihilistische Einflüsse spürbarer werden. Für Gut und Böse gibt es kaum noch einen Maßstab, es sei denn, den eigenen Vorteil.
    Da wird man nachdenklich. Ich mache mir diese Meinung zu eigen, möchte aber klarstellen, diese Meinung hat nichts mit Haß gegen die Mörder des Vaters zu tun. Die Mutter hat nach dem Kriege dem überführten Mörder ihres Mannes öffentlich vergeben — aber erst nach dem Prozeß! So sagte mir der Sohn betont in einem Gespräch.
    Nun das andere Kapitel: NS-Mord. Wir sind darüber einig, die maßlose Grausamkeit der Einzel- und Massenmorde an hilflos ausgelieferten Menschen gab diesen NS-Verbrechen eine abgrundtiefe Gemeinheit. Ich meine, die zeitlich ungehemmte gerichtliche Aufhellung tatsächlichen Geschehens und die etwaige Strafverfolgung dieser Verbrechen sind doch im Grunde das einzige, was den Millionen armseliger Todesopfer an nachträglicher Wiedergutmachung wenigstens moralisch noch erwiesen werden kann.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Aber lassen Sie mich bitte auch dies sagen: Manche Vorwürfe, die gegen die Bundesrepublik Deutschland und uns Politiker wegen der langen, intensiven Auseinandersetzung über die Verjährungsfrage und wegen des sorgsamen rechtsstaatlichen Verhaltens bei der Verfolgung von NS-Verbrechen gerichtet werden, kommen aus Ländern und Bereichen, in denen man auch heute noch nicht mit den menschlichen Grundrechten zurechtkommt. Wieviel Anlaß zu kritischer Selbstbetrachtung auch andere haben, ist vor einigen Tagen in der Fernsehsendung „Report" deutlich geworden in Zusammenhang mit der Vertreibung von Deutschen bei und nach Kriegsende. Jeder sollte also, statt Vorwürfe zu erheben, vor seiner eigenen Tür kehren.
    Und nun füge ich hinzu: Dies — das Kehren — tun wir Deutschen immerhin. Wir tun es jetzt schon mehr als drei Jahrzehnte lang. Mehr als drei Jahrzehnte lang haben wir die fortdauernde Konfrontation mit den NS-Verbrechen auf uns genommen, die Ermittlungen, die von unseren eigenen, in ihrer Sachlichkeit und Rechtlichkeit unbestreitbaren Institutionen und Gerichten vorgenommen worden sind.
    Warum sage ich das? Ich möchte in diesem Zusammenhang feststellen können, daß wir Deutschen damit gezeigt haben — bis auf den heutigen Tag —, daß wir uns der verbrecherischen Schuld der NS-Vergangenheit stellen, daß wir ihr nicht ausweichen und daß wir es für unser Volk ernst meinen mit der Abkehr von diktatorischen Methoden und von allgewaltigen Systemen und Regimen, welcher Art und welcher Farbe auch immer.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD, bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Der Aufbau der Bundesrepublik — nun ja, das haben wir im eigenen Interesse getan. Aber dies, sich diesem allen stellen, unentwegt, ist einer unserer entscheidenden Beiträge zu dem, was man Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit nennt. Wie gesagt, das haben wir jahrzehntelang getan.
    Nun kommt die aktuelle Frage: Soll dieser Prozeß der Bewältigung jetzt abgebrochen werden? Muß er nicht vielmehr — so meine ich, so meinen meine Freunde — einwandfrei und voll zu Ende geführt werden?

    (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen)

    Es geht Ihnen sicher so wie mir. Sie hören immer: endlich muß Schluß sein; man soll nicht immer wieder die alten Untaten hervorzerren. Wer verstünde das nicht? Empfinden wir das nicht selber? Aber der Schlüssel zum Schluß liegt doch gar nicht bei uns. Er liegt doch wegen der weltweiten Ausstrahlung der NS-Verbrechen bei denen, die in der Lage sind, bisher nicht entdeckte Fälle und Komplexe aufzudecken, oder die bereits gefundenes Material zurückhalten.
    Nun meinen wir, würde die Strafverfolgung neu entdeckter Fälle, auch des kleinsten Komplexes, abgeschnitten, dann bekäme dadurch jeder neue Fall eine sensationelle Bedeutung für die Betroffenen, und das wäre Stoff für neue antideutsche Agitation. Wer meint, es solle Schluß sein, dem sage ich: Die Verjährung brächte nicht Schluß, sondern immer neue, lärmende Anfänge.

    (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Aber lassen Sie mich zum Schluß noch folgenden Gedanken anfügen. Wichtiger als das, was ich soeben gesagt habe, ist: Gerade weil es so viele Vorbehalte gegen uns Deutsche gibt, darf man eben nicht zusätzlichen Stoff für neue, lärmende Vorwürfe bieten. Man darf nicht den Eindruck erwekken, man wolle jetzt die Last der Vergangenheit durch Fallenlassen des Vorhangs verdrängen. Unsere menschliche und nationale Interessenlage kann das überhaupt nicht gebrauchen.
    Wir dürfen doch nicht unterschätzen, welchen Einfluß gerade die Verjährungsfrage auf das internationale Urteil und die internationale Stimmungslage hat. Es ist nun einmal so: wir Deutschen sind mehr als andere auf Verständnis draußen politisch angewiesen. Wir wollen doch etwas unendlich Schwieriges erreichen. Wir wollen z. B. die freie Selbstbestimmung für alle Deutschen erreichen. Wir wissen doch, wie schwer das ist. Auch und gerade deshalb müssen wir uns um das Gegenteil von Vorbehalten und Abneigungen, um Verständnis und Unterstützung in der Welt, zumal in unserer europäischen Umwelt, mühen. Deshalb, so meinen wir, wäre Verjährung auch politisch nicht zu verantworten.



    Dr. Gradl
    Meine verehrten Kollegen, unsere Aufgabe als gewählte deutsche Abgeordnete — so darf ich jetzt schließen — ist es, von unserem Volk Schaden abzuwehren, Schaden in Gestalt der gemeinen, verbrecherischen Gewalt, die erschreckend und wachsend umgeht und Angst im Lande verbreitet,

    (Josten [CDU/CSU] : Sehr wahr!)

    Schaden aber auch aus den noch immer lebendigen Nachwirkungen jener Untaten von 1933 bis 1945, die in Europa Schrecken verbreitet und den Ruf unseres Volkes so schwer getroffen haben. In dieser umfassenden Verantwortung stehen wir alle.
    Wir, die wir die Verjährung von Mord aufheben wollen, sind davon überzeugt, daß damit unserem Volk ein notwendiger Dienst erwiesen, daß seinem Nutzen gedient wird. Geben Sie deshalb dem Gesetzentwurf gegen die Verjährung von Mord Ihre Zustimmung.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU — Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Abgeordnete Thüsing.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Klaus Thüsing


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Daß es mit der Nazi-Vergangenheit keinen Frieden geben kann, haben heute alle Redner hier betont. Was ich deshalb sagen und auch fragend anmerken möchte, hat nichts damit zu tun, als ginge es etwa darum, an der ehrlichen und subjektiv begründeten Entscheidung jedes einzelnen Abgeordneten zu zweifeln.
    Die Frage, die ich noch einmal stellen will, lautet, ob es mit Nazi-Mördern einen Rechtsfrieden im Sinne einer Verjährung geben kann. Sicherlich, man muß zwischen historischem Geschehen einerseits und strafprozessualer Nachweisbarkeit andererseits unterscheiden; die Kollegin Herta Däubler-Gmelin hat das heute morgen getan und darauf hingewiesen. Aber bei der Strafverfolgung von Nazi-Verbrechen ist eben auch die historische Perspektive unverzichtbar, die besagt, daß die Nazi-Verbrecher Staatsverbrechen begangen haben, also, wie Helmut Ridder zu Recht bemerkt hat — ich zitiere — „von Inhabern staatlicher Gewalt angeordnete, durchgeführte, überwachte und — nicht zuletzt — honorierte Verbrechen". Die Diskussion über die Mordverjährung würde eine wichtige Dimension ausklammern, wenn diese Unterschiede zu anderen Morden nicht genannt würden; diese Unterschiede sind heute genannt worden.
    Deshalb gehörte auch ich in meiner Fraktion zu denjenigen, die nur die Nazi-Morde nicht verjähren lassen wollten, nicht, weil ich den Grundsatz „Mord ist Mord", und das müssen wir auch gerade den Nazi-Mördern deutlich sagen, nicht anerkenne und ihm nicht zustimme, sondern weil die Verjährung von Mord eine Diskussion, die Diskussion über die Verjährung von Nazi-Morden eine andere ist. Bei der Verjährung von Nazi-Morden tut sich beispielsweise die bedrückende Perspektive auf, daß bei der Verfolgung von Nazi-Verbrechern die Tatsache weiterhin besteht, daß, wie ebenfalls Helmut Ridder festgestellt hat,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Und wie ist es mit dem Ayatollah?)

    „die Bestrafung leitenden und nutznießenden Verhaltens entfiel, vor dessen ungeheuerlicher Unmoral auch die Handlungen der in den KZs oder sonst vor Ort tätigen Killer, Büttel, Schergen und Sadisten verblassen, die den Normallohn für ihren Dienst allenfalls um kleine Extras verbessern konnten".
    Weiterhin ist die bedrückende Tatsache festzustellen — das will ich hinzufügen —: Beim Rückblick auf die Verfolgung von Nazi-Verbrechern fanden sich Schreibtischtäter bald wieder hinter Schreibtischen anstatt hinter Gittern.
    Aus einer Reihe von rechtlichen und auch praktisch-politischen Gründen hat es heute keine Mehrheit für eine differenzierende Lösung gegeben, auch wegen des sogenannten Lückenproblems.
    Wie haben wir heute zur entscheiden? Was ist wesentlich? Niemand in diesem Parlament kann, so glaube ich, bei seiner Entscheidung übersehen — das ist heute andeutungsweise auch gesagt worden —, was die Überlebenden der Konzentrationslager als Einzelpersonen oder durch ihre Verbände gesagt haben. Bis auf ganz wenige haben sich alle überlebenden Opfer eindeutig für die Aufhebung der Verjährung ausgesprochen, nicht etwa aus Rache an den Mördern — wiewohl diejenigen, die nicht betroffen waren, nach meiner Meinung darüber auch nicht zu richten haben —, sondern weil sie warnend ihre Stimme vor den politisch-moralischen Folgen der Verjährung erhoben haben und darin einen „Verrat" sehen am Erbe derjenigen, die nicht mehr sprechen können, weil ihre Münder durch Mord zum Schweigen gebracht wurden; der Kollege Gradl hat dazu gerade Beeindruckendes gesagt.
    Die Fragen und Befürchtungen der überlebenden Opfer müssen ernst genommen werden. Mit ihnen fragen viele in der Bundesrepublik und in vielen Ländern der Welt: Würde die Verjährung nicht als staatliche Legitimierung des Schlußstriches gesehen werden, den diejenigen wollen — damit meine ich keinen in diesem Parlament —, die nichts gelernt haben oder nicht lernen wollen, nach der Parole: „Einmal muß ein Ende sein"?
    Weiter will ich fragen: Kann man bei der heutigen Entscheidung darüber hinwegsehen, daß die Alt- und Neu-Nazis in ein Triumphgeheul ausbrechen würden, wenn die Verjährung für Nazi-Verbrechen eintreten würde, und daß sie die Entscheidung des Parlaments für Verjährung in eine parlamentarische Bestätigung dafür, daß es in dieser Gesellschaft wieder Platz für sie gibt, umfälschen würden?
    Welche politische Symbolwirkung, so frage ich, hätte es wohl, wenn sich nach dem 31. Dezember dieses Jahres unentdeckte Nazimörder — und solche leben noch immer mitten unter uns — ihrer Taten rühmen könnten, auch in den entsprechenden Medien, oder gar vom Staat Pensionen einforder-



    Thüsing
    ten, weil jemand beispielsweise Polizeirang bekleidete, während er in einem Einsatzkommando mordete?
    Der Herr Kollege Kleiner hat für diejenigen Kollegen in der FDP, die für Verjährung sind, gesprochen und dabei durch Beispiele belegt, wie fahrlässig blind wir gegenüber der Geschichte und der geschichtlichen Erfahrung des Nationalsozialismus sind — worin ich ihm zustimme —, und dann streng zwischen Strafrechtspflege und historischem Bewußtsein getrennt. Herr Kollege Kleinert, hat sich nicht aber auch die Strafrechtspflege den historischen und moralischen Ansprüchen der Vergangenheit und Gegenwart gerade bei dieser Frage mehr als bei anderen Fragen zu stellen? Es ist nicht nur so, daß eine Verjährung — ich wies schon darauf hin — bewußt und bei vielen wohl auch naiv als Signal mißverstanden werden könnte, als könne man die Vergangenheit vergessen und endlich zur sogenannten Tagesordnung übergehen oder der Vergangenheit völlig neue, nämlich positiv bewertende Kriterien unterschieben, sondern auch so — und das will ich ebenfalls betonen —, daß die Prozesse selbst einen notwendigen Beitrag zum historischen Erinnerungsvermögen des gesamten deutschen Volkes und der Welt leisten, was notwendig ist, wenn man Faschismus zukünftig verhindern will. Es mag bedrückend sein, Herr Kollege Kleinert, daß, wie Sie sagten, hinter den Türen von Schwurgerichtssälen Prozesse gegen Naziverbrecher stattfinden, während die meisten so tun, als wäre nichts gewesen und als fände hinter diesen Türen nichts statt.
    Die ersten Freisprüche im Majdanek-Prozeß mögen noch so bedrückend sein. Aber, so frage ich, wer hätte in den letzten Jahren ohne diesen Prozeß überhaupt von Majdanek geredet? Majdanek wäre vergessen, ein Aktenvorgang und das Vermächtnis der Ermordeten allenfalls in den Tränen der überlebenden Opfer und denen der Angehörigen der Opfer.
    Noch etwas war wichtig am Majdanek-Prozeß: Einer breiten Öffentlichkeit wurde erstmalig unübersehbar das Wirken rechtsradikaler Anwälte bewußt, die den schändlichen Versuch machten, die Opfer erneut zu Opfern zu machen und Mordverdächtige zu Heroen. Diese Anwälte, von denen inzwischen zwei ausgeschlossen werden konnten, standen nicht für sich allein, sondern waren auch Sprecher eines neuen Ungeistes, der die Zeit gekommen sieht, das Verdrängen und Vergessen des Nationalsozialismus durch Glorifizierung und Heroisierung abzulösen. Diese Anwälte konnten sich erlauben, einen Antrag auf Ablehnung eines Gutachters zu stellen, weil dieser, wie sie sagten, jüdischer Herkunft sei. Eine verantwortbare politische Entscheidung hat nicht nur rechtsphilosophische, rechtssystematische und rechtspolitische Erwägungen und Argumente einzubeziehen, sondern eben auch die Frage, welche Antwort mit dieser Entscheidung auf geschichtliche mörderische Ereignisse gegeben wird. Sie muß sich also auch der Frage stellen, in welcher geschichtlichen und gesellschaftlichen Gegenwart eine solche Entscheidung getroffen wird.
    Kann man eigentlich bei einer solchen Debatte und Entscheidung übersehen, daß die zweitgrößte deutsche Wochenzeitung, die „Deutsche NationalZeitung", Woche für Woche ungestraft die Opfer verhöhnen darf und in dieser Woche mit der Schlagzeile „4 Millionen KZ-Tote erfunden" erscheint? Kann man das Wirken der Alt- und Jungnazis übersehen, die es beispielsweise wieder wagen können, den jüdischen Dichter Edgar Hilsenrath an einer Lesung zu hindern, die Kundgebungen mit der Frage „Ewig büßen für Hitler?" und Auschwitz-Kongresse veranstalten, bei denen die „Auschwitz-Lüge" entlarvt werden soll? Es gibt auch anderswo vielfältige Anzeichen dafür, daß einigen die Zeit gekommen zu sein scheint, die nationalsozialistische Vergangenheit „objektiver" zu betrachten. Der Hitler-Film von Joachim Fest „Hitler, eine Karriere" ist nur ein, wenn auch besonders erschreckendes Beispiel dafür. Und selbst das Hitler-Bild, das Sebastian Haffner in seinem Buch „Anmerkungen zu Hitler" zeichnet, ist nicht frei davon, was mich persönlich sehr enttäuscht hat. Daß sich auch sogenannte „seriöse" Verlage schamlos am Druck von NS-Propaganda-material bereichern, das unter dem Deckmantel sogenannter „Dokumentationen" erscheint, sei nur am Rande vermerkt.

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU] : Kommen Sie zum Thema!)

    Insgesamt — so belegen viele Ereignisse — gibt es eine erschreckende Unsensibilität in der Öffentlichkeit und auch bei den Gerichten gegenüber den Opfern der nationalsozialistischen Mordmaschinerie und neonazistischen Provokationen. Einige fast beliebig ausgewählte Beispiele:

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU] : Kommen Sie doch zum Iran und Ihrer Reise dahin! Das wäre vielleicht auch sachdienlich! — Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)

    — Herr Kollege, diese Bemerkung möchte ich überhört haben. Sie beleidigen damit die Opfer.

    (Nordlohne [CDU/CSU] : Herr Thüsing hat es nötig, eine solche Bemerkung zu machen!)

    — Ein jüdischer Lehrer aus den USA gab seine Arbeit an einer West-Berliner Schule auf, nachdem er monatelang von Schülern mit antisemitischen Schikanen bedacht worden war.
    — Beispielhaft erscheint mir die neue Karriere des Stuka-Fliegers der „Großdeutschen Luftwaffe", Oberst Rudel. Alte und neue Nazis feiern ihn reihum als Helden, nicht nur, weil er ein ausgezeichneter Soldat war, sondern weil er „noch immer mit dem rechten Geist" auftrete.
    — In München wurden am 40. Jahrestag der Reichskristallnacht NS-Embleme in einer öffentlichen Auktion versteigert.
    — Der berühmt-berüchtigte Erwin Schönborn, gegen den nun endlich einmal ein Urteil ergangen ist, wurde in einem anderen Prozeß von der Anklage der Volksverhetzung freigesprochen. Er hatte Flugblätter mit der Behauptung verteilt, das Tagebuch der Anne Frank sei eine Fälschung, um die



    Thüsing
    Lüge von den sechs Millionen vergaster Juden zu stützen. Das Gericht befand, diese Äußerungen seien vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt und enthielten keinen Angriff auf die Menschenwürde.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Was hat das mit der Verjährung zu tun?)

    — Als Zeuge in einem Prozeß wurde der Führer der US-Nazis Gary Lauck vorgeladen. Er sollte bestätigen, daß die NS-Bewegung gewaltfrei sei. Er bekam freies Geleit in die Bundesrepublik.
    Einem Hamburger, der einen Juden in einem Brief mit „Judenschwein" anredete und ihn sonst ähnlich beschimpfte, wurde nicht die entsprechende Strafverfolgung zuteil, weil — wörtliches Zitat —
    „diese Bemerkungen zwar überaus häßlicher Natur" seien, „aber den Rechtsfrieden über ihren Lebenskreis hinaus nicht beeinträchtigen" . Man könnte diese Beispiele fortsetzen.

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU] : Lesen Sie ein Fernschreiben aus Moskau vor?)

    Eine Antwort verdient noch ein Argument: Die zunehmende Beweisnot der Gerichte und die auch dadurch bedingten Freisprüche würden — so die Behauptung — die Verfahren ad absurdum führen und gerade dadurch den Eindruck vermitteln, daß diejenigen, die meist als normale, gar geachtete Bürger unter uns leben und dann bezichtigt werden, Morde begangen zu haben, tatsächlich anständige Mitbürger seien.
    Meine Antwort darauf ist: Abgesehen davon, daß die Prozesse an sich für das öffentliche Bewußtsein wichtig sind — was ich argumentativ belegt habe —, kann ich mich nicht damit abfinden, daß die über Jahre hin durch Schuld deutscher und alliierter Stellen und Verantwortlichen nur schleppend betriebene Aufklärung und Verfolgung heute als Grund dafür angeführt werden kann, daß nach so langer Zeit Verjährung eintreten müsse. Studiert man die Geschichte der Verjährung der Nazi-Verbrechen, wäre — obwohl es natürlich auch eine Fülle korrekter Verfahren gegeben hat — eine Chronik der Skandale zu schreiben, sowohl was die Verfolgung als auch die Bestrafung oder meist Nichtbestrafung der Schuldigen angeht.