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ID0816607200

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    Plenarprotokoll 8/166 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 166. Sitzung Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 Inhalt: Abweichung von § 60 Abs. 2 GO bei der Beratung der Verjährungsvorlagen . . . 13233 A Eintritt des Abg. Besch in den Deutschen Bundestag für den ausgeschiedenen Abg Carstens (Fehmarn) 13290 A Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung . 13233 B Beratung des Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Hermann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen Unverjährbarkeit von Mord zu der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord zu dem von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurf eines Achtzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes — Drucksachen 8/2539, 8/2616, 8/2653 (neu), 8/3032 — in Verbindung mit Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Achtzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes — Drucksache 8/2653 (neu) — in Verbindung mit Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Her- II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 mann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen Unverjährbarkeit von Mord — Drucksache 8/2539 — in Verbindung mit Beratung der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord — Drucksache 8/2616 — Dr. Mertes (Gerolstein) CDU/CSU . . . . 13234 A Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD . . . . 13239 B Kleinert FDP 13243 C Hartmann CDU/CSU 13247 C Dr. Vogel (München) SPD . . . . . . 13252 A Gattermann FDP . . . . . . . . . 13254 C Gerster (Mainz) CDU/CSU . . . . . . 13257 B Dr. Dr. h. c. Maihofer FDP . . . 13260 A, 13292 A Dr. Emmerlich SPD . . . . . . . 13265 B Helmrich CDU/CSU 13268 A Sieglerschmidt SPD 13269 C Frau Matthäus-Maier FDP . . . . . . 13272 B Dr. Lenz (Bergstraße) CDU/CSU 13274 D Dr. Weber (Köln) SPD 13277 D Ey CDU/CSU 13281 C Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 13282 B Blumenfeld CDU/CSU 13285 C Cronenberg FDP 13287 B Dr. Bötsch CDU/CSU . . . . . . . . . 13288 A Erhard (Bad Schwalbach) CDU/CSU . . . 13294 B Dürr SPD 13296 C Engelhard FDP 13298 D Dr. Gradl CDU/CSU 13301 A Thüsing SPD 13303 A Dr. Wendig FDP 13305 D Namentliche Abstimmungen . . 13290 A, 13292 B, 13308 A, 13311 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Sechsten Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes — Drucksache 8/3027 — Pfeifer CDU/CSU . . . . . . . . . . 13308 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Gesetz zur Neufassung des Umsatzsteuergesetzes und zur Änderung anderer Gesetze — Drucksache 8/3028 Westphal SPD 13309 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Gesetz zur Änderung des Gesetzes über technische Arbeitsmittel und der Gewerbeordnung — Drucksache 8/3029 — Jahn (Marburg) SPD 13313 B Nächste Sitzung 13313 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 13315* A Anlage 2 Erklärung des Abg. Dr. Penner (SPD) nach § 59 GO zu Punkt 1 der Tagesordnung . . 13315*A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 13233 166. Sitzung Bonn, den 3. Juli 1979 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich Dr. Arnold 4. 7. Bayha 4. 7. Dr. Böhme (Freiburg) 4. 7. Büchner (Speyer) * 4. 7. Dr. Dübber 3. 7. Dr. h. c. Kiesinger 4. 7. Koblitz 4. 7. Dr. Müller ** 4. 7. Picard 4. 7. Scheffler ** 4. 7. Frau Schlei 4. 7. Dr. Schmitt-Vockenhausen 4. 7. Spilker 4. 7. Volmer 4. 7. Walkhoff 4. 7. Dr. Wulff 4. 7. Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Dr. Penner (SPD) nach § 59 GO zu Punkt 1 der Tagesordnung Ich stimme einer angestrebten Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord nicht zu. Ich bin der Meinung, daß sich das abgestufte System der Verjährungsfristen im Strafgesetzbuch, in das auch schwerste Straftaten wie Mord einbezogen sind, bei allen eingeräumten Unzulänglichkeiten bewährt hat. Die zeitliche Begrenzung der staatlichen Verfolgungspflicht für Straftaten beruht auch auf der Erkenntnis, daß die Möglichkeiten der Wahrheitsfindung im Strafprozeß um so brüchiger und fragwürdiger werden, je mehr Zeit zwischen Tat und Ahndung verstrichen ist. Ich halte es daher für richtig und auch geboten, wenn der Gesetzgeber diese Regelerfahrung gesetzlich absichert und damit den Strafverfolgungsorganen eine Pflicht abnimmt, der sie auch bei bestem Wollen und Können nicht gerecht werden können. Hinweise auf ausländische Rechtsordnungen und frühere deutsche und romanische Rechtsinstitute halte ich für bemerkenswert, aber für nur bedingt aussagekräftig, da bei einem Vergleich die gesamten Verfahrensordnungen mit allen Möglichkeiten und Hemmnissen besonders des Beweisrechts gegenüber gestellt werden müssen. Der Anlaß für die Initiative ist ebenso beklemmend wie säkulär. Es geht nicht einfach um eine Neufassung des Verjährungssystems, es geht um die Frage, ob besonders Mordtaten der NS-Zeit über gesetzliche Verjährungsvorschriften einer Strafverfolgung entzogen sein können oder nicht. Das Für und Wider ist in den bewegenden Debatten der 60er * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlagen zum Stenographischen Bericht Jahre und in den Diskussionen aus jüngster Zeit engagiert, behutsam und sorgfältig beleuchtet worden. Ich bin aber der Meinung, daß es statthaft sein darf, bei der Entscheidung auch berufsbedingte Erfahrungen miteinzubeziehen, die mehr die praktische Auswirkung der Gesetzesänderung betreffen. Ich neige mehr und mehr zu der Auffassung, daß der in den 60er Jahren beschrittene Weg der Ausdehnung der Verjährungsfristen nicht richtig gewesen ist. Dabei will ich nicht verschweigen, daß ich dies seinerzeit anders gesehen habe. Aber im Verlaufe einer beruflichen Tätigkeit, bei der ich mit der Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen zu tun hatte, sind mir zunehmend Zweifel gekommen. Und das, obwohl die nazistische Wirklichkeit mit Genozid, mit Vernichtungs- und Konzentrationslagern, mit Massen- und Einzelmorden durch Akten und Zeugenaussagen erdrückend bestätigt wurde. Aber im Strafprozeß geht es nicht allein um Tatgeschehen, sondern auch um persönliche Verantwortung, um Schuld. Der Nachweis individueller Schuld war schon früher aus vielerlei Gründen kaum oder gar nicht möglich. Das ist auch nach der Erweiterung der Verjährungsfrist auf 30 Jahre noch problematischer geworden. Nicht nur statistische Hinweise geben darüber Aufschluß. Selbst das deutsch-französische Rechtshilfeabkommen des Jahres 1971, das die Verfolgungssperren des Überleitungsvertrages für deutsche Behörden lockerte, hat die strafrechtliche Bewältigung der Judendeportationen aus Frankreich nicht unterstützen können, wie man hört. Ich bin der Meinung, daß unter den gegebenen Umständen die Beibehaltung des geltenden Verjährungsrechts verantwortet werden kann. Nach meiner Erfahrung dürfte die Entdeckung neuer Sachverhalte mit der Folge strafrechtlicher Verurteilung zwar nicht ausschließbar, aber nahezu ausgeschlossen sein. Aller Voraussicht nach wird ein berechtigtes Sühnebedürfnis nicht mehr gestillt werden können. Daher halte ich es aus meiner Sicht nicht für erträglich, Zeugen, die Schwerstes erlitten und durchlitten haben, den Lasten und Beschwernissen, ja den Qualen von Vernehmungen über die gegebenen Unumgänglichkeiten hinaus auszusetzen. Daß nach Eintritt der Verjährungsfrist unentdeckte NS-Mörder sich ihrer Untaten öffentlich rühmen könnten, ist eine theoretische Möglichkeit, hat aber mit der Verjährungsproblematik nichts zu tun. Für schon Abgeurteilte oder außer Verfolgung gesetzte NS-Täter sind eher Stichworte wie „Leugnen", „Verkleinern", „Es war eben Krieg" und in Einzelfällen auch Reue kennzeichnend. Eine Neigung zu öffentlicher Erörterung dieser Vergangenheit besteht bei diesem Tätertyp nach den bisherigen Erfahrungen hingegen kaum. Für die Zukunft muß eine stetig zunehmende Zahl von Fehlbeurteilungen der Strafverfolgungsorgane befürchtet werden. Das wird für die schon anhängigen Verfahren unumgänglich sein. Die Gründe lie- 13316* .Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 gen durchweg in der Beweisnot der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Die Aufhebung der Verjährungsfrist hätte zur Folge, daß zu allen neuen Vorgängen materielle Entscheidungen über Schuld oder Unschuld erforderlich würden. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß diese durchweg Einstellungsverfügungen und Freisprüche sein werden. Ich hielte das für bedrückend, weil mit diesen staatlichen Akten, deren Qualität nicht anders ausfallen kann und wird, Geschichtslegenden gebildet und unterstützt werden können. Aus meiner Sicht ist daher das aus dem geltenden Recht folgende Offenhalten der strafrechtlichen Schuldfrage nach Ablauf der Verjährungsfrist auch der politische richtige Weg. Ich weiß, daß diese Überlegungen nur einen Teil der Fragen und Bedrängungen ausmachen. Für mich sind sie entscheidend. Eine neue gesetzliche Regelung muß sich auch an ihren Möglichkeiten und Grenzen messen lassen. Dem Anspruch der Opfer, der Betroffenen auf sühnende Gerechtigkeit kann nicht über eine Ausweitung des Verjährungsrechts Genüge geschehen. Ich meine, daß dies auszusprechen auch zur parlamentarischen Verantwortlichkeit gehört. Ich wage es daher, nein zu sagen.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Hans A. Engelhard


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sprechen wir zunächst noch einmal von den Grundsätzen und den Verfahrensregeln und dem Stil, die unsere Debatte und heutige Entscheidung bestimmen und prägen sollen.
    Wir sind am 29. März dieses Jahres mit dem festen Vorsatz in die Beratungen gegangen, daß diese Entscheidung von jedem einzelnen einzig und allein nach seiner höchstpersönlichen Überzeugung getroffen werden muß. Hier kann und darf es keine Fraktionsmeinung und keine Regierungsmeinung geben, und hier stehen sich nicht Auffassungen der Koalition einerseits und der Opposition andererseits gegenüber. Der Rechtsausschuß hat stellvertretend für das ganze Parlament diesen Vorsatz nochmals bekräftigt. Er hat sich einstimmig meinen Antrag zu eigen gemacht, im vorliegenden ganz besonderen Falle von einer Beschlußempfehlung an das Plenum Abstand zu nehmen. Und jetzt, vor der Endentscheidung, liegt es bei jedem einzelnen von uns, nach seiner ureigensten Überzeugung und nach nichts sonst bei der dritten Lesung seine Entscheidung zu treffen.
    Stillschweigend und ebenso gewichtig war unsere weitere Übereinkunft, die Beratungen mit Anstand — bei allem Engagement in der Sache — zu führen. Ich denke, daß wir uns bis jetzt alles in allem redlich darum bemüht haben. Die Achtung vor der Person des Andersdenken entbindet uns aber nicht



    Engelhard
    vom Recht und auch der Pflicht zur Auseinandersetzung. Niemand darf des anderen redliche Überzeugung in Zweifel ziehen und damit beschädigen. Aber die jenseits der Gewissensentscheidung des „Hier stehe ich, ich kann nicht anders" liegenden Gründe und Argumente für diese Überzeugung müssen um der Klarheit der Entscheidungsempfindung und um der Wahrheit der Entscheidung willen offen und fair, aber auch ohne jede falsche Zurückhaltung diskutiert und ausgesprochen werden. Deshalb sage ich: Die Debatte um die Verjährung von NS-Morden ist durch den Vorschlag, die Unverjährbarkeit von Mord ganz allgemein einzuführen, überlagert worden und zur rechtspolitischen Belastungsprobe geworden.
    Ich akzeptiere, daß einige Kollegen dieser Idee der Unverjährbarkeit schlechthin schon immer, schon seit Jahren angehangen haben. Aber man braucht generell wohl kein Hellseher in die Vergangenheit hinein zu sein, um zu sagen: Hätte etwa ein Mitglied diese Hauses vor einigen Jahren weitab von der Entscheidung dieser Stunde und ohne jede Bezugnahme darauf die Unverjährbarkeit des gemeinen Mordes gefordert, allgemeines Kopfschütteln, Ablehnung und kritische Kommentare wären seinem Vorschlag weit und breit sicher gewesen.
    Ernster erscheint mir aber dies: In unserer Rechtspolitik sind wir ansonsten ja so stolz darauf, gesetzgeberische Schritte vom Ergebnis der Rechtstatsachenforschung abhängig zu machen. Oft ist diese Forschung noch sehr unzulänglich, oft ist sie überhaupt noch nicht zu Ergebnissen gekommen. Hier aber bei der Verjährung von Mord haben wir nicht nur eine lange Rechtstradition, sondern da liegen die Tatsachen ganz schlicht auf der Hand. Weder im Kaiserreich noch in der Weimarer Republik, noch in der Bundesrepublik bis 1965 bestand jemals auch nur das Bedürfnis, am geltenden Recht etwas zu ändern. Und so kann es niemand verwundern, wenn etwa der niederländische Strafrechtler Professor Röter — zitiert aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 23. Mai 1979 — meint:
    Das manchmal etwas Gespenstische an der zur Zeit stattfindenden Diskussion ist, daß die Aufhebung der Verjährung für Mord und für eine weitere und vor allem gerechte Ahndung von NS-Verbrechen belanglos ist, dafür aber den wesentlichen Nachteil bringt, daß die Unverjährbarkeit des Mordes als ein Fremdkörper in das deutsche Strafrecht eingeführt wird.

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP)

    Bei der ersten Lesung habe ich angedeutet, daß die Befürworter der Unverjährbarkeit von Mord etwa sagen könnten: Unser Anliegen ist die Unverjährbarkeit von NS-Morden; die Unverjährbarkeit auch des gemeinen Mordes nehmen wir nur bewußt in Kauf, weil wir anders unser Ziel nicht glauben erreichen zu können.
    Aber spätestens bei den Ausschußberatungen ist etwas ganz anderes deutlich geworden. Wir lesen jetzt im Ausschußbericht, angesichts des Umfangs der NS-Verbrechen komme zwar der Verjährungsproblematik im Jahre 1979 gesteigerte Bedeutung zu,
    aber dennoch dürfe die Entscheidung nicht nur im Blick auf die Morde aus der Zeit vor dem 8. Mai 1945 getroffen werden; ja, die Aufhebung der' Verfolgungsverjährung bei Mord schlechthin wird im Ausschußbericht sogar als konsequenter Schlußpunkt einer kontinuierlichen Entwicklung unserer Gesetzgebung dargestellt. Welche Verkennung, so sage ich, der zeitlichen und der inhaltlichen Relationen bei der Bewertung der rechtspolitischen Entscheidungen des Deutschen Bundestages in den Jahren 1953, 1960, 1965 und schließlich auch 1969 und inhaltlich nicht einmal gegenläufiger Beschlüsse der letzten zehn Jahre!
    In kaum zu überbietender Schärfe und Deutlichkeit hat deshalb Professor Röter — dessen subjektiven Teil seiner Wertung ich mir nicht zu eigen machen will — erklärt:
    Die Ausdehnung
    — gemeint ist: der Verjährungsaufhebung —
    auf den gemeinen Mord ist jedoch durch nichts zu rechtfertigen. Bei seiner Verjährung geht es um eine zur deutschen Rechtskultur gehörende bewährte Rechtsinstitution, die völlig nutzlos der Tagespolitik geopfert würde. Wer so, ohne Not, die Rechtskontinuität aufgibt, mißachtet das Recht als gewachsenes Kulturprodukt.
    Für die Mehrzahl meiner politischen Freunde und mich ist daher die wirkliche, von der Sache her begründete Gegenposition zur Beibehaltung des geltenden Rechts der Vorschlag unseres Kollegen Professor Maihofer. Dieser Vorschlag beschränkt sich auf die Regelung dessen, was uns überhaupt zu diesen Beratungen zusammengeführt hat: die anstehende Verjährung von NS-Morden zum Jahresende, soweit nicht eine Unterbrechung eingetreten ist.
    Jetzt, da der Maihofer-Vorschlag bei der Abstimmung in zweiter Lesung keine Mehrheit gefunden hat, werden seine Befürworter — und ich sage dies, Herr Kollege Professor Maihofer, ungeachtet der Erklärung, die Sie vorher, auch für eine Reihe von Kollegen, abgegeben haben — genau zu prüfen haben, ob die Unverjährbarkeit von Mord schlechthin ihr Anliegen mit abdeckt, so daß der Unverjährbarkeit auch des gemeinen Mordes zugestimmt werden kann, oder ob ihnen auf der Suche nach einer sachgerechten Lösung mit ihrer Zustimmung zur Unverjährbarkeit schlechthin nicht doch ein viel zu hoher Preis abverlangt wird, ein Preis, den wir erst in einer späteren, allerdings nicht mehr zu fernen Zeit zu bezahlen haben werden.

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

    Die Mehrzahl meiner Fraktionskollegen und auch ich treten für die Beibehaltung des geltenden Rechts ein.

    (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

    Die Gründe hierfür mögen bei dem einzelnen unterschiedlich gewichtet sein. Für mich haben die langen und eingehenden Beratungen des Rechtsausschusses eine Bestärkung meines in der ersten Lesung eingenommenen Standpunktes gebracht.



    Engelhard
    So hat etwa Professor Böckenförde für seine Darlegungen vor dem Rechtsausschuß spontanen Beifall von allen Seiten erhalten. Das ist eine im Rechtsausschuß sonst ungewöhnliche Anerkennung. Er hat vom verfassungsrechtlichen Unbehagen bei allen Versuchen gesprochen, das geltende Recht entgegen vielfacher gegenteiliger Vorentscheidungen zu ändern. Hätte Professor Böckenförde sein Gutachten in ein abschließendes Votum einmünden lassen, so hätte dieses Votum nur lauten können: für Beibehaltung des geltenden Rechts oder allenfalls eine möglichst eingeschränkte Unverjährbarkeit, entsprechend dem Vorschlag von Professor Maihofer.
    Immer wieder wurde bei den Ausschußberatungen deutlich, daß sich das Ziel materieller Gerechtigkeit auf Dauer niemals in der Abstraktion — darauf habe ich bereits in der ersten Lesung hingewiesen —, auch nicht in der Abstraktion des guten Willens, verwirklichen kann. Wenn es vom 1. Januar 1970 bis Ende 1978 lediglich bei drei der neu entdeckten Fälle zur Verurteilung gekommen ist und das Durchschnittsalter aller Angeklagten heute bereits bei 67 Jahren liegt, so läßt sich — das ist sicherlich nicht unzulässig — unschwer absehen, welchen Weg die Strafverfolgung bei einer Aufhebung der Verjährung nehmen wird.
    Ich zitiere wiederum Professor Rüter, weil sich hier eine ausländische Stimme gemeldet hat, ein Strafrechtler und gerade im Bereich der NS-Verbrechen ein Experte von besonderen Graden, der uns Argumente ins rechtspolitische Stammbuch geschrieben hat, denen sich niemand wird so einfach entziehen können. Professor Rüter ist zuzustimmen, wenn er meint: „Eine Aufhebung der Verjährung kann diese Umstände nicht aus der Welt schaffen; denn materiell hat diese Verjährung schon längst begonnen."
    Nun hat Herr Kollege Dürr noch einmal dargestellt, daß es darauf gar nicht ankomme, weil wir das Institut der Verjährungsunterbrechung haben, nach deren Vornahme die Zeit wieder von vorn zu laufen beginnt. Dieses Argument halte ich im Rahmen dieser Debatte so generell keineswegs für stichhaltig und richtig; denn wir haben uns von Oberstaatsanwalt Rückerl genau darüber unterrichten lassen, wie zur Abwendung drohender Verjährung bei NS-Verfahren die Verjährung unterbrochen wurde. Sicherlich völlig richtig ist man daran gegangen, sich der aufgefundenen schriftlichen Materialien zu bedienen, der Mannschaftslisten von Einsatzkommandos etwa, und oft überhaupt nicht wissend, ob der einzelne noch lebt und wo er sich aufhält, hat man die Verjährung unterbrochen. Das ist richtig, um die Verjährung hier nicht eintreten zu lassen. Aber wie ist es bei der allgemeinen Kriminalität, insbesondere der des Mordes?
    Ich will ein Beispiel dafür nennen. Niemals ist es meines Wissens in der deutschen Rechtsgeschichte passiert, daß etwa auf einer kleinen Insel im Meer in der Zeit, wo ein heftiger Sturm herrschte, der die Landung jedes Schiffes ausschloß, so daß feststand, daß nur die dort Lebenden zum Zeitpunkt der Tat auf der Insel anwesend waren, daß auf dieser Insel ein Mensch ermordet wurde, die Tat nicht aufgeklärt werden konnte und daß man zur Abwendung der Verjährung alle, die ihrem Alter nach überhaupt zu einer solchen Tat imstande gewesen wären, als Beschuldigte geführt hätte, um die Verjährung zu unterbrechen. Wir sehen an diesem Beispiel sehr deutlich, daß man auch in dieser Debatte sehr wohl die Unterschiede zwischen der Verfolgung von NS-Verbrechen und der Verfolgung von Verbrechen der allgemeinen Kriminalität sehen muß.
    Ich habe schon bei der ersten Lesung zu bedenken gegeben, daß wir in der Gerichtspraxis heute an einem Punkt angelangt sind, an dem zunehmend der Freispruch zwingend zum Symbol der NS-Verfahren wird. Wer da meint, sich mit seiner wohlgemeinten Bereitschaft zur Ahndung von Verbrechen bis zum Tode des Täters den vorgegebenen Tatsachen entziehen zu können, wird, so meine ich, letztlich auch vor den Augen der überlebenden Opfer und ihrer Angehörigen kaum bestehen können. Denn wir erleben es ja zunehmend und bedrückend, etwa im Majdanek-Verfahren, daß — aus der Situation und überhäuft von der Fülle des Leids — die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung nur die Ergebnisse sehen und sich der Freispruch für sie nicht als das Produkt eines rechtsstaatlich geführten Verfahrens, sondern eines Nicht-Verurteilen-Wollens auf seiten eines deutschen Gerichts darstellt.
    Ich zitiere zum Schluß noch einmal Professor Rüter. Denn in seinen Worten sind die Grundsätze und Erwägungen in etwa gebündelt zusammengefaßt, die für die Mehrheit meiner politischen Freunde und für mich am heutigen Tage Entscheidungsgrundlage sind. Professor Rüter schreibt:
    Die drohende Verjährung von NS-Verbrechen stellt die deutsche Öffentlichkeit vor eine Frage, die von ihr mit Recht nicht einseitig als politische Frage verstanden wird. Beim Ringen um die richtige Lösung ist auch die Befragung des eigenen Gewissens von entscheidender Bedeutung. Bei allem sollte aber nicht vergessen werden, daß hier auch Einsicht in die unvermeidlichen Grenzen staatlichen Strafens erforderlich ist. Denn eine Vorentscheidung ist bereits vor vielen Jahren gefallen: die Bundesrepublik Deutschland unternimmt — gerade weil sie sich als Rechtsstaat versteht — seit nunmehr über 30 Jahren den Versuch, auf ungeheuerliche Massenverbrechen des vorangegangenen Regimes nicht entweder durch blutige Rache oder durch eine allgemeine Amnestie, sondern mit den Mitteln einer die Rechtsstaatlichkeit anstrebenden Strafrechtspflege zu reagieren. Wer diese Wahl einmal getroffen hat, der verzichtet notwendigerweise auf eine lükkenlose Vergeltung. Das ist der Preis, der verlangt und um der Rechtsstaatlichkeit willen auch gezahlt werden muß. Zu diesem Preis kann auch die Verjährung über 34 Jahre alter Straftaten gehören.
    Ich schließe mit dem Satz, daß ich bezweifle, daß wir mit einer Regelung — so engagiert sie immer sein mag — des guten Willens, der die Tat nicht folgen kann und die sich in Vorsätzen und Prinzipien erschöpfen muß, vor den Opfern, vor uns selbst
    Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag. den 3. Juli 1979 13301
    Engelhard
    und vor unserer Rechtsordnung besser werden bestehen können. Dies — darum bitte ich herzlich — möge ein jeder hier im Raum bei seiner Schlußentscheidung noch einmal gewissenhaft bedenken.

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Gradl.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Johann Baptist Gradl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf, an dem auch Mitglieder der von mir vertretenen Gruppe aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in den Beratungen mitgearbeitet haben, entspricht unserem Verlangen in der Sache. Ich beschränke mich deshalb jetzt vor der Schlußabstimmung darauf, noch einmal in Kürze die Gedanken zusammenzufassen, die uns zu unserer Haltung bewogen haben, sozusagen die Moral unseres Standpunktes deutlich zu machen.
    Aber vorweg diese Bemerkung: Man hat uns, den Gegnern der Verjährung, entgegengehalten, lebenslange Strafverfolgung sei unbarmherzig. Aber ich frage: Ist denn der mörderische Raub menschlichen Lebens nicht das Allerhärteste, da er doch die Tat endgültig macht?

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Was aber die Unverjährbarkeit der Strafverfolgung angeht, so hat sie doch mit der Strafe selbst nichts zu tun, nichts mit dem Strafverfahren, nichts mit der Höhe der Strafe und ihrem schließlichen Vollzug. Der Mordverdächtige kommt vor ein unabhängiges, öffentlich verhandelndes Gericht. Ihm wird der totale Schutz des freiheitlichen Rechtsstaates gegeben. Er kann sich verteidigen; er bekommt einen Verteidiger. Die etwaige Strafe wird unter Bewertung der Persönlichkeit, des Gewichts der Tat, der Verstrikkung und des Schuldanteils differenziert. Das alles hat er als Schutz. Das Opfer hatte das alles nicht, als ihm das Leben genommen wurde

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    — von dem hilflosen, anonymen Untergang von Millionen NS-Opfern ganz zu schweigen.
    In den Gesamtkomplex Mord ist der Komplex NS-Mord einbezogen. Das ist gar nicht neu. Das war immer so, und das ist in Wahrheit unvermeidlich. Eine klare, eindeutige Lösung findet sich nur in der Alternative: Verjährung oder Nichtverjährung von Mord allgemein.
    So ist es doch ein Gebot der Vernunft, erneut das gesamte Problem zu betrachten. Natürlich tut man das mit den Erfahrungen und dem Wissen von heute, von 1978, 1979, der Zeit, in der wir das jetzt behandeln.

    (Josten [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

    Die Verjährung von Mord generell stellt sich heute
    eben ganz anders dar als zehn Jahre zuvor. Es kann
    doch niemand bestreiten, daß die Delikte krimineller
    Gewalt seither ungemein angestiegen sind und neue Antworten verlangen. Das ist der dem NS-Mord gleichgewichtige, neue Grund, Mord ganz allgemein unverjährbar zu stellen.
    Wir haben als Verjährungsgegner nie geleugnet, daß wir aus moralischen und politischen Gründen gegen Verjährung von NS-Mord sind. Wir brauchen keinen Tarnmantel. Aber die allgemeine Unverjährbarkeit ist zum Schutz unserer Gesellschaft heute und morgen notwendig.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Man braucht neben der Kriminalstatistik doch nur die Aktivitäten der verschiedenen Terrorgruppen in Rechnung zu stellen, die dem Verbrechen in unserer Gesellschaft eine neue Dimension gegeben haben. Daß wir jetzt eine Zeitlang von spektakulären Terrormorden und Terroranschlägen sowie Erpressungen verschont geblieben sind, darf doch niemanden täuschen. Es war z. B. der bayerische Innenminister, der kürzlich gewarnt hat, daß sich die Terrorszene wieder konsolidiere. Wir meinen, diese neue Herausforderung verlangt eine neu bedachte Antwort. Gegen diese neue kriminelle Herausforderung genügen nicht Traditionen und Systematiken aus einer anderen, aus einer vergangenen Zeit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

    Bei allem Beharren — ich erkenne das an, wahrscheinlich Sie alle, daß das sein muß —, mit dem sich das Recht gegen Willkür zu schützen sucht, ist immer auch die Beachtung der Wirklichkeit notwendig, in der Recht und Gerechtigkeit je zu vollziehen sind.
    Unsere Rechtsordnung — so meinen wir — vergibt sich nichts, wenn sie aus neuen Gegebenheiten, wie hier, neue Konsequenzen zieht. Überall in ebenso betroffenen Ländern denkt man darüber nach. Auch in unserer Bevölkerung tut man es. Zu stark ist doch bereits das Gefühl auch der persönlichen Unsicherheit in der Wohnung, beim Spaziergang, beim nächtlichen Heimgang, beim Besuch von Einkaufszentren und Geldinstituten. Die alten Menschen besonders, aber keineswegs nur sie, fragen, wie das weitergehen soll, was wir, die sie für die Abwehr verantwortlich halten, zu tun gedenken.
    Mörderische Gewalt ist eben nicht bloß NS-Mord der Vergangenheit. Sie ist Gegenwart. Sie ist nach Zahl und Art eine ungemein stärkere Herausforderung und Bedrohung des einzelnen und der Gesellschaft, als sie jemals früher denkbar war. Dagegen gibt es keine Patentrezepte. Moralisch-sittliches Mühen und soziale Gesundung sind im Grunde und auf Dauer die einzigen Hilfen. Sie brauchen lange Zeit. So muß man doch vorbeugend abzuschrecken suchen durch polizeilichen und sicherheitstechnischen Aufwand, durch jedermann einsichtige rechtliche Warnsignale. Ein solches ist die drohende Mahnung, daß Mordtat nie verjährt. Dies ist unsere Überzeugung.
    Um die Situation ganz zu kennzeichnen: Dieser Tage hat der Sohn des am 30. Juni 1934 von den



    Dr. Gradl
    Nationalsozialisten ermordeten einstigen Ministerialdirektors Klausner, der Prälat Erich Klausner, im Berliner „Petrusblatt" zur Frage der Verjährung persönlich Stellung genommen. Sein Votum:
    Ich bin gegen die Verjährung von Mord, meine freilich, es sei nicht gut, diese Regelung auf NS-Verbrechen einzugrenzen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der nihilistische Einflüsse spürbarer werden. Für Gut und Böse gibt es kaum noch einen Maßstab, es sei denn, den eigenen Vorteil.
    Da wird man nachdenklich. Ich mache mir diese Meinung zu eigen, möchte aber klarstellen, diese Meinung hat nichts mit Haß gegen die Mörder des Vaters zu tun. Die Mutter hat nach dem Kriege dem überführten Mörder ihres Mannes öffentlich vergeben — aber erst nach dem Prozeß! So sagte mir der Sohn betont in einem Gespräch.
    Nun das andere Kapitel: NS-Mord. Wir sind darüber einig, die maßlose Grausamkeit der Einzel- und Massenmorde an hilflos ausgelieferten Menschen gab diesen NS-Verbrechen eine abgrundtiefe Gemeinheit. Ich meine, die zeitlich ungehemmte gerichtliche Aufhellung tatsächlichen Geschehens und die etwaige Strafverfolgung dieser Verbrechen sind doch im Grunde das einzige, was den Millionen armseliger Todesopfer an nachträglicher Wiedergutmachung wenigstens moralisch noch erwiesen werden kann.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Aber lassen Sie mich bitte auch dies sagen: Manche Vorwürfe, die gegen die Bundesrepublik Deutschland und uns Politiker wegen der langen, intensiven Auseinandersetzung über die Verjährungsfrage und wegen des sorgsamen rechtsstaatlichen Verhaltens bei der Verfolgung von NS-Verbrechen gerichtet werden, kommen aus Ländern und Bereichen, in denen man auch heute noch nicht mit den menschlichen Grundrechten zurechtkommt. Wieviel Anlaß zu kritischer Selbstbetrachtung auch andere haben, ist vor einigen Tagen in der Fernsehsendung „Report" deutlich geworden in Zusammenhang mit der Vertreibung von Deutschen bei und nach Kriegsende. Jeder sollte also, statt Vorwürfe zu erheben, vor seiner eigenen Tür kehren.
    Und nun füge ich hinzu: Dies — das Kehren — tun wir Deutschen immerhin. Wir tun es jetzt schon mehr als drei Jahrzehnte lang. Mehr als drei Jahrzehnte lang haben wir die fortdauernde Konfrontation mit den NS-Verbrechen auf uns genommen, die Ermittlungen, die von unseren eigenen, in ihrer Sachlichkeit und Rechtlichkeit unbestreitbaren Institutionen und Gerichten vorgenommen worden sind.
    Warum sage ich das? Ich möchte in diesem Zusammenhang feststellen können, daß wir Deutschen damit gezeigt haben — bis auf den heutigen Tag —, daß wir uns der verbrecherischen Schuld der NS-Vergangenheit stellen, daß wir ihr nicht ausweichen und daß wir es für unser Volk ernst meinen mit der Abkehr von diktatorischen Methoden und von allgewaltigen Systemen und Regimen, welcher Art und welcher Farbe auch immer.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD, bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Der Aufbau der Bundesrepublik — nun ja, das haben wir im eigenen Interesse getan. Aber dies, sich diesem allen stellen, unentwegt, ist einer unserer entscheidenden Beiträge zu dem, was man Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit nennt. Wie gesagt, das haben wir jahrzehntelang getan.
    Nun kommt die aktuelle Frage: Soll dieser Prozeß der Bewältigung jetzt abgebrochen werden? Muß er nicht vielmehr — so meine ich, so meinen meine Freunde — einwandfrei und voll zu Ende geführt werden?

    (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen)

    Es geht Ihnen sicher so wie mir. Sie hören immer: endlich muß Schluß sein; man soll nicht immer wieder die alten Untaten hervorzerren. Wer verstünde das nicht? Empfinden wir das nicht selber? Aber der Schlüssel zum Schluß liegt doch gar nicht bei uns. Er liegt doch wegen der weltweiten Ausstrahlung der NS-Verbrechen bei denen, die in der Lage sind, bisher nicht entdeckte Fälle und Komplexe aufzudecken, oder die bereits gefundenes Material zurückhalten.
    Nun meinen wir, würde die Strafverfolgung neu entdeckter Fälle, auch des kleinsten Komplexes, abgeschnitten, dann bekäme dadurch jeder neue Fall eine sensationelle Bedeutung für die Betroffenen, und das wäre Stoff für neue antideutsche Agitation. Wer meint, es solle Schluß sein, dem sage ich: Die Verjährung brächte nicht Schluß, sondern immer neue, lärmende Anfänge.

    (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

    Aber lassen Sie mich zum Schluß noch folgenden Gedanken anfügen. Wichtiger als das, was ich soeben gesagt habe, ist: Gerade weil es so viele Vorbehalte gegen uns Deutsche gibt, darf man eben nicht zusätzlichen Stoff für neue, lärmende Vorwürfe bieten. Man darf nicht den Eindruck erwekken, man wolle jetzt die Last der Vergangenheit durch Fallenlassen des Vorhangs verdrängen. Unsere menschliche und nationale Interessenlage kann das überhaupt nicht gebrauchen.
    Wir dürfen doch nicht unterschätzen, welchen Einfluß gerade die Verjährungsfrage auf das internationale Urteil und die internationale Stimmungslage hat. Es ist nun einmal so: wir Deutschen sind mehr als andere auf Verständnis draußen politisch angewiesen. Wir wollen doch etwas unendlich Schwieriges erreichen. Wir wollen z. B. die freie Selbstbestimmung für alle Deutschen erreichen. Wir wissen doch, wie schwer das ist. Auch und gerade deshalb müssen wir uns um das Gegenteil von Vorbehalten und Abneigungen, um Verständnis und Unterstützung in der Welt, zumal in unserer europäischen Umwelt, mühen. Deshalb, so meinen wir, wäre Verjährung auch politisch nicht zu verantworten.



    Dr. Gradl
    Meine verehrten Kollegen, unsere Aufgabe als gewählte deutsche Abgeordnete — so darf ich jetzt schließen — ist es, von unserem Volk Schaden abzuwehren, Schaden in Gestalt der gemeinen, verbrecherischen Gewalt, die erschreckend und wachsend umgeht und Angst im Lande verbreitet,

    (Josten [CDU/CSU] : Sehr wahr!)

    Schaden aber auch aus den noch immer lebendigen Nachwirkungen jener Untaten von 1933 bis 1945, die in Europa Schrecken verbreitet und den Ruf unseres Volkes so schwer getroffen haben. In dieser umfassenden Verantwortung stehen wir alle.
    Wir, die wir die Verjährung von Mord aufheben wollen, sind davon überzeugt, daß damit unserem Volk ein notwendiger Dienst erwiesen, daß seinem Nutzen gedient wird. Geben Sie deshalb dem Gesetzentwurf gegen die Verjährung von Mord Ihre Zustimmung.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU — Beifall bei Abgeordneten der FDP)