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ID0816607000

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    Plenarprotokoll 8/166 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 166. Sitzung Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 Inhalt: Abweichung von § 60 Abs. 2 GO bei der Beratung der Verjährungsvorlagen . . . 13233 A Eintritt des Abg. Besch in den Deutschen Bundestag für den ausgeschiedenen Abg Carstens (Fehmarn) 13290 A Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung . 13233 B Beratung des Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Hermann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen Unverjährbarkeit von Mord zu der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord zu dem von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurf eines Achtzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes — Drucksachen 8/2539, 8/2616, 8/2653 (neu), 8/3032 — in Verbindung mit Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Achtzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes — Drucksache 8/2653 (neu) — in Verbindung mit Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Her- II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 mann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen Unverjährbarkeit von Mord — Drucksache 8/2539 — in Verbindung mit Beratung der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord — Drucksache 8/2616 — Dr. Mertes (Gerolstein) CDU/CSU . . . . 13234 A Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD . . . . 13239 B Kleinert FDP 13243 C Hartmann CDU/CSU 13247 C Dr. Vogel (München) SPD . . . . . . 13252 A Gattermann FDP . . . . . . . . . 13254 C Gerster (Mainz) CDU/CSU . . . . . . 13257 B Dr. Dr. h. c. Maihofer FDP . . . 13260 A, 13292 A Dr. Emmerlich SPD . . . . . . . 13265 B Helmrich CDU/CSU 13268 A Sieglerschmidt SPD 13269 C Frau Matthäus-Maier FDP . . . . . . 13272 B Dr. Lenz (Bergstraße) CDU/CSU 13274 D Dr. Weber (Köln) SPD 13277 D Ey CDU/CSU 13281 C Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 13282 B Blumenfeld CDU/CSU 13285 C Cronenberg FDP 13287 B Dr. Bötsch CDU/CSU . . . . . . . . . 13288 A Erhard (Bad Schwalbach) CDU/CSU . . . 13294 B Dürr SPD 13296 C Engelhard FDP 13298 D Dr. Gradl CDU/CSU 13301 A Thüsing SPD 13303 A Dr. Wendig FDP 13305 D Namentliche Abstimmungen . . 13290 A, 13292 B, 13308 A, 13311 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Sechsten Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes — Drucksache 8/3027 — Pfeifer CDU/CSU . . . . . . . . . . 13308 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Gesetz zur Neufassung des Umsatzsteuergesetzes und zur Änderung anderer Gesetze — Drucksache 8/3028 Westphal SPD 13309 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Gesetz zur Änderung des Gesetzes über technische Arbeitsmittel und der Gewerbeordnung — Drucksache 8/3029 — Jahn (Marburg) SPD 13313 B Nächste Sitzung 13313 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 13315* A Anlage 2 Erklärung des Abg. Dr. Penner (SPD) nach § 59 GO zu Punkt 1 der Tagesordnung . . 13315*A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 13233 166. Sitzung Bonn, den 3. Juli 1979 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich Dr. Arnold 4. 7. Bayha 4. 7. Dr. Böhme (Freiburg) 4. 7. Büchner (Speyer) * 4. 7. Dr. Dübber 3. 7. Dr. h. c. Kiesinger 4. 7. Koblitz 4. 7. Dr. Müller ** 4. 7. Picard 4. 7. Scheffler ** 4. 7. Frau Schlei 4. 7. Dr. Schmitt-Vockenhausen 4. 7. Spilker 4. 7. Volmer 4. 7. Walkhoff 4. 7. Dr. Wulff 4. 7. Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Dr. Penner (SPD) nach § 59 GO zu Punkt 1 der Tagesordnung Ich stimme einer angestrebten Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord nicht zu. Ich bin der Meinung, daß sich das abgestufte System der Verjährungsfristen im Strafgesetzbuch, in das auch schwerste Straftaten wie Mord einbezogen sind, bei allen eingeräumten Unzulänglichkeiten bewährt hat. Die zeitliche Begrenzung der staatlichen Verfolgungspflicht für Straftaten beruht auch auf der Erkenntnis, daß die Möglichkeiten der Wahrheitsfindung im Strafprozeß um so brüchiger und fragwürdiger werden, je mehr Zeit zwischen Tat und Ahndung verstrichen ist. Ich halte es daher für richtig und auch geboten, wenn der Gesetzgeber diese Regelerfahrung gesetzlich absichert und damit den Strafverfolgungsorganen eine Pflicht abnimmt, der sie auch bei bestem Wollen und Können nicht gerecht werden können. Hinweise auf ausländische Rechtsordnungen und frühere deutsche und romanische Rechtsinstitute halte ich für bemerkenswert, aber für nur bedingt aussagekräftig, da bei einem Vergleich die gesamten Verfahrensordnungen mit allen Möglichkeiten und Hemmnissen besonders des Beweisrechts gegenüber gestellt werden müssen. Der Anlaß für die Initiative ist ebenso beklemmend wie säkulär. Es geht nicht einfach um eine Neufassung des Verjährungssystems, es geht um die Frage, ob besonders Mordtaten der NS-Zeit über gesetzliche Verjährungsvorschriften einer Strafverfolgung entzogen sein können oder nicht. Das Für und Wider ist in den bewegenden Debatten der 60er * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlagen zum Stenographischen Bericht Jahre und in den Diskussionen aus jüngster Zeit engagiert, behutsam und sorgfältig beleuchtet worden. Ich bin aber der Meinung, daß es statthaft sein darf, bei der Entscheidung auch berufsbedingte Erfahrungen miteinzubeziehen, die mehr die praktische Auswirkung der Gesetzesänderung betreffen. Ich neige mehr und mehr zu der Auffassung, daß der in den 60er Jahren beschrittene Weg der Ausdehnung der Verjährungsfristen nicht richtig gewesen ist. Dabei will ich nicht verschweigen, daß ich dies seinerzeit anders gesehen habe. Aber im Verlaufe einer beruflichen Tätigkeit, bei der ich mit der Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen zu tun hatte, sind mir zunehmend Zweifel gekommen. Und das, obwohl die nazistische Wirklichkeit mit Genozid, mit Vernichtungs- und Konzentrationslagern, mit Massen- und Einzelmorden durch Akten und Zeugenaussagen erdrückend bestätigt wurde. Aber im Strafprozeß geht es nicht allein um Tatgeschehen, sondern auch um persönliche Verantwortung, um Schuld. Der Nachweis individueller Schuld war schon früher aus vielerlei Gründen kaum oder gar nicht möglich. Das ist auch nach der Erweiterung der Verjährungsfrist auf 30 Jahre noch problematischer geworden. Nicht nur statistische Hinweise geben darüber Aufschluß. Selbst das deutsch-französische Rechtshilfeabkommen des Jahres 1971, das die Verfolgungssperren des Überleitungsvertrages für deutsche Behörden lockerte, hat die strafrechtliche Bewältigung der Judendeportationen aus Frankreich nicht unterstützen können, wie man hört. Ich bin der Meinung, daß unter den gegebenen Umständen die Beibehaltung des geltenden Verjährungsrechts verantwortet werden kann. Nach meiner Erfahrung dürfte die Entdeckung neuer Sachverhalte mit der Folge strafrechtlicher Verurteilung zwar nicht ausschließbar, aber nahezu ausgeschlossen sein. Aller Voraussicht nach wird ein berechtigtes Sühnebedürfnis nicht mehr gestillt werden können. Daher halte ich es aus meiner Sicht nicht für erträglich, Zeugen, die Schwerstes erlitten und durchlitten haben, den Lasten und Beschwernissen, ja den Qualen von Vernehmungen über die gegebenen Unumgänglichkeiten hinaus auszusetzen. Daß nach Eintritt der Verjährungsfrist unentdeckte NS-Mörder sich ihrer Untaten öffentlich rühmen könnten, ist eine theoretische Möglichkeit, hat aber mit der Verjährungsproblematik nichts zu tun. Für schon Abgeurteilte oder außer Verfolgung gesetzte NS-Täter sind eher Stichworte wie „Leugnen", „Verkleinern", „Es war eben Krieg" und in Einzelfällen auch Reue kennzeichnend. Eine Neigung zu öffentlicher Erörterung dieser Vergangenheit besteht bei diesem Tätertyp nach den bisherigen Erfahrungen hingegen kaum. Für die Zukunft muß eine stetig zunehmende Zahl von Fehlbeurteilungen der Strafverfolgungsorgane befürchtet werden. Das wird für die schon anhängigen Verfahren unumgänglich sein. Die Gründe lie- 13316* .Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 gen durchweg in der Beweisnot der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Die Aufhebung der Verjährungsfrist hätte zur Folge, daß zu allen neuen Vorgängen materielle Entscheidungen über Schuld oder Unschuld erforderlich würden. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß diese durchweg Einstellungsverfügungen und Freisprüche sein werden. Ich hielte das für bedrückend, weil mit diesen staatlichen Akten, deren Qualität nicht anders ausfallen kann und wird, Geschichtslegenden gebildet und unterstützt werden können. Aus meiner Sicht ist daher das aus dem geltenden Recht folgende Offenhalten der strafrechtlichen Schuldfrage nach Ablauf der Verjährungsfrist auch der politische richtige Weg. Ich weiß, daß diese Überlegungen nur einen Teil der Fragen und Bedrängungen ausmachen. Für mich sind sie entscheidend. Eine neue gesetzliche Regelung muß sich auch an ihren Möglichkeiten und Grenzen messen lassen. Dem Anspruch der Opfer, der Betroffenen auf sühnende Gerechtigkeit kann nicht über eine Ausweitung des Verjährungsrechts Genüge geschehen. Ich meine, daß dies auszusprechen auch zur parlamentarischen Verantwortlichkeit gehört. Ich wage es daher, nein zu sagen.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Hermann Dürr


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einem persönlichen Wort an Herrn Kollegen Benno Erhard beginnen. Er möge seinen letzten Satz „Machen Sie diesen Weg, bei dem ich vielen den guten Willen nicht abspreche, nicht mit" überdenken. Das, was mich stört, ist das Wort „vielen". Bitte, setzen Sie bei allen Mitgliedern dieses Hohen Hauses, wie sie auch abstimmen mögen, guten Willen voraus.

    (Beifall bei der SPD, der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Wenn der Bundestag heute die Unverjährbarkeit von Mord beschließt, dann wird die in Zahlen meßbare Auswirkung gering sein. Die Zahl der Anklagen und der Verurteilungen wird nur wenig von dem abweichen, was zu erwarten wäre, wenn es beim geltenden Recht bliebe. Das ist zum großen Teil die Folge davon, daß — wenn auch spät — von der Möglichkeit der Unterbrechung der Strafverfolgungsverjährung Gebrauch gemacht wurde. Von dieser Unterbrechung der Strafverfolgungsverjährung wurde in dieser Debatte relativ wenig gesprochen. Besonders wenig sprachen diejenigen darüber, die es beim geltenden Recht belassen wollen.
    Diese Unterbrechung der Verjährung ist ja keine Unterbrechung im eigentlichen Sinne, wie etwa bei einem Fußballspiel, das in der 28. Minute unterbrochen und in der 28. Minute fortgesetzt wird. Wird die Strafverfolgungsverjährung unterbrochen, dann springt der Zeiger der Uhr auf Null zurück, und die Uhr beginnt neu zu ticken. Das heißt, bei einer Strafverfolgungsverjährung für Mord von jetzt 30 Jahren kann bei Unterbrechung der Verjährung maximal beinahe 60 Jahre Verfolgbarkeit herauskommen. Das unterscheidet sich von der Unverjährbarkeit von Mord in einzelnen Fällen wegen des



    Dürr
    begrenzten Lebens der Täter möglicherweise überhaupt nicht mehr.
    Für die Gerichte werden die Schwierigkeiten bei der Wahrheitsfindung bestehen bleiben, vielmehr weiter zunehmen. Immer öfter werden Zeugen in der Hauptverhandlung keine Aussage mehr machen können, weil sie inzwischen verstorben oder schwer krank sind. Auch bewahrt das menschliche Gedächtnis Wahrnehmungen aus früherer Zeit nicht gleich lange auf. Der Präsident des Bundesgerichtshofs, Gerd Pfeiffer, hat vor dem Rechtsausschuß auf Grund seiner Kenntnis vieler Akten über NS-Gewaltverbrechen ausgeführt, offensichtlich sei es den Zeugen fast unmöglich, nach langer Zeit Einzelpersonen aus einer Gruppe heraus, etwa einem Erschießungskommando, noch in Erinnerung zu behalten, während andere Situationen, in denen ein Täter einem Opfer gegenüberstand, auch heute noch mit fast fotografischer Genauigkeit wiedergegeben werden könnten.
    Daraus folgt mit hoher Wahrscheinlichkeit, daß in Zukunft fast nur noch Fälle zur Hauptverhandlung kommen werden, in denen jemand in der nationalsozialistischen Zeit mehr und Furchtbareres getan hat als das, was ihm im organisiert mordenden Unrechtsstaat anbefohlen war.
    Ist das, was hier ausgeführt wird, ein Aufruf zur Resignation? Nein. Es ist nur eine Warnung vor falschen Hoffnungen, unsere heutige Entscheidung könne es möglich machen, der Gerechtigkeit ein wenig in dem Sinne näherzukommen, daß Gleichschuldige einigermaßen gleich bestraft würden.
    Der Grund, für Unverjährbarkeit von Mord zu stimmen, ist wohl bei allen Befürwortern weniger rechtspolitischer Natur. Für mich ist die entscheidende Frage: Dürfen wir den Opfern und Hinterbliebenen nationalsozialistischer Gewalttaten zumuten, daß nach dem 1. Januar 1980 auch nur einer 'aufstehen und sagen könnte: Ich habe in dieser Zeit gemordet und keine Justiz darf mich deswegen mehr anklagen und verurteilen.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

    Diese Frage kann und muß auch allgemein gestellt werden: Dürfen wir den Hinterbliebenen irgendeines Ermordeten zumuten, daß der Täter nach langer Zeit sagen darf, ihn dürfe nun niemand mehr deswegen zur Verantwortung ziehen?

    (Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Wo sehen Sie denn da den Unterschied zwischen dem Totgeschlagenen und dem Ermordeten?)

    Ich hoffe — und habe nach der letzten Abstimmung Grund dazu —, daß der Bundestag heute beide Fragen mit Nein beantworten wird.
    Es wird — übrigens unabhängig von der heutigen Entscheidung — auch in Zukunft Freisprüche geben, weil das Gericht zwar Ausmaß und Furchtbarkeit der Mordtaten feststellen, den Tatbeitrag einzelner Angeklagter aber nicht mehr individuell nachweisen kann. Im In- und Ausland werden gegen solche Freisprüche Vorwürfe erhoben werden, wie sie auch in der Vergangenheit erhoben worden sind. Soweit sich diese Vorwürfe darauf beziehen, solche Strafverfahren seien zu spät eingeleitet worden, haben wir diese Vorwürfe als berechtigt hinzunehmen. Wir können nicht erwidern, es sei alles und es sei alles rechtzeitig getan worden. Vielleicht ist in früheren Jahrzehnten auch versäumt worden, Fälle, die heute zum Freispruch vom Vorwurf der Täterschaft bei Mord führen, rechtzeitig unter dem Gesichtspunkt der Zugehörigkeit zu einer kriminellen Organisation zu prüfen. Ziel dieser Vorwürfe sollten aber nicht die heutigen Richter — weder die Berufsrichter noch die ehrenamtlichen Richter — sein.

    (Beifall bei der FDP)

    Sie haben — an Gesetz und Recht gebunden — solche Vorwürfe nicht verdient.
    Denken Sie bitte auch daran, daß wir vor eineinhalb Jahrzehnten Beschuldigten und Angeklagten das Recht gegeben haben, ohne Furcht vor Nachteilen im Strafprozeß zu schweigen. Es muß also jede Einzelheit aus dem Jahre 1942 oder 1943 durch andere Beweismittel als die Einlassung des Angeklagten erwiesen werden. Das wird immer schwieriger, je länger die Taten zurückliegen. Das erklärt auch zum Teil die quälend lange Dauer der Strafverfahren.
    Wir dürfen die Gefühle der Hinterbliebenen der Opfer der nationalsozialistischen Mordtaten nicht unbeachtet lassen, wir dürfen auch die Schwierigkeiten nicht übersehen, vor denen Staatsanwälte und Richter vor und in solchen Strafverfahren stehen. Wir müssen aber auch, schon um gefühlsbedingten Mißverständnissen zu begegnen, deutlich sagen: Wegen nationalsozialistischer Gewalttaten verurteilte Personen sind Menschen, keine Symbolfiguren.
    Daraus folgt — das erkläre ich für mich persönlich —, daß Rudolf Heß aus dem Gefängnis in Altenpflege verbracht werden sollte. Hier geht es nicht darum, daß das Urteil zu Recht ergangen ist. Ihn aus Strafhaft zu entlassen erscheint als ein Gebot der Menschlichkeit, aber auch der politischen Klugheit. Denn politisch Unbelehrbare können nur den eingesperrten Rudolf Heß als Märtyrer ansehen, nicht aber einen Mann, der seinem hohen Alter und schlechten Gesundheitszustand entsprechend behandelt wird. Das sollte in dieser Debatte ausgesprochen werden, auch wenn die Entscheidung darüber nicht in deutscher Hand liegt.

    (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen)

    Daraus folgt ferner, daß auch für Personen, die wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen verurteilt worden sind, bei der Prüfung, ob bedingte Entlassung aus der Strafhaft in Frage kommt, die Grundsätze nicht ausgeschlossen sein sollten, die für jeden zu langfristiger Freiheitsstrafe Verurteilten gelten. Das ergibt sich schon aus der Tatsache, daß wir alle bisher aus Überzeugung und zu Recht ein Sonderrecht für NS-Täter stets abgelehnt haben.
    Die heutige Entscheidung des Parlaments darf nicht dahin mißverstanden werden, als würde damit



    Dürr
    die Bewältigung des dunkelsten Kapitels deutscher Vergangenheit unserer Justiz übertragen. Unsere Gerichte können einzelne Sachverhalte aufklären und Einzeltätern strafrechtliche Schuld zumessen, nicht mehr. Die Frage, wie es zum bürokratisch perfekt organisierten Massenmord im Unrechtsstaat kam, wie es dazu kommen konnte, kann kein Gericht beantworten und der Öffentlichkeit erläutern. Diese Darstellung und Erläuterung zu versuchen ist Aufgabe derer, die die Zeit bis 1945 bewußt miterlebt haben. Sie gehören heute der Eltern- oder — meist — Großelterngeneration an. Vergessen wir nicht: 45 % unserer Bevölkerung sind erst nach dem Kriegsende im Mai 1945 geboren worden.
    Die Darstellung dessen, was in der Zeit des Nationalsozialismus geschehen ist, und die Erläuterung, wie es dazu kam, ist ferner Aufgabe derer, die sich mit Geschichte und politischer Bildung befassen. Es genügt nicht, wenn sie den Massenmord im Unrechtsstaat schildern. Auschwitz, Sobibor und Treblinka sind Namen aus den letzten Jahren nationalsozialistischer Herrschaft. Wer wissen will, wie es dazu kam, muß sich mit der Anfangszeit befassen, er muß etwas von der schrittweisen Beseitigung von Demokratie und Rechtsstaat, von den Anfängen der Unterdrückung von Minderheiten wissen. Wer darüber Bescheid weiß, vermag die übrigens zum Teil aus dem Ausland zu uns importierten Ansätze von Neonazismus richtig zu bewerten.
    Wir bemühen uns, dagegen das rechtlich und politisch Erforderliche zu tun. Die Einsicht, daß Neonazismus zur Zeit keine Gefahr für unsere Demokratie darstellt, entbindet uns nicht von der Pflicht zu stetiger Wachsamkeit.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

    Die Kenntnis der Vergangenheit bietet aber keine sichere Gewähr dafür, daß uns Demokratie und freiheitlicher Rechtsstaat in Zukunft erhalten bleiben. Gefahren für die Stabilität der Demokratie drohen nie genau aus derselben Ecke wie vor Jahrzehnten. Meine Großmutter hätte gesagt: Der Teufel kommt nicht zweimal aus demselben Loch.
    Eine Überlegung soll das beispielhaft verdeutlichen. Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre dieses Jahrhunderts war bei großen Teilen der deutschen Jugend ein aus dem Gefühl kommender Kulturpessimismus sehr in Mode, eine verächtliche Distanz zum institutionalisierten, bürokratisierten Staat. Diesen jungen Menschen haben die Nationalsozialisten vorgegaukelt, ihr Staat werde ihnen etwas für ihr Gefühl bieten; im NS-Staat müsse alles ganz anders werden. Der Großteil dieser Jugendlichen ließ sich davon blenden, marschierte mit oder sah zumindest widerspruchslos zu, wie langweilig zu lesende, gar nicht das Gefühl bewegende Vorschriften etwa der Weimarer Verfassung hinweggefegt wurden, Vorschriften, die in Wirklichkeit die Freiheit der Bürger geschützt hatten.
    Warum berichte ich darüber, wo doch jedermann weiß, daß Bonn nicht Weimar ist? Weil es heute unsere Aufmerksamkeit erregen sollte, wenn immer mehr junge Menschen erklären, sich nicht an Wahlen beteiligen zu wollen, weil die in der Politik Agierenden doch alle gleich seien. Wer erklärt, zwischen Franz Josef Strauß, Willy Brandt und anderen keinerlei Unterschied mehr sehen zu können, und wer sie alle ablehnt, der sollte sich fragen, ob sein Gefühl in der Ablehnung demokratischer Politiker sich nicht dem Punkt nähert, an dem er die Demokratie als ablehnenswürdig abschreibt.
    Eine Demokratie ist am stabilsten und am besten vor der Gefahr irgendeines Totalitarismus gesichert, wenn sich ein möglichst großer Teil der Bevölkerung, insbesondere der jüngeren, mit dem demokratischen Staat identifizieren kann und ihn als seinen Staat ansieht. Das macht das Gespräch zwischen den Generationen so wichtig für die Sicherung unserer Demokratie. Darüber sprechen, welche Gefühle und Einstellungen vielen jungen Menschen die Identifizierung mit unserem Staat derzeit erschweren und möglicherweise ihre geistige Widerstandskraft gegen Einflüsterung von Demogogen herabsetzen, das ist, wie mir scheint, eminent wichtig. Dieses Gespräch mit gemeinsamer Blickrichtung in die Zukunft ist schwer, aber wichtiger als mancher Gesetzgebungsakt.
    In diesem Bemühen um Sicherung unserer Demokratie sind wir alle, wie wir heute in dieser Frage auch abgestimmt haben und abstimmen werden, uns einig.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)



Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Engelhard.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Hans A. Engelhard


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sprechen wir zunächst noch einmal von den Grundsätzen und den Verfahrensregeln und dem Stil, die unsere Debatte und heutige Entscheidung bestimmen und prägen sollen.
    Wir sind am 29. März dieses Jahres mit dem festen Vorsatz in die Beratungen gegangen, daß diese Entscheidung von jedem einzelnen einzig und allein nach seiner höchstpersönlichen Überzeugung getroffen werden muß. Hier kann und darf es keine Fraktionsmeinung und keine Regierungsmeinung geben, und hier stehen sich nicht Auffassungen der Koalition einerseits und der Opposition andererseits gegenüber. Der Rechtsausschuß hat stellvertretend für das ganze Parlament diesen Vorsatz nochmals bekräftigt. Er hat sich einstimmig meinen Antrag zu eigen gemacht, im vorliegenden ganz besonderen Falle von einer Beschlußempfehlung an das Plenum Abstand zu nehmen. Und jetzt, vor der Endentscheidung, liegt es bei jedem einzelnen von uns, nach seiner ureigensten Überzeugung und nach nichts sonst bei der dritten Lesung seine Entscheidung zu treffen.
    Stillschweigend und ebenso gewichtig war unsere weitere Übereinkunft, die Beratungen mit Anstand — bei allem Engagement in der Sache — zu führen. Ich denke, daß wir uns bis jetzt alles in allem redlich darum bemüht haben. Die Achtung vor der Person des Andersdenken entbindet uns aber nicht



    Engelhard
    vom Recht und auch der Pflicht zur Auseinandersetzung. Niemand darf des anderen redliche Überzeugung in Zweifel ziehen und damit beschädigen. Aber die jenseits der Gewissensentscheidung des „Hier stehe ich, ich kann nicht anders" liegenden Gründe und Argumente für diese Überzeugung müssen um der Klarheit der Entscheidungsempfindung und um der Wahrheit der Entscheidung willen offen und fair, aber auch ohne jede falsche Zurückhaltung diskutiert und ausgesprochen werden. Deshalb sage ich: Die Debatte um die Verjährung von NS-Morden ist durch den Vorschlag, die Unverjährbarkeit von Mord ganz allgemein einzuführen, überlagert worden und zur rechtspolitischen Belastungsprobe geworden.
    Ich akzeptiere, daß einige Kollegen dieser Idee der Unverjährbarkeit schlechthin schon immer, schon seit Jahren angehangen haben. Aber man braucht generell wohl kein Hellseher in die Vergangenheit hinein zu sein, um zu sagen: Hätte etwa ein Mitglied diese Hauses vor einigen Jahren weitab von der Entscheidung dieser Stunde und ohne jede Bezugnahme darauf die Unverjährbarkeit des gemeinen Mordes gefordert, allgemeines Kopfschütteln, Ablehnung und kritische Kommentare wären seinem Vorschlag weit und breit sicher gewesen.
    Ernster erscheint mir aber dies: In unserer Rechtspolitik sind wir ansonsten ja so stolz darauf, gesetzgeberische Schritte vom Ergebnis der Rechtstatsachenforschung abhängig zu machen. Oft ist diese Forschung noch sehr unzulänglich, oft ist sie überhaupt noch nicht zu Ergebnissen gekommen. Hier aber bei der Verjährung von Mord haben wir nicht nur eine lange Rechtstradition, sondern da liegen die Tatsachen ganz schlicht auf der Hand. Weder im Kaiserreich noch in der Weimarer Republik, noch in der Bundesrepublik bis 1965 bestand jemals auch nur das Bedürfnis, am geltenden Recht etwas zu ändern. Und so kann es niemand verwundern, wenn etwa der niederländische Strafrechtler Professor Röter — zitiert aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 23. Mai 1979 — meint:
    Das manchmal etwas Gespenstische an der zur Zeit stattfindenden Diskussion ist, daß die Aufhebung der Verjährung für Mord und für eine weitere und vor allem gerechte Ahndung von NS-Verbrechen belanglos ist, dafür aber den wesentlichen Nachteil bringt, daß die Unverjährbarkeit des Mordes als ein Fremdkörper in das deutsche Strafrecht eingeführt wird.

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP)

    Bei der ersten Lesung habe ich angedeutet, daß die Befürworter der Unverjährbarkeit von Mord etwa sagen könnten: Unser Anliegen ist die Unverjährbarkeit von NS-Morden; die Unverjährbarkeit auch des gemeinen Mordes nehmen wir nur bewußt in Kauf, weil wir anders unser Ziel nicht glauben erreichen zu können.
    Aber spätestens bei den Ausschußberatungen ist etwas ganz anderes deutlich geworden. Wir lesen jetzt im Ausschußbericht, angesichts des Umfangs der NS-Verbrechen komme zwar der Verjährungsproblematik im Jahre 1979 gesteigerte Bedeutung zu,
    aber dennoch dürfe die Entscheidung nicht nur im Blick auf die Morde aus der Zeit vor dem 8. Mai 1945 getroffen werden; ja, die Aufhebung der' Verfolgungsverjährung bei Mord schlechthin wird im Ausschußbericht sogar als konsequenter Schlußpunkt einer kontinuierlichen Entwicklung unserer Gesetzgebung dargestellt. Welche Verkennung, so sage ich, der zeitlichen und der inhaltlichen Relationen bei der Bewertung der rechtspolitischen Entscheidungen des Deutschen Bundestages in den Jahren 1953, 1960, 1965 und schließlich auch 1969 und inhaltlich nicht einmal gegenläufiger Beschlüsse der letzten zehn Jahre!
    In kaum zu überbietender Schärfe und Deutlichkeit hat deshalb Professor Röter — dessen subjektiven Teil seiner Wertung ich mir nicht zu eigen machen will — erklärt:
    Die Ausdehnung
    — gemeint ist: der Verjährungsaufhebung —
    auf den gemeinen Mord ist jedoch durch nichts zu rechtfertigen. Bei seiner Verjährung geht es um eine zur deutschen Rechtskultur gehörende bewährte Rechtsinstitution, die völlig nutzlos der Tagespolitik geopfert würde. Wer so, ohne Not, die Rechtskontinuität aufgibt, mißachtet das Recht als gewachsenes Kulturprodukt.
    Für die Mehrzahl meiner politischen Freunde und mich ist daher die wirkliche, von der Sache her begründete Gegenposition zur Beibehaltung des geltenden Rechts der Vorschlag unseres Kollegen Professor Maihofer. Dieser Vorschlag beschränkt sich auf die Regelung dessen, was uns überhaupt zu diesen Beratungen zusammengeführt hat: die anstehende Verjährung von NS-Morden zum Jahresende, soweit nicht eine Unterbrechung eingetreten ist.
    Jetzt, da der Maihofer-Vorschlag bei der Abstimmung in zweiter Lesung keine Mehrheit gefunden hat, werden seine Befürworter — und ich sage dies, Herr Kollege Professor Maihofer, ungeachtet der Erklärung, die Sie vorher, auch für eine Reihe von Kollegen, abgegeben haben — genau zu prüfen haben, ob die Unverjährbarkeit von Mord schlechthin ihr Anliegen mit abdeckt, so daß der Unverjährbarkeit auch des gemeinen Mordes zugestimmt werden kann, oder ob ihnen auf der Suche nach einer sachgerechten Lösung mit ihrer Zustimmung zur Unverjährbarkeit schlechthin nicht doch ein viel zu hoher Preis abverlangt wird, ein Preis, den wir erst in einer späteren, allerdings nicht mehr zu fernen Zeit zu bezahlen haben werden.

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

    Die Mehrzahl meiner Fraktionskollegen und auch ich treten für die Beibehaltung des geltenden Rechts ein.

    (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

    Die Gründe hierfür mögen bei dem einzelnen unterschiedlich gewichtet sein. Für mich haben die langen und eingehenden Beratungen des Rechtsausschusses eine Bestärkung meines in der ersten Lesung eingenommenen Standpunktes gebracht.



    Engelhard
    So hat etwa Professor Böckenförde für seine Darlegungen vor dem Rechtsausschuß spontanen Beifall von allen Seiten erhalten. Das ist eine im Rechtsausschuß sonst ungewöhnliche Anerkennung. Er hat vom verfassungsrechtlichen Unbehagen bei allen Versuchen gesprochen, das geltende Recht entgegen vielfacher gegenteiliger Vorentscheidungen zu ändern. Hätte Professor Böckenförde sein Gutachten in ein abschließendes Votum einmünden lassen, so hätte dieses Votum nur lauten können: für Beibehaltung des geltenden Rechts oder allenfalls eine möglichst eingeschränkte Unverjährbarkeit, entsprechend dem Vorschlag von Professor Maihofer.
    Immer wieder wurde bei den Ausschußberatungen deutlich, daß sich das Ziel materieller Gerechtigkeit auf Dauer niemals in der Abstraktion — darauf habe ich bereits in der ersten Lesung hingewiesen —, auch nicht in der Abstraktion des guten Willens, verwirklichen kann. Wenn es vom 1. Januar 1970 bis Ende 1978 lediglich bei drei der neu entdeckten Fälle zur Verurteilung gekommen ist und das Durchschnittsalter aller Angeklagten heute bereits bei 67 Jahren liegt, so läßt sich — das ist sicherlich nicht unzulässig — unschwer absehen, welchen Weg die Strafverfolgung bei einer Aufhebung der Verjährung nehmen wird.
    Ich zitiere wiederum Professor Rüter, weil sich hier eine ausländische Stimme gemeldet hat, ein Strafrechtler und gerade im Bereich der NS-Verbrechen ein Experte von besonderen Graden, der uns Argumente ins rechtspolitische Stammbuch geschrieben hat, denen sich niemand wird so einfach entziehen können. Professor Rüter ist zuzustimmen, wenn er meint: „Eine Aufhebung der Verjährung kann diese Umstände nicht aus der Welt schaffen; denn materiell hat diese Verjährung schon längst begonnen."
    Nun hat Herr Kollege Dürr noch einmal dargestellt, daß es darauf gar nicht ankomme, weil wir das Institut der Verjährungsunterbrechung haben, nach deren Vornahme die Zeit wieder von vorn zu laufen beginnt. Dieses Argument halte ich im Rahmen dieser Debatte so generell keineswegs für stichhaltig und richtig; denn wir haben uns von Oberstaatsanwalt Rückerl genau darüber unterrichten lassen, wie zur Abwendung drohender Verjährung bei NS-Verfahren die Verjährung unterbrochen wurde. Sicherlich völlig richtig ist man daran gegangen, sich der aufgefundenen schriftlichen Materialien zu bedienen, der Mannschaftslisten von Einsatzkommandos etwa, und oft überhaupt nicht wissend, ob der einzelne noch lebt und wo er sich aufhält, hat man die Verjährung unterbrochen. Das ist richtig, um die Verjährung hier nicht eintreten zu lassen. Aber wie ist es bei der allgemeinen Kriminalität, insbesondere der des Mordes?
    Ich will ein Beispiel dafür nennen. Niemals ist es meines Wissens in der deutschen Rechtsgeschichte passiert, daß etwa auf einer kleinen Insel im Meer in der Zeit, wo ein heftiger Sturm herrschte, der die Landung jedes Schiffes ausschloß, so daß feststand, daß nur die dort Lebenden zum Zeitpunkt der Tat auf der Insel anwesend waren, daß auf dieser Insel ein Mensch ermordet wurde, die Tat nicht aufgeklärt werden konnte und daß man zur Abwendung der Verjährung alle, die ihrem Alter nach überhaupt zu einer solchen Tat imstande gewesen wären, als Beschuldigte geführt hätte, um die Verjährung zu unterbrechen. Wir sehen an diesem Beispiel sehr deutlich, daß man auch in dieser Debatte sehr wohl die Unterschiede zwischen der Verfolgung von NS-Verbrechen und der Verfolgung von Verbrechen der allgemeinen Kriminalität sehen muß.
    Ich habe schon bei der ersten Lesung zu bedenken gegeben, daß wir in der Gerichtspraxis heute an einem Punkt angelangt sind, an dem zunehmend der Freispruch zwingend zum Symbol der NS-Verfahren wird. Wer da meint, sich mit seiner wohlgemeinten Bereitschaft zur Ahndung von Verbrechen bis zum Tode des Täters den vorgegebenen Tatsachen entziehen zu können, wird, so meine ich, letztlich auch vor den Augen der überlebenden Opfer und ihrer Angehörigen kaum bestehen können. Denn wir erleben es ja zunehmend und bedrückend, etwa im Majdanek-Verfahren, daß — aus der Situation und überhäuft von der Fülle des Leids — die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung nur die Ergebnisse sehen und sich der Freispruch für sie nicht als das Produkt eines rechtsstaatlich geführten Verfahrens, sondern eines Nicht-Verurteilen-Wollens auf seiten eines deutschen Gerichts darstellt.
    Ich zitiere zum Schluß noch einmal Professor Rüter. Denn in seinen Worten sind die Grundsätze und Erwägungen in etwa gebündelt zusammengefaßt, die für die Mehrheit meiner politischen Freunde und für mich am heutigen Tage Entscheidungsgrundlage sind. Professor Rüter schreibt:
    Die drohende Verjährung von NS-Verbrechen stellt die deutsche Öffentlichkeit vor eine Frage, die von ihr mit Recht nicht einseitig als politische Frage verstanden wird. Beim Ringen um die richtige Lösung ist auch die Befragung des eigenen Gewissens von entscheidender Bedeutung. Bei allem sollte aber nicht vergessen werden, daß hier auch Einsicht in die unvermeidlichen Grenzen staatlichen Strafens erforderlich ist. Denn eine Vorentscheidung ist bereits vor vielen Jahren gefallen: die Bundesrepublik Deutschland unternimmt — gerade weil sie sich als Rechtsstaat versteht — seit nunmehr über 30 Jahren den Versuch, auf ungeheuerliche Massenverbrechen des vorangegangenen Regimes nicht entweder durch blutige Rache oder durch eine allgemeine Amnestie, sondern mit den Mitteln einer die Rechtsstaatlichkeit anstrebenden Strafrechtspflege zu reagieren. Wer diese Wahl einmal getroffen hat, der verzichtet notwendigerweise auf eine lükkenlose Vergeltung. Das ist der Preis, der verlangt und um der Rechtsstaatlichkeit willen auch gezahlt werden muß. Zu diesem Preis kann auch die Verjährung über 34 Jahre alter Straftaten gehören.
    Ich schließe mit dem Satz, daß ich bezweifle, daß wir mit einer Regelung — so engagiert sie immer sein mag — des guten Willens, der die Tat nicht folgen kann und die sich in Vorsätzen und Prinzipien erschöpfen muß, vor den Opfern, vor uns selbst
    Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag. den 3. Juli 1979 13301
    Engelhard
    und vor unserer Rechtsordnung besser werden bestehen können. Dies — darum bitte ich herzlich — möge ein jeder hier im Raum bei seiner Schlußentscheidung noch einmal gewissenhaft bedenken.

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)