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ID0816606800

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    Plenarprotokoll 8/166 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 166. Sitzung Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 Inhalt: Abweichung von § 60 Abs. 2 GO bei der Beratung der Verjährungsvorlagen . . . 13233 A Eintritt des Abg. Besch in den Deutschen Bundestag für den ausgeschiedenen Abg Carstens (Fehmarn) 13290 A Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung . 13233 B Beratung des Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Hermann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen Unverjährbarkeit von Mord zu der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord zu dem von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurf eines Achtzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes — Drucksachen 8/2539, 8/2616, 8/2653 (neu), 8/3032 — in Verbindung mit Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Achtzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes — Drucksache 8/2653 (neu) — in Verbindung mit Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Her- II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 mann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen Unverjährbarkeit von Mord — Drucksache 8/2539 — in Verbindung mit Beratung der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord — Drucksache 8/2616 — Dr. Mertes (Gerolstein) CDU/CSU . . . . 13234 A Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD . . . . 13239 B Kleinert FDP 13243 C Hartmann CDU/CSU 13247 C Dr. Vogel (München) SPD . . . . . . 13252 A Gattermann FDP . . . . . . . . . 13254 C Gerster (Mainz) CDU/CSU . . . . . . 13257 B Dr. Dr. h. c. Maihofer FDP . . . 13260 A, 13292 A Dr. Emmerlich SPD . . . . . . . 13265 B Helmrich CDU/CSU 13268 A Sieglerschmidt SPD 13269 C Frau Matthäus-Maier FDP . . . . . . 13272 B Dr. Lenz (Bergstraße) CDU/CSU 13274 D Dr. Weber (Köln) SPD 13277 D Ey CDU/CSU 13281 C Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 13282 B Blumenfeld CDU/CSU 13285 C Cronenberg FDP 13287 B Dr. Bötsch CDU/CSU . . . . . . . . . 13288 A Erhard (Bad Schwalbach) CDU/CSU . . . 13294 B Dürr SPD 13296 C Engelhard FDP 13298 D Dr. Gradl CDU/CSU 13301 A Thüsing SPD 13303 A Dr. Wendig FDP 13305 D Namentliche Abstimmungen . . 13290 A, 13292 B, 13308 A, 13311 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Sechsten Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes — Drucksache 8/3027 — Pfeifer CDU/CSU . . . . . . . . . . 13308 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Gesetz zur Neufassung des Umsatzsteuergesetzes und zur Änderung anderer Gesetze — Drucksache 8/3028 Westphal SPD 13309 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Gesetz zur Änderung des Gesetzes über technische Arbeitsmittel und der Gewerbeordnung — Drucksache 8/3029 — Jahn (Marburg) SPD 13313 B Nächste Sitzung 13313 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 13315* A Anlage 2 Erklärung des Abg. Dr. Penner (SPD) nach § 59 GO zu Punkt 1 der Tagesordnung . . 13315*A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 13233 166. Sitzung Bonn, den 3. Juli 1979 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich Dr. Arnold 4. 7. Bayha 4. 7. Dr. Böhme (Freiburg) 4. 7. Büchner (Speyer) * 4. 7. Dr. Dübber 3. 7. Dr. h. c. Kiesinger 4. 7. Koblitz 4. 7. Dr. Müller ** 4. 7. Picard 4. 7. Scheffler ** 4. 7. Frau Schlei 4. 7. Dr. Schmitt-Vockenhausen 4. 7. Spilker 4. 7. Volmer 4. 7. Walkhoff 4. 7. Dr. Wulff 4. 7. Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Dr. Penner (SPD) nach § 59 GO zu Punkt 1 der Tagesordnung Ich stimme einer angestrebten Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord nicht zu. Ich bin der Meinung, daß sich das abgestufte System der Verjährungsfristen im Strafgesetzbuch, in das auch schwerste Straftaten wie Mord einbezogen sind, bei allen eingeräumten Unzulänglichkeiten bewährt hat. Die zeitliche Begrenzung der staatlichen Verfolgungspflicht für Straftaten beruht auch auf der Erkenntnis, daß die Möglichkeiten der Wahrheitsfindung im Strafprozeß um so brüchiger und fragwürdiger werden, je mehr Zeit zwischen Tat und Ahndung verstrichen ist. Ich halte es daher für richtig und auch geboten, wenn der Gesetzgeber diese Regelerfahrung gesetzlich absichert und damit den Strafverfolgungsorganen eine Pflicht abnimmt, der sie auch bei bestem Wollen und Können nicht gerecht werden können. Hinweise auf ausländische Rechtsordnungen und frühere deutsche und romanische Rechtsinstitute halte ich für bemerkenswert, aber für nur bedingt aussagekräftig, da bei einem Vergleich die gesamten Verfahrensordnungen mit allen Möglichkeiten und Hemmnissen besonders des Beweisrechts gegenüber gestellt werden müssen. Der Anlaß für die Initiative ist ebenso beklemmend wie säkulär. Es geht nicht einfach um eine Neufassung des Verjährungssystems, es geht um die Frage, ob besonders Mordtaten der NS-Zeit über gesetzliche Verjährungsvorschriften einer Strafverfolgung entzogen sein können oder nicht. Das Für und Wider ist in den bewegenden Debatten der 60er * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlagen zum Stenographischen Bericht Jahre und in den Diskussionen aus jüngster Zeit engagiert, behutsam und sorgfältig beleuchtet worden. Ich bin aber der Meinung, daß es statthaft sein darf, bei der Entscheidung auch berufsbedingte Erfahrungen miteinzubeziehen, die mehr die praktische Auswirkung der Gesetzesänderung betreffen. Ich neige mehr und mehr zu der Auffassung, daß der in den 60er Jahren beschrittene Weg der Ausdehnung der Verjährungsfristen nicht richtig gewesen ist. Dabei will ich nicht verschweigen, daß ich dies seinerzeit anders gesehen habe. Aber im Verlaufe einer beruflichen Tätigkeit, bei der ich mit der Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen zu tun hatte, sind mir zunehmend Zweifel gekommen. Und das, obwohl die nazistische Wirklichkeit mit Genozid, mit Vernichtungs- und Konzentrationslagern, mit Massen- und Einzelmorden durch Akten und Zeugenaussagen erdrückend bestätigt wurde. Aber im Strafprozeß geht es nicht allein um Tatgeschehen, sondern auch um persönliche Verantwortung, um Schuld. Der Nachweis individueller Schuld war schon früher aus vielerlei Gründen kaum oder gar nicht möglich. Das ist auch nach der Erweiterung der Verjährungsfrist auf 30 Jahre noch problematischer geworden. Nicht nur statistische Hinweise geben darüber Aufschluß. Selbst das deutsch-französische Rechtshilfeabkommen des Jahres 1971, das die Verfolgungssperren des Überleitungsvertrages für deutsche Behörden lockerte, hat die strafrechtliche Bewältigung der Judendeportationen aus Frankreich nicht unterstützen können, wie man hört. Ich bin der Meinung, daß unter den gegebenen Umständen die Beibehaltung des geltenden Verjährungsrechts verantwortet werden kann. Nach meiner Erfahrung dürfte die Entdeckung neuer Sachverhalte mit der Folge strafrechtlicher Verurteilung zwar nicht ausschließbar, aber nahezu ausgeschlossen sein. Aller Voraussicht nach wird ein berechtigtes Sühnebedürfnis nicht mehr gestillt werden können. Daher halte ich es aus meiner Sicht nicht für erträglich, Zeugen, die Schwerstes erlitten und durchlitten haben, den Lasten und Beschwernissen, ja den Qualen von Vernehmungen über die gegebenen Unumgänglichkeiten hinaus auszusetzen. Daß nach Eintritt der Verjährungsfrist unentdeckte NS-Mörder sich ihrer Untaten öffentlich rühmen könnten, ist eine theoretische Möglichkeit, hat aber mit der Verjährungsproblematik nichts zu tun. Für schon Abgeurteilte oder außer Verfolgung gesetzte NS-Täter sind eher Stichworte wie „Leugnen", „Verkleinern", „Es war eben Krieg" und in Einzelfällen auch Reue kennzeichnend. Eine Neigung zu öffentlicher Erörterung dieser Vergangenheit besteht bei diesem Tätertyp nach den bisherigen Erfahrungen hingegen kaum. Für die Zukunft muß eine stetig zunehmende Zahl von Fehlbeurteilungen der Strafverfolgungsorgane befürchtet werden. Das wird für die schon anhängigen Verfahren unumgänglich sein. Die Gründe lie- 13316* .Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 gen durchweg in der Beweisnot der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Die Aufhebung der Verjährungsfrist hätte zur Folge, daß zu allen neuen Vorgängen materielle Entscheidungen über Schuld oder Unschuld erforderlich würden. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß diese durchweg Einstellungsverfügungen und Freisprüche sein werden. Ich hielte das für bedrückend, weil mit diesen staatlichen Akten, deren Qualität nicht anders ausfallen kann und wird, Geschichtslegenden gebildet und unterstützt werden können. Aus meiner Sicht ist daher das aus dem geltenden Recht folgende Offenhalten der strafrechtlichen Schuldfrage nach Ablauf der Verjährungsfrist auch der politische richtige Weg. Ich weiß, daß diese Überlegungen nur einen Teil der Fragen und Bedrängungen ausmachen. Für mich sind sie entscheidend. Eine neue gesetzliche Regelung muß sich auch an ihren Möglichkeiten und Grenzen messen lassen. Dem Anspruch der Opfer, der Betroffenen auf sühnende Gerechtigkeit kann nicht über eine Ausweitung des Verjährungsrechts Genüge geschehen. Ich meine, daß dies auszusprechen auch zur parlamentarischen Verantwortlichkeit gehört. Ich wage es daher, nein zu sagen.
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    Rede von Benno Erhard


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Jeder Mord schreit zum Himmel", hat heute der
    Kollege Emmerlich gesagt. — Ja, jeder Mord schreit zum Himmel, aber nicht zum irdischen Gericht.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    In deutschen Landen gibt es ein anderes Wort: Mord schreit nach Rache, nach Blutrache. Dieses Wort galt auch früher in deutschen Landen.
    In einer langen Rechts- und Kulturentwicklung ist die Strafgewalt vom einzelnen, der die Blutrache übte, auf den Staat übergegangen. Der Staat hat ein faires Verfahren entwickelt. Er hat sich seit langer Zeit durch Grenzen der Verfolgbarkeit von Verbrechen aller Art beschränkt. Der Strafzweck wurde bis auf unsere heutigen Tage ziemlich deutlich definiert, nämlich Sicherung der Gesellschaft vor dem Verbrecher, Resozialisierung des Verbrechers und Sühne — drei nebeneinanderstehende Elemente. Es gab in den früheren Jahren in diesem Hause einen langen Streit zwischen der CDU/CSU und vor allen Dingen den Sozialdemokraten, ob der Staat überhaupt Sühne erzwingen könne, ob die Strafe etwas mit Sühne zu tun haben könne. Wir haben uns bei der Verabschiedung des neuen jetzt geltenden Strafgesetzbuches zur Gleichrangigkeit der drei Strafzwecke durchringen können. Was wir heute mit der Aufhebung der Verjährung in zweiter Lesung beschlossen haben — ich zweifle nicht daran, daß es auch in dritter Lesung beschlossen wird —, halte ich für einen Teilrückschritt in eine Zeit, die wir vom kulturellen Standpunkt glaubten überwunden zu haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Was steht an? Wir sollten uns alle nichts vormachen — die Beratungen der zweiten Lesung haben es ebenso wie die Beratungen im Rechtsausschuß überdeutlich gemacht —: Es geht um die Vergangenheit des NS-Staates, es geht um die Menschen, die im nationalsozialistischen Herrschaftsstaat möglicherweise oder sicher Mörder geworden sind oder geworden sein könnten.
    Im nationalsozialistischen Staat hatte das Strafrecht andere Zwecke als die, auf die wir uns geeinigt haben. Darf ich daran erinnern, daß die Reinhaltung des Blutes zum Strafrechtszweck gehörte, daß die Durchsetzung des Führerwillens als Willen des verfassungsgemäßen Gesetzgebers im Volk das Strafrecht nutzte. Die Unterwerfung aller unter diesen totalen Staat wurde auch mit brutalen Strafgesetzen und Ahndungen erzwungen.
    Ich bin sehr traurig darüber, daß wir heute eine Abkehr von der alten Tradition unseres Strafrechtes beschließen; denn wir wissen, daß es nur um NS-Täter geht, auch wenn generell die Mordverjährung aufgehoben ist. Wir haben im Rechtsausschuß die Praktiker gefragt, ob es Mordtaten nach dem 8. Mai 1945 gebe, die nicht gesühnt worden seien und die nach der Verlängerung der Verjährung von 20 Jahren auf 30 Jahre in der Justiz zur Anklage oder zu einer weiteren Ermittlung gekommen seien. Die Antwort war eindeutig, solche Fälle gebe es nicht. Die Verlängerung der Verjährungsfrist auf 30 Jahre und jetzt die Aufhebung der Verjährung betreffen also den gleichen Personenkreis, soweit
    Wissebach Wissmann Dr. Wittmann (München)

    Dr. Wörner
    Baron von Wrangel
    Dr. Zeitel Zeyer
    Ziegler
    Dr. Zimmermann
    Zink
    Berliner Abgeordnete
    Amrehn
    Kunz (Berlin) Müller (Berlin) Straßmeir
    SPD
    Dr. Bayerl
    Dr. Penner
    FDP
    Angermeyer Dr. Bangemann Baum
    Cronenberg Eimer (Fürth) Engelhard
    Ertl
    Frau Funcke Gallus
    Genscher
    Grüner
    Hölscher
    Jung
    Kleinert
    Dr. Graf Lambsdorff
    Merker
    Mischnick
    Möllemann Paintner
    Schmidt (Kempten)

    von Schoeler Spitzmüller
    Wolfgramm (Göttingen) Wurbs



    Erhard (Bad Schwalbach)

    er nach dem 1. Januar 1980 noch bekanntwerden sollte.
    Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang nur noch einmal an das damalige Recht und Reich erinnern, um das Problem der Schuld näher zu erläutern; denn um dieses Problem geht es Ihnen, wenn Sie heute die Verjährung aufheben. Ich erinnere Sie daran, daß Professor Schlegelberger, bereits vor 1933 Staatssekretär im Reichsjustizministerium, mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Ministers beauftragt war, als Hitler die Euthanasie — die Ermordung der geistig Behinderten, der körperlich Behinderten und Kranken — anordnete. Dieser amtierende Minister lud den Präsidenten des Reichsgerichts, alle Oberlandesgerichtspräsidenten und alle Generalstaatsanwälte zu einer Konferenz ein, um ihnen bekanntzugeben, daß der Führer diese Art von Tötungen befohlen habe. Er hat sich darauf berufen, das entspreche dem Willen des Führers und sei deswegen zu vollziehen. Die gesamte Justiz in ihrer Spitze kannte also diese Morde, und nichts anderes als Mord war es. Die gesamte Justiz hat das passieren lassen, und sie hat ein ausgeklügeltes Verfahren entwickelt, um alle Anklagen oder Anregungen, Anklage zu erheben, durch Berichtspflichten auf der Ebene, die ich eben nannte, verschwinden zu lassen.
    Wenn das die Rechtsauffassung der Großen, der obersten Rechtshüter in unserem Lande war, dann sollten wir nicht so tun, als wären diejenigen, die an der letzten Stelle ausgeführt haben, die Schuldigen und die oben eigentlich nicht.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Mir ging und geht es darum, daß wir die Gewichte richtig setzen. Ich könnte mich persönlich mit der Aufhebung der Verjährung durchaus einverstanden erklären, wenn eine Regelung gefunden worden wäre, die die unglücklichen Entwicklungen vermieden hätte, die wir jetzt zu beklagen haben.
    Ich rufe es hier vor der Öffentlichkeit und vor diesem Hohen Hause in unser aller Bewußtsein: was das wohl für ein gutes Recht ist, nach dem derjenige — mit lebenslanger Strafe bedroht — als schwerer Totschläger, als vorsätzlicher Töter in besonders schwerem Fall eine lebenslange Freiheitsstrafe erhalten kann, gegebenenfalls erhalten muß, die Verjährung seiner Tat aber auf 20 Jahre festgeschrieben ist, während derjenige, der Beihilfe zu einem Mord geleistet hat, mit einer Höchststrafe von 15 Jahren bedroht wird, aber seine Strafe verjährt — was wir heute beschließen — nie. Das halte ich nicht für ein gutes Recht.
    Ein damals 20jähriger Jugoslawen-Deutscher, kaum der deutschen Sprache mächtig, der auf einem Marsch mit einem anderen zusammen einen Häftling, der aus der Reihe sprang — warum?, niemand weiß es mehr — erschoß, ist deshalb in diesen Jahren, weil die Tat erst nach 1970 bekanntgeworden ist, mit 2 1/2 Jahren Jugendstrafe bestraft worden. Bis 1948 war er in amerikanischen Lagern, weil er bei der SS — eingezogen zur SS — gewesen ist. Nachher hatte er eine Familie gegründet und im Bergbau gearbeitet. In seinem 52. Lebensjahr wurde er angeklagt und ist jetzt im 53./54. Lebensjahr endgültig verurteilt worden. Nunmehr muß er als Arbeitsinvalide die Kosten des Verfahrens zahlen; das ist viel. Wenn das unseren Rechtsvorstellungen für die Zukunft entspricht — nun gut, die Mehrheit will das so. Ich sage für die Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion: das meinen wir nicht, wenn wir von Mord und Mordverjährung reden. Wir möchten diese Dinge in der Zukunft möglichst nicht mehr vor dem Forum des Gerichts haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Da gibt es solche Urteile und andererseits Freisprüche. Jemand, der auf der Rampe gestanden und die Kräftigen ins Lager zum Arbeiten — vielleicht zum Totarbeiten —, die anderen in die Gaskammer geschickt hat, wird nur wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord verurteilt. Aber der, der unmittelbar an der Gaskammer stand — ein Unteroffizier, ein Gemeiner —, der wird als Mörder bestraft. Das ist der Unterschied in unserem Recht, und hier könnte für die Zukunft eine Heilung durch den Eintritt der Verjährung entstehen. Unsere Justiz wird nie und nimmer vom Ausland verstanden, wenn der eine als Mörder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft wird und der andere, der Arzt und Offizier oder SS-Führer war, mit zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Jahren Gefängnis bestraft wird.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Oder überhaupt nicht!)

    — Oder überhaupt nicht. — Das versteht niemand. Wer noch höher war, im Büro war — wir werden das spätestens in zwei Jahren auch wissen, denn ein solches Verfahren läuft —, der wird entweder überhaupt nicht bestraft oder das Verfahren wird eingestellt oder erst gar nicht eröffnet. Durch solche Dinge kommt unsere Justiz in ein völlig falsches Licht und über die Justiz unser Staat. Ich meine, wir sollten solchen Schaden von unserem Staate abwenden.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Es kommt hinzu, daß in diesen Wochen der „Spiegel" einen Fortsetzungsbericht über das ehemalige Kriegsgefangenenlager Lamsdorf in Oberschlesien bringt, das nach dem Kriege ein Lager für Deutsche gewesen ist. Hierzu haben unsere Staatsanwälte ein langes Ermittlungsverfahren geführt, das zu bestimmten Ergebnissen gekommen ist. Die Bundesregierung lehnt es ab — zumindest sagt das der Parlamentarische Staatssekretär —, die Akten nach Polen zu senden, weil das die politischen Verhältnisse stören könnte, obwohl die Täter in diesem Falle Polen und die Opfer Deutsche sind. Auf die Frage hier im Plenum in der Fragestunde hat der Herr Staatssekretär de With gesagt, es sei auch unzweckmäßig, die Akten oder ähnliches nach Polen zu senden oder dort um eine Strafverfolgung nachzusuchen, denn in Polen seien diese Taten verjährt. Das ist richtig. Wie das in anderen Ländern aussieht, haben wir ja in unseren Bericht des Rechtsausschusses geschrieben. Wie deutlich Verjährungselemente in das Recht eingreifen, wissen wir, denn während



    Erhard (Bad Schwalbach)

    dieser Beratungen des Rechtsausschusses fiel die Entscheidung des obersten brasilianischen Gerichtshofes, den früheren Spieß in einem der Vernichtungslager, Wagner, nicht an die Bundesrepublik auszuliefern.
    Ich meine, daß wir mit diesen beiden Entscheidungen und der Tatsache, daß das Ausland einen politischen Druck auf uns ausübe, was wir heute auch gehört haben, schlecht beraten sind, innere Rechtspolitik zu machen oder gar strafrechtliche Entscheidungen zu treffen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die politischen Rücksichten sollte man als Politiker, auch als Parlament selbstverständlich nicht vergessen. Ich habe immer zugestanden, daß Rücksichten genommen werden sollen. Ich bin aber nicht bereit, das Rechtsbewußtsein unserer Bevölkerung anders zu werten als das Rechtsbewußtsein über unsere Grenzen hinaus und im internationalen Bereich. Wenn wir immer wieder von einem internationalen Rechtsfrieden gesprochen haben, Herr Professor Maihofer, dann muß dieser internationale Rechtsfrieden für alle gleichmäßig gelten und nicht nur so, daß wir Deutschen die Bösen und die anderen die Guten sind.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Ich wünschte mir von einer anderen Entscheidung ein kleines, kleines Stückchen mehr an erkennbarer Gerechtigkeit in unserem Volk und nicht die Möglichkeit, auf uns, das Parlament, und damit auf die Führung in diesem Staate mit dem Finger zu zeigen und zu sagen: Vor Ausländischen habt ihr euch gebeugt und unsere Eigenen in die Pfanne gehauen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Mehr Gerechtigkeit erfordert, daß man den Tätern, den Uniformierten, den in einem Zwangsstaat in ein System eingespannten Letzten, nicht den Großen, so viel an Gerechtigkeit widerfahren läßt, wie es ihre Situation und daraus resultierend ihre Schuld rechtfertigt. „Gerechtigkeit erhöht ein Volk", hat der Bundespräsident Heuss bei seinem Amtsantritt gesagt, und unser jetziger Bundespräsident, Professor Carstens, hat das Wort für sich aufgegriffen. Gerechtigkeit erhöht ein Volk: Ungerèchtigkeit, meine sehr verehrten Damen und Herren, auch wenn sie nur in relativ wenigen Fällen deutlich wird, muß dann das Volk erniedrigen.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Mattick [SPD] : Unerhört!)

    Ein Pole namens Wojtyla, der jetzt Papst Johannes Paul II. ist, hat mit Recht von den schrecklichen Verbrechen und dem Haß, der in Auschwitz sichtbares Zeichen geworden ist, gesprochen. Er wurde heute zweimal zitiert. Ich zitiere ihn auch. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Papst Johannes Paul warnte vor der „Bedrohung des Menschen durch den Menschen". Ich zitiere wörtlich:
    Es genügt, ihn
    — den Menschen —
    in eine andere Uniform zu stecken — ich wiederhole das: .,... in eine andere Uniform zu stecken" —,
    ihn mit dem Gerät zur Gewalt und mit den Mitteln der Vernichtung auszurüsten. Es genügt, ihm eine Ideologie aufzuzwingen, in der das Recht der Menschen den Bedürfnissen des Systems bedingungslos untergeordnet ist, so daß faktisch das Recht des Menschen nicht mehr existiert.
    Das ist nicht nur im schrecklichen Terrorstaat der Nationalsozialisten in unseren Landen so gewesen, das war in anderen Ländern vorher, und das ist in manchen Ländern heute so. Das sollten wir nicht vergessen.
    Wenn wir jetzt zur Endabstimmung schreiten, bitte ich alle Kolleginnen und Kollegen, sich das, wenn sie können, noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Ich bitte Sie auch angesichts der dritten Lesung: Machen Sie diesen Weg, bei dem ich vielen den guten Willen nicht abspreche—vielen! —, nicht mit. Ich. bitte Sie um Ablehnung des Gesetzes.

    (Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dürr.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Hermann Dürr


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einem persönlichen Wort an Herrn Kollegen Benno Erhard beginnen. Er möge seinen letzten Satz „Machen Sie diesen Weg, bei dem ich vielen den guten Willen nicht abspreche, nicht mit" überdenken. Das, was mich stört, ist das Wort „vielen". Bitte, setzen Sie bei allen Mitgliedern dieses Hohen Hauses, wie sie auch abstimmen mögen, guten Willen voraus.

    (Beifall bei der SPD, der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Wenn der Bundestag heute die Unverjährbarkeit von Mord beschließt, dann wird die in Zahlen meßbare Auswirkung gering sein. Die Zahl der Anklagen und der Verurteilungen wird nur wenig von dem abweichen, was zu erwarten wäre, wenn es beim geltenden Recht bliebe. Das ist zum großen Teil die Folge davon, daß — wenn auch spät — von der Möglichkeit der Unterbrechung der Strafverfolgungsverjährung Gebrauch gemacht wurde. Von dieser Unterbrechung der Strafverfolgungsverjährung wurde in dieser Debatte relativ wenig gesprochen. Besonders wenig sprachen diejenigen darüber, die es beim geltenden Recht belassen wollen.
    Diese Unterbrechung der Verjährung ist ja keine Unterbrechung im eigentlichen Sinne, wie etwa bei einem Fußballspiel, das in der 28. Minute unterbrochen und in der 28. Minute fortgesetzt wird. Wird die Strafverfolgungsverjährung unterbrochen, dann springt der Zeiger der Uhr auf Null zurück, und die Uhr beginnt neu zu ticken. Das heißt, bei einer Strafverfolgungsverjährung für Mord von jetzt 30 Jahren kann bei Unterbrechung der Verjährung maximal beinahe 60 Jahre Verfolgbarkeit herauskommen. Das unterscheidet sich von der Unverjährbarkeit von Mord in einzelnen Fällen wegen des



    Dürr
    begrenzten Lebens der Täter möglicherweise überhaupt nicht mehr.
    Für die Gerichte werden die Schwierigkeiten bei der Wahrheitsfindung bestehen bleiben, vielmehr weiter zunehmen. Immer öfter werden Zeugen in der Hauptverhandlung keine Aussage mehr machen können, weil sie inzwischen verstorben oder schwer krank sind. Auch bewahrt das menschliche Gedächtnis Wahrnehmungen aus früherer Zeit nicht gleich lange auf. Der Präsident des Bundesgerichtshofs, Gerd Pfeiffer, hat vor dem Rechtsausschuß auf Grund seiner Kenntnis vieler Akten über NS-Gewaltverbrechen ausgeführt, offensichtlich sei es den Zeugen fast unmöglich, nach langer Zeit Einzelpersonen aus einer Gruppe heraus, etwa einem Erschießungskommando, noch in Erinnerung zu behalten, während andere Situationen, in denen ein Täter einem Opfer gegenüberstand, auch heute noch mit fast fotografischer Genauigkeit wiedergegeben werden könnten.
    Daraus folgt mit hoher Wahrscheinlichkeit, daß in Zukunft fast nur noch Fälle zur Hauptverhandlung kommen werden, in denen jemand in der nationalsozialistischen Zeit mehr und Furchtbareres getan hat als das, was ihm im organisiert mordenden Unrechtsstaat anbefohlen war.
    Ist das, was hier ausgeführt wird, ein Aufruf zur Resignation? Nein. Es ist nur eine Warnung vor falschen Hoffnungen, unsere heutige Entscheidung könne es möglich machen, der Gerechtigkeit ein wenig in dem Sinne näherzukommen, daß Gleichschuldige einigermaßen gleich bestraft würden.
    Der Grund, für Unverjährbarkeit von Mord zu stimmen, ist wohl bei allen Befürwortern weniger rechtspolitischer Natur. Für mich ist die entscheidende Frage: Dürfen wir den Opfern und Hinterbliebenen nationalsozialistischer Gewalttaten zumuten, daß nach dem 1. Januar 1980 auch nur einer 'aufstehen und sagen könnte: Ich habe in dieser Zeit gemordet und keine Justiz darf mich deswegen mehr anklagen und verurteilen.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

    Diese Frage kann und muß auch allgemein gestellt werden: Dürfen wir den Hinterbliebenen irgendeines Ermordeten zumuten, daß der Täter nach langer Zeit sagen darf, ihn dürfe nun niemand mehr deswegen zur Verantwortung ziehen?

    (Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Wo sehen Sie denn da den Unterschied zwischen dem Totgeschlagenen und dem Ermordeten?)

    Ich hoffe — und habe nach der letzten Abstimmung Grund dazu —, daß der Bundestag heute beide Fragen mit Nein beantworten wird.
    Es wird — übrigens unabhängig von der heutigen Entscheidung — auch in Zukunft Freisprüche geben, weil das Gericht zwar Ausmaß und Furchtbarkeit der Mordtaten feststellen, den Tatbeitrag einzelner Angeklagter aber nicht mehr individuell nachweisen kann. Im In- und Ausland werden gegen solche Freisprüche Vorwürfe erhoben werden, wie sie auch in der Vergangenheit erhoben worden sind. Soweit sich diese Vorwürfe darauf beziehen, solche Strafverfahren seien zu spät eingeleitet worden, haben wir diese Vorwürfe als berechtigt hinzunehmen. Wir können nicht erwidern, es sei alles und es sei alles rechtzeitig getan worden. Vielleicht ist in früheren Jahrzehnten auch versäumt worden, Fälle, die heute zum Freispruch vom Vorwurf der Täterschaft bei Mord führen, rechtzeitig unter dem Gesichtspunkt der Zugehörigkeit zu einer kriminellen Organisation zu prüfen. Ziel dieser Vorwürfe sollten aber nicht die heutigen Richter — weder die Berufsrichter noch die ehrenamtlichen Richter — sein.

    (Beifall bei der FDP)

    Sie haben — an Gesetz und Recht gebunden — solche Vorwürfe nicht verdient.
    Denken Sie bitte auch daran, daß wir vor eineinhalb Jahrzehnten Beschuldigten und Angeklagten das Recht gegeben haben, ohne Furcht vor Nachteilen im Strafprozeß zu schweigen. Es muß also jede Einzelheit aus dem Jahre 1942 oder 1943 durch andere Beweismittel als die Einlassung des Angeklagten erwiesen werden. Das wird immer schwieriger, je länger die Taten zurückliegen. Das erklärt auch zum Teil die quälend lange Dauer der Strafverfahren.
    Wir dürfen die Gefühle der Hinterbliebenen der Opfer der nationalsozialistischen Mordtaten nicht unbeachtet lassen, wir dürfen auch die Schwierigkeiten nicht übersehen, vor denen Staatsanwälte und Richter vor und in solchen Strafverfahren stehen. Wir müssen aber auch, schon um gefühlsbedingten Mißverständnissen zu begegnen, deutlich sagen: Wegen nationalsozialistischer Gewalttaten verurteilte Personen sind Menschen, keine Symbolfiguren.
    Daraus folgt — das erkläre ich für mich persönlich —, daß Rudolf Heß aus dem Gefängnis in Altenpflege verbracht werden sollte. Hier geht es nicht darum, daß das Urteil zu Recht ergangen ist. Ihn aus Strafhaft zu entlassen erscheint als ein Gebot der Menschlichkeit, aber auch der politischen Klugheit. Denn politisch Unbelehrbare können nur den eingesperrten Rudolf Heß als Märtyrer ansehen, nicht aber einen Mann, der seinem hohen Alter und schlechten Gesundheitszustand entsprechend behandelt wird. Das sollte in dieser Debatte ausgesprochen werden, auch wenn die Entscheidung darüber nicht in deutscher Hand liegt.

    (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen)

    Daraus folgt ferner, daß auch für Personen, die wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen verurteilt worden sind, bei der Prüfung, ob bedingte Entlassung aus der Strafhaft in Frage kommt, die Grundsätze nicht ausgeschlossen sein sollten, die für jeden zu langfristiger Freiheitsstrafe Verurteilten gelten. Das ergibt sich schon aus der Tatsache, daß wir alle bisher aus Überzeugung und zu Recht ein Sonderrecht für NS-Täter stets abgelehnt haben.
    Die heutige Entscheidung des Parlaments darf nicht dahin mißverstanden werden, als würde damit



    Dürr
    die Bewältigung des dunkelsten Kapitels deutscher Vergangenheit unserer Justiz übertragen. Unsere Gerichte können einzelne Sachverhalte aufklären und Einzeltätern strafrechtliche Schuld zumessen, nicht mehr. Die Frage, wie es zum bürokratisch perfekt organisierten Massenmord im Unrechtsstaat kam, wie es dazu kommen konnte, kann kein Gericht beantworten und der Öffentlichkeit erläutern. Diese Darstellung und Erläuterung zu versuchen ist Aufgabe derer, die die Zeit bis 1945 bewußt miterlebt haben. Sie gehören heute der Eltern- oder — meist — Großelterngeneration an. Vergessen wir nicht: 45 % unserer Bevölkerung sind erst nach dem Kriegsende im Mai 1945 geboren worden.
    Die Darstellung dessen, was in der Zeit des Nationalsozialismus geschehen ist, und die Erläuterung, wie es dazu kam, ist ferner Aufgabe derer, die sich mit Geschichte und politischer Bildung befassen. Es genügt nicht, wenn sie den Massenmord im Unrechtsstaat schildern. Auschwitz, Sobibor und Treblinka sind Namen aus den letzten Jahren nationalsozialistischer Herrschaft. Wer wissen will, wie es dazu kam, muß sich mit der Anfangszeit befassen, er muß etwas von der schrittweisen Beseitigung von Demokratie und Rechtsstaat, von den Anfängen der Unterdrückung von Minderheiten wissen. Wer darüber Bescheid weiß, vermag die übrigens zum Teil aus dem Ausland zu uns importierten Ansätze von Neonazismus richtig zu bewerten.
    Wir bemühen uns, dagegen das rechtlich und politisch Erforderliche zu tun. Die Einsicht, daß Neonazismus zur Zeit keine Gefahr für unsere Demokratie darstellt, entbindet uns nicht von der Pflicht zu stetiger Wachsamkeit.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

    Die Kenntnis der Vergangenheit bietet aber keine sichere Gewähr dafür, daß uns Demokratie und freiheitlicher Rechtsstaat in Zukunft erhalten bleiben. Gefahren für die Stabilität der Demokratie drohen nie genau aus derselben Ecke wie vor Jahrzehnten. Meine Großmutter hätte gesagt: Der Teufel kommt nicht zweimal aus demselben Loch.
    Eine Überlegung soll das beispielhaft verdeutlichen. Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre dieses Jahrhunderts war bei großen Teilen der deutschen Jugend ein aus dem Gefühl kommender Kulturpessimismus sehr in Mode, eine verächtliche Distanz zum institutionalisierten, bürokratisierten Staat. Diesen jungen Menschen haben die Nationalsozialisten vorgegaukelt, ihr Staat werde ihnen etwas für ihr Gefühl bieten; im NS-Staat müsse alles ganz anders werden. Der Großteil dieser Jugendlichen ließ sich davon blenden, marschierte mit oder sah zumindest widerspruchslos zu, wie langweilig zu lesende, gar nicht das Gefühl bewegende Vorschriften etwa der Weimarer Verfassung hinweggefegt wurden, Vorschriften, die in Wirklichkeit die Freiheit der Bürger geschützt hatten.
    Warum berichte ich darüber, wo doch jedermann weiß, daß Bonn nicht Weimar ist? Weil es heute unsere Aufmerksamkeit erregen sollte, wenn immer mehr junge Menschen erklären, sich nicht an Wahlen beteiligen zu wollen, weil die in der Politik Agierenden doch alle gleich seien. Wer erklärt, zwischen Franz Josef Strauß, Willy Brandt und anderen keinerlei Unterschied mehr sehen zu können, und wer sie alle ablehnt, der sollte sich fragen, ob sein Gefühl in der Ablehnung demokratischer Politiker sich nicht dem Punkt nähert, an dem er die Demokratie als ablehnenswürdig abschreibt.
    Eine Demokratie ist am stabilsten und am besten vor der Gefahr irgendeines Totalitarismus gesichert, wenn sich ein möglichst großer Teil der Bevölkerung, insbesondere der jüngeren, mit dem demokratischen Staat identifizieren kann und ihn als seinen Staat ansieht. Das macht das Gespräch zwischen den Generationen so wichtig für die Sicherung unserer Demokratie. Darüber sprechen, welche Gefühle und Einstellungen vielen jungen Menschen die Identifizierung mit unserem Staat derzeit erschweren und möglicherweise ihre geistige Widerstandskraft gegen Einflüsterung von Demogogen herabsetzen, das ist, wie mir scheint, eminent wichtig. Dieses Gespräch mit gemeinsamer Blickrichtung in die Zukunft ist schwer, aber wichtiger als mancher Gesetzgebungsakt.
    In diesem Bemühen um Sicherung unserer Demokratie sind wir alle, wie wir heute in dieser Frage auch abgestimmt haben und abstimmen werden, uns einig.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)