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ID0816605300

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    Plenarprotokoll 8/166 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 166. Sitzung Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 Inhalt: Abweichung von § 60 Abs. 2 GO bei der Beratung der Verjährungsvorlagen . . . 13233 A Eintritt des Abg. Besch in den Deutschen Bundestag für den ausgeschiedenen Abg Carstens (Fehmarn) 13290 A Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung . 13233 B Beratung des Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Hermann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen Unverjährbarkeit von Mord zu der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord zu dem von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurf eines Achtzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes — Drucksachen 8/2539, 8/2616, 8/2653 (neu), 8/3032 — in Verbindung mit Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Achtzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes — Drucksache 8/2653 (neu) — in Verbindung mit Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Her- II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 mann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen Unverjährbarkeit von Mord — Drucksache 8/2539 — in Verbindung mit Beratung der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord — Drucksache 8/2616 — Dr. Mertes (Gerolstein) CDU/CSU . . . . 13234 A Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD . . . . 13239 B Kleinert FDP 13243 C Hartmann CDU/CSU 13247 C Dr. Vogel (München) SPD . . . . . . 13252 A Gattermann FDP . . . . . . . . . 13254 C Gerster (Mainz) CDU/CSU . . . . . . 13257 B Dr. Dr. h. c. Maihofer FDP . . . 13260 A, 13292 A Dr. Emmerlich SPD . . . . . . . 13265 B Helmrich CDU/CSU 13268 A Sieglerschmidt SPD 13269 C Frau Matthäus-Maier FDP . . . . . . 13272 B Dr. Lenz (Bergstraße) CDU/CSU 13274 D Dr. Weber (Köln) SPD 13277 D Ey CDU/CSU 13281 C Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 13282 B Blumenfeld CDU/CSU 13285 C Cronenberg FDP 13287 B Dr. Bötsch CDU/CSU . . . . . . . . . 13288 A Erhard (Bad Schwalbach) CDU/CSU . . . 13294 B Dürr SPD 13296 C Engelhard FDP 13298 D Dr. Gradl CDU/CSU 13301 A Thüsing SPD 13303 A Dr. Wendig FDP 13305 D Namentliche Abstimmungen . . 13290 A, 13292 B, 13308 A, 13311 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Sechsten Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes — Drucksache 8/3027 — Pfeifer CDU/CSU . . . . . . . . . . 13308 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Gesetz zur Neufassung des Umsatzsteuergesetzes und zur Änderung anderer Gesetze — Drucksache 8/3028 Westphal SPD 13309 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Gesetz zur Änderung des Gesetzes über technische Arbeitsmittel und der Gewerbeordnung — Drucksache 8/3029 — Jahn (Marburg) SPD 13313 B Nächste Sitzung 13313 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 13315* A Anlage 2 Erklärung des Abg. Dr. Penner (SPD) nach § 59 GO zu Punkt 1 der Tagesordnung . . 13315*A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 13233 166. Sitzung Bonn, den 3. Juli 1979 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich Dr. Arnold 4. 7. Bayha 4. 7. Dr. Böhme (Freiburg) 4. 7. Büchner (Speyer) * 4. 7. Dr. Dübber 3. 7. Dr. h. c. Kiesinger 4. 7. Koblitz 4. 7. Dr. Müller ** 4. 7. Picard 4. 7. Scheffler ** 4. 7. Frau Schlei 4. 7. Dr. Schmitt-Vockenhausen 4. 7. Spilker 4. 7. Volmer 4. 7. Walkhoff 4. 7. Dr. Wulff 4. 7. Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Dr. Penner (SPD) nach § 59 GO zu Punkt 1 der Tagesordnung Ich stimme einer angestrebten Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord nicht zu. Ich bin der Meinung, daß sich das abgestufte System der Verjährungsfristen im Strafgesetzbuch, in das auch schwerste Straftaten wie Mord einbezogen sind, bei allen eingeräumten Unzulänglichkeiten bewährt hat. Die zeitliche Begrenzung der staatlichen Verfolgungspflicht für Straftaten beruht auch auf der Erkenntnis, daß die Möglichkeiten der Wahrheitsfindung im Strafprozeß um so brüchiger und fragwürdiger werden, je mehr Zeit zwischen Tat und Ahndung verstrichen ist. Ich halte es daher für richtig und auch geboten, wenn der Gesetzgeber diese Regelerfahrung gesetzlich absichert und damit den Strafverfolgungsorganen eine Pflicht abnimmt, der sie auch bei bestem Wollen und Können nicht gerecht werden können. Hinweise auf ausländische Rechtsordnungen und frühere deutsche und romanische Rechtsinstitute halte ich für bemerkenswert, aber für nur bedingt aussagekräftig, da bei einem Vergleich die gesamten Verfahrensordnungen mit allen Möglichkeiten und Hemmnissen besonders des Beweisrechts gegenüber gestellt werden müssen. Der Anlaß für die Initiative ist ebenso beklemmend wie säkulär. Es geht nicht einfach um eine Neufassung des Verjährungssystems, es geht um die Frage, ob besonders Mordtaten der NS-Zeit über gesetzliche Verjährungsvorschriften einer Strafverfolgung entzogen sein können oder nicht. Das Für und Wider ist in den bewegenden Debatten der 60er * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlagen zum Stenographischen Bericht Jahre und in den Diskussionen aus jüngster Zeit engagiert, behutsam und sorgfältig beleuchtet worden. Ich bin aber der Meinung, daß es statthaft sein darf, bei der Entscheidung auch berufsbedingte Erfahrungen miteinzubeziehen, die mehr die praktische Auswirkung der Gesetzesänderung betreffen. Ich neige mehr und mehr zu der Auffassung, daß der in den 60er Jahren beschrittene Weg der Ausdehnung der Verjährungsfristen nicht richtig gewesen ist. Dabei will ich nicht verschweigen, daß ich dies seinerzeit anders gesehen habe. Aber im Verlaufe einer beruflichen Tätigkeit, bei der ich mit der Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen zu tun hatte, sind mir zunehmend Zweifel gekommen. Und das, obwohl die nazistische Wirklichkeit mit Genozid, mit Vernichtungs- und Konzentrationslagern, mit Massen- und Einzelmorden durch Akten und Zeugenaussagen erdrückend bestätigt wurde. Aber im Strafprozeß geht es nicht allein um Tatgeschehen, sondern auch um persönliche Verantwortung, um Schuld. Der Nachweis individueller Schuld war schon früher aus vielerlei Gründen kaum oder gar nicht möglich. Das ist auch nach der Erweiterung der Verjährungsfrist auf 30 Jahre noch problematischer geworden. Nicht nur statistische Hinweise geben darüber Aufschluß. Selbst das deutsch-französische Rechtshilfeabkommen des Jahres 1971, das die Verfolgungssperren des Überleitungsvertrages für deutsche Behörden lockerte, hat die strafrechtliche Bewältigung der Judendeportationen aus Frankreich nicht unterstützen können, wie man hört. Ich bin der Meinung, daß unter den gegebenen Umständen die Beibehaltung des geltenden Verjährungsrechts verantwortet werden kann. Nach meiner Erfahrung dürfte die Entdeckung neuer Sachverhalte mit der Folge strafrechtlicher Verurteilung zwar nicht ausschließbar, aber nahezu ausgeschlossen sein. Aller Voraussicht nach wird ein berechtigtes Sühnebedürfnis nicht mehr gestillt werden können. Daher halte ich es aus meiner Sicht nicht für erträglich, Zeugen, die Schwerstes erlitten und durchlitten haben, den Lasten und Beschwernissen, ja den Qualen von Vernehmungen über die gegebenen Unumgänglichkeiten hinaus auszusetzen. Daß nach Eintritt der Verjährungsfrist unentdeckte NS-Mörder sich ihrer Untaten öffentlich rühmen könnten, ist eine theoretische Möglichkeit, hat aber mit der Verjährungsproblematik nichts zu tun. Für schon Abgeurteilte oder außer Verfolgung gesetzte NS-Täter sind eher Stichworte wie „Leugnen", „Verkleinern", „Es war eben Krieg" und in Einzelfällen auch Reue kennzeichnend. Eine Neigung zu öffentlicher Erörterung dieser Vergangenheit besteht bei diesem Tätertyp nach den bisherigen Erfahrungen hingegen kaum. Für die Zukunft muß eine stetig zunehmende Zahl von Fehlbeurteilungen der Strafverfolgungsorgane befürchtet werden. Das wird für die schon anhängigen Verfahren unumgänglich sein. Die Gründe lie- 13316* .Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 gen durchweg in der Beweisnot der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Die Aufhebung der Verjährungsfrist hätte zur Folge, daß zu allen neuen Vorgängen materielle Entscheidungen über Schuld oder Unschuld erforderlich würden. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß diese durchweg Einstellungsverfügungen und Freisprüche sein werden. Ich hielte das für bedrückend, weil mit diesen staatlichen Akten, deren Qualität nicht anders ausfallen kann und wird, Geschichtslegenden gebildet und unterstützt werden können. Aus meiner Sicht ist daher das aus dem geltenden Recht folgende Offenhalten der strafrechtlichen Schuldfrage nach Ablauf der Verjährungsfrist auch der politische richtige Weg. Ich weiß, daß diese Überlegungen nur einen Teil der Fragen und Bedrängungen ausmachen. Für mich sind sie entscheidend. Eine neue gesetzliche Regelung muß sich auch an ihren Möglichkeiten und Grenzen messen lassen. Dem Anspruch der Opfer, der Betroffenen auf sühnende Gerechtigkeit kann nicht über eine Ausweitung des Verjährungsrechts Genüge geschehen. Ich meine, daß dies auszusprechen auch zur parlamentarischen Verantwortlichkeit gehört. Ich wage es daher, nein zu sagen.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hildegard Hamm-Brücher


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Kollege, ich bin dazu gern bereit. Aber ich habe sorgfältig zugehört, und ich muß sagen: ich war von Ihren diesbezüglichen Bemerkungen enttäuscht.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Auf beiden Seiten!)

    — Das kann immer mal passieren. Das schließt ja nicht aus, daß wir einander schätzen.
    Mich erfüllt allein der heiße Wunsch und die ungebrochene Überzeugung, die mich über 30 Jahre politischer Arbeit immer von neuem motiviert hat, nämlich: Das, was im nationalsozialistischen Unrechtsstaat geschehen ist, darf niemals wieder geschehen. Deshalb müssen wir es in Denken und Handeln im politischen Leben und mit allen uns zu Gebote stehenden Konsequenzen austragen. Erlauben Sie mir deshalb, meine wichtigsten Gründe für mein Votum noch einmal zusammenzufassen.
    Wer, wie ich, die Nachkriegszeit als junger Mensch sehr bewußt als Nach-Hitler-Zeit im Sinne der Umkehr, der Buße und des neuen Anfangs verstehen wollte, der wurde doch wohl zunächst tief enttäuscht. Ich habe darunter gelitten, meine Damen und Herren — und das ist nun ein sehr ungeschütztes persönliches Geständnis —, daß wir nach 1945, unabhängig von einer falsch angelegten vordergründig-formalen Entnazifizierung, nicht entschieden genug an die Wurzeln des Übels herangegangen sind,

    (Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Sehr gut!)

    und daß der rasche materielle Aufbau den mühsamen und schmerzlichen Prozeß der überfälligen Katharsis unerlaubt abgekürzt, ja verdrängt hat.

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD und der CDU/CSU)

    Dieses uns heute immer wieder entgegenschallende „Es muß endlich einmal Schluß sein" tönte einem schon Anfang der 50er Jahre entgegen. Von der Aufarbeitung in Schule und Gesellschaft war wenig zu spüren; das überließ man wenigen Politikern, Wissenschaftlern, Theologen und Schriftstellern. Es
    war für mich kein Zufall, daß seit Ende der 50er Jahre und in den 60er Jahren eine NPD und andere rechtsradikale Organisationen Zulauf bekamen. Es war leider auch kein Zufall — was heute gottlob gar nicht mehr möglich wäre —, daß ein Mann jahrelang Kultusminister in einem großen Bundesland sein konnte, der in seinen Schriften beispielsweise die Tätigkeit der Geheimen Staatspolizei legalisiert hatte und der solche lächerlichen Scheußlichkeiten wie die Trennung von Juden und Ariern auf Parkbänken und die Trennung von Juden und Ariern in Schwimmbädern tatsächlich rechtlich gerechtfertigt hat.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Meinen Sie einen Kultusminister der FDP?)

    Erst während des letzten Jahrzehnts haben wir schrittweise wirklich begonnen, uns mit den Wurzeln des nationalsozialistischen Unrechts zu beschäftigen, hierbei auch die steigende Anteilnahme der Bevölkerung gefunden und, wie Alexander Mitscherlich es in dem so wichtigen Buch „Die Unfähigkeit zu trauern" beschrieben hat, notwendige und allfällige Trauerarbeit geleistet.
    Ich erinnere an diese vielen enttäuschenden Entwicklungen heute im Zusammenhang mit der Verjährungsdebatte nicht, um Wunden aufzureißen, sondern weil ich einfach bewußtmachen möchte, daß es nicht eine sozusagen lückenlose Abrechnung und Bewältigung mit der Zeit des Nationalsozialismus gegeben hat, und weil ich nicht möchte, daß mit der heutigen Debatte wieder neue Tabus errichtet werden.
    Es geht für mich auch darum, mit dieser Erklärung ein weiteres Stück Glaubwürdigkeit zu gewinnen und auf diese Weise einer dauerhaften Versöhnung und Verständigung vor allem mit der jungen Generation den Boden zu bereiten. Nachdem dieser Prozeß gerade erst eingesetzt hat, sollten wir ihn nicht abreißen lassen.
    Damit bin ich noch einmal bei der jungen Generation. Ist es schon schwer, das Phänomen der Faszination des Nationalsozialismus für die meisten Deutschen der 30er Jahre dieser jungen Generation zu erklären, so erweist sich die Rechtfertigung der Nachkriegsmentalität — des Vergessenwollens, des Verdrängens, der auschließlich materiellen Befriedigung und der offenkundigen Unfähigkeit zu trauern — als noch schwieriger. Der ohnehin natürliche und immer wieder notwendige Generationskonflikt wird hier zu einer Zerreißprobe. Während früher die Söhne den oft aufgeputzten Erzählungen ihrer Väter über deren Heldentaten atemlos gelauscht haben, erzählen heute die Väter ihren Söhnen kaum noch etwas. Sie schweigen, weil sie vieles einfach nicht erklären können. Ich meine deshalb: wir sollten weder idealisieren noch verschweigen, wie es nach 1945 gelaufen ist und warum es wohl auch nicht anders laufen konnte. Wir sollten der jungen Generation reinen Wein über die Bedingungen einschenken, unter denen wir damals anfangen mußten. Wir sollten offen über unsere Bemühungen, Erfahrungen und Enttäuschungen Rechenschaft ablegen. Denn gerade — Walter Scheel hat es einmal vor Tübinger Studenten gesagt — das Unfertige,



    Frau Dr. Hamm-Brücher
    das Verbesserungsfähige, das immer von neuem Mögliche erzeugt die Schwungkraft unserer Demokratie. Demokratie ist immer auf dem Wege zu sich selbst, sie ist niemals fertig. Dafür brauchen wir die kritische Sympathie und die Mitarbeit der jungen Generation.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ich habe mehr als einmal erlebt — gerade wieder auf dem Evangelischen Kirchentag in Nürnberg —, daß auf diesem Wege durch eine schonungslose Offenheit und durch das tapfere Bemühen um einen neuen Anlauf zum Verstehen von beiden Seiten wirklich weiter geholfen werden kann.

    (Glockenzeichen des Präsidenten)

    — Herr Präsident, bitte erlauben Sie mir, noch eine weitere Bemerkung zu machen. Ich glaube, ich habe die Aufmerksamkeit des Hohen Hauses noch nicht so lange in Anspruch genommen wie meine Vorredner.
    Ich möchte noch einmal auf den Ausspruch von Papst Johannes Paul II. zurückkommen: Auschwitz, das ist das Golgatha des 20. Jahrhunderts. Es wurde hier gesagt und ich möchte es für meine Person wiederholen: Das Golgatha des 20. Jahrhunderts, es kann nicht verjähren, unabhängig davon, für welche strafrechtliche Regelung wir uns entscheiden. Aber hier zeigt sich, daß der Begriff Verjährung über das Strafrecht hinaus für jeden Menschen symbolische, moralische, ja religiöse Bedeutung hat. Hier liegt wohl auch die Gewissensentscheidung. Wir wissen heute, daß das Bild des unschuldig Gekreuzigten auf Golgatha nicht nur über den Millionen durch Rassenwahn und Menschenhaß geschundenen, ermordeten und vergasten Menschen steht. Wir erfahren voller Verzweiflung, daß Hitlers Saat wieder und wieder aufgeht, in Massen- und Völkermorden, in Terror und auch in einer zunehmenden Brutalität und Menschenverachtung gegenüber dem einzelnen Menschenleben. Damit dürfen wir uns doch nicht abfinden! Golgatha ist überall, wo das geschieht. Wir müssen dem ein deutliches Zeichen entgegensetzen, einen kategorischen, einen moralischen Imperativ: Mord darf in der Welt zunehmender Menschenverachtung nicht mehr verjähren.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Wir leben in einer Welt, die sich zunehmend brutalisiert. Die von Albert Schweitzer und vielen anderen Mahnern geforderte „Ehrfurcht vor dem Leben" — wo ist sie? Sie nimmt doch offensichtlich ab. Von Irland bis Vietnam und vom faschistischen bis in den kommunistischen Machtbereich, überall werden Menschenrechte gröblich verletzt, und mörderische Untaten bleiben ungesühnt. Sind wir angesichts dieser Entwicklungen wirklich für alle Zeit vor allen Rückfällen gefeit? Nach allem, was geschehen ist, nach allem, was noch geschehen kann — wir sollten hier ein Zeichen setzen: Du sollst nicht töten! Zum Vollzug dieses Gebots gehört für mich sowohl die Ächtung der Todesstrafe wie auch die Unverjährbarkeit von Mord, aber auch die Humanisierung des Begnadigungsrechts für lebenslänglich verurteilte Mörder.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Aus den eben genannten Gründen, sehr verehrte Kollegen, sollten wir meines Erachtens anläßlich der 30. Wiederkehr unseres demokratischen Neubeginns und der Gründung unseres freiheitlichen Rechtsstaates dieses unmißverständliche Zeichen als Mahnung, aber zugleich auch als Warnung setzen.

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD und der CDU/CSU)



Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat Herr Abgeordneter Blumenfeld.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Erik Bernhard Blumenfeld


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kurz vor Schluß der zweiten Lesung möchte ich noch versuchen, einen Gedanken und eine Dimension in die Debatte einzuführen, die zwar von einigen meiner Kollegen heute früh — so von Herrn Mertes, Kollegen Gerster und auch vom Kollegen Sieglerschmidt — angesprochen worden ist, aber nicht vertieft wurde. Ich will dies auch nicht über Gebühr strapazieren. Das ist die europäische, die außenpolitische, die moralisch-politische Seite unserer Diskussion und des Themas, mit dem wir uns beschäftigen und über das wir abstimmen werden.
    Wir haben vom Rechtsausschuß verdienstvollerweise auch eine kurze Stellungnahme über die Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord vorgelegt bekommen. Dabei hat der Rechtsausschuß darauf hingewiesen, daß es sich um zwei Tatbestände handelt, nämlich einmal die Aufforderung an die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, bei Kriegsverbrechen und solchen Verbrechen, die , während der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus begangen wurden, die Verjährung nicht eintreten zu lassen, soweit es sich bei diesen Taten um Völkermord oder Mord handelt, und zweitens die Aufforderung, das Europäische Übereinkommen über die Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen vom 25. Januar 1974 zu unterzeichnen.
    Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich kann nicht umhin, darauf zu verweisen, daß es jemandem, der wie auch andere in diesem Hause seit Jahrzehnten in der europäischen Politik und im außenpolitischen Bereich tätig ist, daß es eigentlich jedermann in diesem Hause zu denken geben muß, daß das Europäische Parlament unter Punkt 1 und als Grundlage seiner Entschließung darauf abgehoben hat, daß es die Kriegsverbrechen und die Verbrechen während der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus gewesen sind, die das Europäische Parlament und damit die Gemeinschaft von 250 Millionen Menschen veranlaßt haben, auf diese Frage in ihrer ganzen politischen und moralischen ebenso wie rechtspolitischen Gewichtigkeit zurückzukommen. Ebenso wichtig erscheint mir, daß das Europäische Parlament darauf hingewiesen hat, daß auch die Auslieferung von Beschuldigten an Län-



    Blumenfeld
    der ohne Verjährung verhindert würde, wenn die Verjährung von Mord und Völkermord nicht aufgehoben würde.
    Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wie wollen wir Deutschen uns eigentliche — ich habe dies hier vor einem Monat ebenso wie andere Redner in der Debatte zum Ausdruck gebracht — draußen im europäischen Bereich für die Ahndung der Verbrechen, die an den Deutschen begangen worden sind, einsetzen, wenn wir durch einen Beschluß, es bei der Verjährung zu belassen, diese Verbrechen bei uns nicht zur Strafverfolgung freigeben und nicht aburteilen lassen?

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

    Das ist für mich ein ungemein wichtiger politischer Gesichtspunkt. Ich kann Ihnen nur sagen, daß meine Kollegen und ich angesichts der Unzahl von Gesprächen, die wir im Bereich Europa, in Amerika, in Israel, in Teilen Afrikas und im osteuropäischen Bereich — soweit man dort solche Gespräche führen kann — geführt haben, uns darüber klargeworden sind, wie stark unsere Position angehoben wird, wenn wir hier mit gleichem Maße messen und auch für uns das gelten lassen, was wir von anderen fordern. Deswegen meine ich, daß diese moralisch-politische Position hier heute von uns und von jedem einzelnen, der nachher abzustimmen hat, auch noch einmal bedacht werden muß.
    Lassen Sie mich eines hinzufügen. Frau HammBrücher, Sie haben hier eben als Nichtjuristin gesprochen; ich bin auch Nichtjurist. — Frau Kollegin Hamm-Brücher, darf ich Ihr Ohr einen Moment erreichen? — Ich nehme Ihr Wort vom Besuch des Papstes in Polen und in Auschwitz auf. Ich glaube, ich kann das, wenn Sie so wollen, mit besonderer Autorität tun, denn der Papst hat auf einem Gelände gesprochen, auf dem ich einige Jahre als Häftling verbracht habe; daher kenne ich das alles. Der Papst hat in dieser ergreifenden gewaltigen Kundgebung an Hunderte von Millionen von Zuhörern in der ganzen Welt diese moralische Frage nicht nur gestellt, sondern sie auch beantwortet. Wollen wir vor dem Hintergrund dieses großen geschichtlichen Ereignisses des Papstbesuches in einer solchen Stunde, angesichts dieser Dimension hier in diesem Hause verzagen bzw. uns angesichts dieser geschichtlichen Stunde als nicht wirklich reif erweisen?

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

    Ich wiederhole das, was ich hier vor vier Wochen erklärt habe, mit dem großen Respekt vor der Meinung der andersdenkenden Kollegen quer durch dieses Haus, aber natürlich insbesondere an meine Kollegen in der eigenen Fraktion gerichtet. Ich habe nicht nur Respekt, sondern auch Verständnis für Ihre Haltung. Ich vertrete Ihre Haltung, lieber Herr Kollege Mertes und lieber Herr Kollege Erhard, auch draußen in Europa, in Israel, in den Vereinigten Staaten, so wie sie hoffentlich auch die meine und die unsere vertreten.

    (Katzer [CDU/CSU]: Sehr gut!)

    Aber lassen Sie mich Ihnen noch einmal sagen, daß wir das mit rechtspolitischen und mit rein rechtstraditionalistischen, im deutschen Rechtsbewußtsein — wie es hier immer wieder vorgetragen wird — verwurzelten Gedankengängen nur sehr schwer anderen Völkern, anderen Menschen draußen verständlich machen können.

    (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)

    Das ist für mich und für die meisten meiner Kollegen keine Richtschnur für die Abstimmung, für die eigene Gewissensentscheidung, wohl aber ist es eine ganze wesentliche Frage für unsere zukünftige politische Position bei vielen schwierigen Problemen, die in den kommenden Jahren noch auf uns zukommen werden.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

    Glauben Sie ja nicht, daß das Kapitel erledigt sei. Frau Kollegin Hamm-Brücher hat darauf verwiesen, daß, nicht in diesem Hause, aber in einem ziemlich breiten Bereiche unseres Volkes, auch unserer jungen Generation, das Wort vom „Nun mal endlich Schluß machen mit dem ..." und „Wir wollen einen Schlußstrich unter die Geschichte ziehen" umgehe — gemeint ist nicht nur die Geschichte der Vergangenheit, sondern damit ist auch die Geschichte der Zukunft impliziert. Dem gilt es mit unserem Votum entgegenzuwirken.
    Kollege Gerster hat heute früh in seiner bernerkenswerten Rede gesagt, daß rechtspolitisch die Entscheidungen von 1965 und 1969 eine Bestätigung des Rechtsinstituts der Verjährung gewesen seien, während sie faktisch als zeitlich begrenzte Aufhebungen der Verjährung verstanden worden und — so hat er hinzugefügt — gewollt gewesen seien. Das ist richtig wiedergegeben, Kollege Gerster. So war es. Ich habe daran teilgenommen, wie eine ganze Reihe der Kollegen, die noch heute hier im Plenum mit uns abstimmen werden.
    Aber Sie haben auch hinzugefügt: Wer denn ausschließen wolle, daß bisher unbekannte Mörder noch auftauchten. Die Fristverlängerung habe somit ihr Ziel verfehlt.
    Ich widerspreche hier ausdrücklich der Behauptung, daß jemand, der 1965 und 1969 so votiert habe, wie wir votiert haben, heute nicht gegen die Aufhebung der Verjährungsfrist votieren könne.
    Meine Damen und Herren, für mich sind zwei Dinge maßgeblich — und die können Sie niemandem hier und auch nicht draußen im Volke erklären; keiner der Juristen kann das —:
    Erstens. Es kann nicht erklärt werden, daß das verfassungsrechtlich nicht in Ordnung wäre, was hier vorgeschlagen wird, die Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord, nachdem wir sie für Völkermord schon aufgehoben haben. Es wird doch wohl darauf rekurriert: keine Strafe ohne vorheriges Gesetz. Richtig. Aber die Verjährung betrifft

    . 13287

    Blumenfeld •
    die Verfolgbarkeit und nicht die Strafbarkeit, die hier seit eh und je gegeben war. Darum geht es.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

    Wir sind uns darüber im klaren, daß die Unverjährbarkeit von Mord der Justiz eine weitere Last auferlegen wird. Auch könnte mit wachsendem zeitlichem Abstand zu den Taten die Zahl der Freisprüche zunehmen, wie wir wissen, was vor allem für die Opfer des NS-Regimes, aber auch für nicht unerhebliche Teile unserer Bevölkerung, insbesondere für die jüngere Generation, unbegreiflich wäre. Diese Folge unseres rechtsstaatlichen Gerichtsverfahrens haben wir zu tragen, meine Damen und Herren. Das ist eben die Konsequenz eines rechtsstaatlichen Verfahrens in einer freiheitlichen Demokratie. Dazu müssen wir stehen.
    Zweitens: Mir hat noch niemand — kein Jurist, Herr Kollege Lenz, und sei er noch so bedeutend — erklären können, was eigentlich der Unterschied zwischen der Beweisnot des Gerichts infolge der Unterbrechung der Verjährung — die auch ich sehe und von der ich weiß; denn auch ich habe als Zeuge in NS-Prozessen vor vielen Jahren mitgemacht — und der Beweisnot des Gerichts bei Aufhebung der Verjährungsfrist ist. Was ist also der Unterschied zwischen der unterbrochenen Verjährung, wo wahrscheinlich bis zum Jahre 2000 verfolgt werden kann, wo die Gerichte in Beweisnot kommen können, und der Aufhebung der Verjährungsfrist? Wollen Sie sagen, daß das 27, 30 oder 35 Jahre sind?

    (Zuruf des Abg. Gerster [Mainz] [CDU/ CSU])

    Da ist die Inkonsequenz Ihrer Position, lieber Kollege Lenz, gegeben.
    Ich kann Ihnen nur sagen: Niemand hat bisher — weder hier noch draußen — irgendwie erklären können, was da eigentlich für ein Unterschied ist bzw. wo das Kriterium liegt.
    Lassen Sie mich abschließen, Herr Präsident, mit der Bemerkung: Wir dürfen keinen Mörder — weder aus der Vergangenheit noch für die Zukunft — seiner Strafverfolgung entziehen. Darum geht es hier bei der Frage der Aufhebung der Verjährbarkeit, um nichts anderes. Dies ist der kardinale Punkt.

    (Beifall bei allen Fraktionen)