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ID0816601400

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    Plenarprotokoll 8/166 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 166. Sitzung Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 Inhalt: Abweichung von § 60 Abs. 2 GO bei der Beratung der Verjährungsvorlagen . . . 13233 A Eintritt des Abg. Besch in den Deutschen Bundestag für den ausgeschiedenen Abg Carstens (Fehmarn) 13290 A Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung . 13233 B Beratung des Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Hermann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen Unverjährbarkeit von Mord zu der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord zu dem von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurf eines Achtzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes — Drucksachen 8/2539, 8/2616, 8/2653 (neu), 8/3032 — in Verbindung mit Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Achtzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes — Drucksache 8/2653 (neu) — in Verbindung mit Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Her- II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 mann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen Unverjährbarkeit von Mord — Drucksache 8/2539 — in Verbindung mit Beratung der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord — Drucksache 8/2616 — Dr. Mertes (Gerolstein) CDU/CSU . . . . 13234 A Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD . . . . 13239 B Kleinert FDP 13243 C Hartmann CDU/CSU 13247 C Dr. Vogel (München) SPD . . . . . . 13252 A Gattermann FDP . . . . . . . . . 13254 C Gerster (Mainz) CDU/CSU . . . . . . 13257 B Dr. Dr. h. c. Maihofer FDP . . . 13260 A, 13292 A Dr. Emmerlich SPD . . . . . . . 13265 B Helmrich CDU/CSU 13268 A Sieglerschmidt SPD 13269 C Frau Matthäus-Maier FDP . . . . . . 13272 B Dr. Lenz (Bergstraße) CDU/CSU 13274 D Dr. Weber (Köln) SPD 13277 D Ey CDU/CSU 13281 C Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 13282 B Blumenfeld CDU/CSU 13285 C Cronenberg FDP 13287 B Dr. Bötsch CDU/CSU . . . . . . . . . 13288 A Erhard (Bad Schwalbach) CDU/CSU . . . 13294 B Dürr SPD 13296 C Engelhard FDP 13298 D Dr. Gradl CDU/CSU 13301 A Thüsing SPD 13303 A Dr. Wendig FDP 13305 D Namentliche Abstimmungen . . 13290 A, 13292 B, 13308 A, 13311 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Sechsten Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes — Drucksache 8/3027 — Pfeifer CDU/CSU . . . . . . . . . . 13308 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Gesetz zur Neufassung des Umsatzsteuergesetzes und zur Änderung anderer Gesetze — Drucksache 8/3028 Westphal SPD 13309 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Gesetz zur Änderung des Gesetzes über technische Arbeitsmittel und der Gewerbeordnung — Drucksache 8/3029 — Jahn (Marburg) SPD 13313 B Nächste Sitzung 13313 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 13315* A Anlage 2 Erklärung des Abg. Dr. Penner (SPD) nach § 59 GO zu Punkt 1 der Tagesordnung . . 13315*A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 13233 166. Sitzung Bonn, den 3. Juli 1979 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich Dr. Arnold 4. 7. Bayha 4. 7. Dr. Böhme (Freiburg) 4. 7. Büchner (Speyer) * 4. 7. Dr. Dübber 3. 7. Dr. h. c. Kiesinger 4. 7. Koblitz 4. 7. Dr. Müller ** 4. 7. Picard 4. 7. Scheffler ** 4. 7. Frau Schlei 4. 7. Dr. Schmitt-Vockenhausen 4. 7. Spilker 4. 7. Volmer 4. 7. Walkhoff 4. 7. Dr. Wulff 4. 7. Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Dr. Penner (SPD) nach § 59 GO zu Punkt 1 der Tagesordnung Ich stimme einer angestrebten Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord nicht zu. Ich bin der Meinung, daß sich das abgestufte System der Verjährungsfristen im Strafgesetzbuch, in das auch schwerste Straftaten wie Mord einbezogen sind, bei allen eingeräumten Unzulänglichkeiten bewährt hat. Die zeitliche Begrenzung der staatlichen Verfolgungspflicht für Straftaten beruht auch auf der Erkenntnis, daß die Möglichkeiten der Wahrheitsfindung im Strafprozeß um so brüchiger und fragwürdiger werden, je mehr Zeit zwischen Tat und Ahndung verstrichen ist. Ich halte es daher für richtig und auch geboten, wenn der Gesetzgeber diese Regelerfahrung gesetzlich absichert und damit den Strafverfolgungsorganen eine Pflicht abnimmt, der sie auch bei bestem Wollen und Können nicht gerecht werden können. Hinweise auf ausländische Rechtsordnungen und frühere deutsche und romanische Rechtsinstitute halte ich für bemerkenswert, aber für nur bedingt aussagekräftig, da bei einem Vergleich die gesamten Verfahrensordnungen mit allen Möglichkeiten und Hemmnissen besonders des Beweisrechts gegenüber gestellt werden müssen. Der Anlaß für die Initiative ist ebenso beklemmend wie säkulär. Es geht nicht einfach um eine Neufassung des Verjährungssystems, es geht um die Frage, ob besonders Mordtaten der NS-Zeit über gesetzliche Verjährungsvorschriften einer Strafverfolgung entzogen sein können oder nicht. Das Für und Wider ist in den bewegenden Debatten der 60er * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlagen zum Stenographischen Bericht Jahre und in den Diskussionen aus jüngster Zeit engagiert, behutsam und sorgfältig beleuchtet worden. Ich bin aber der Meinung, daß es statthaft sein darf, bei der Entscheidung auch berufsbedingte Erfahrungen miteinzubeziehen, die mehr die praktische Auswirkung der Gesetzesänderung betreffen. Ich neige mehr und mehr zu der Auffassung, daß der in den 60er Jahren beschrittene Weg der Ausdehnung der Verjährungsfristen nicht richtig gewesen ist. Dabei will ich nicht verschweigen, daß ich dies seinerzeit anders gesehen habe. Aber im Verlaufe einer beruflichen Tätigkeit, bei der ich mit der Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen zu tun hatte, sind mir zunehmend Zweifel gekommen. Und das, obwohl die nazistische Wirklichkeit mit Genozid, mit Vernichtungs- und Konzentrationslagern, mit Massen- und Einzelmorden durch Akten und Zeugenaussagen erdrückend bestätigt wurde. Aber im Strafprozeß geht es nicht allein um Tatgeschehen, sondern auch um persönliche Verantwortung, um Schuld. Der Nachweis individueller Schuld war schon früher aus vielerlei Gründen kaum oder gar nicht möglich. Das ist auch nach der Erweiterung der Verjährungsfrist auf 30 Jahre noch problematischer geworden. Nicht nur statistische Hinweise geben darüber Aufschluß. Selbst das deutsch-französische Rechtshilfeabkommen des Jahres 1971, das die Verfolgungssperren des Überleitungsvertrages für deutsche Behörden lockerte, hat die strafrechtliche Bewältigung der Judendeportationen aus Frankreich nicht unterstützen können, wie man hört. Ich bin der Meinung, daß unter den gegebenen Umständen die Beibehaltung des geltenden Verjährungsrechts verantwortet werden kann. Nach meiner Erfahrung dürfte die Entdeckung neuer Sachverhalte mit der Folge strafrechtlicher Verurteilung zwar nicht ausschließbar, aber nahezu ausgeschlossen sein. Aller Voraussicht nach wird ein berechtigtes Sühnebedürfnis nicht mehr gestillt werden können. Daher halte ich es aus meiner Sicht nicht für erträglich, Zeugen, die Schwerstes erlitten und durchlitten haben, den Lasten und Beschwernissen, ja den Qualen von Vernehmungen über die gegebenen Unumgänglichkeiten hinaus auszusetzen. Daß nach Eintritt der Verjährungsfrist unentdeckte NS-Mörder sich ihrer Untaten öffentlich rühmen könnten, ist eine theoretische Möglichkeit, hat aber mit der Verjährungsproblematik nichts zu tun. Für schon Abgeurteilte oder außer Verfolgung gesetzte NS-Täter sind eher Stichworte wie „Leugnen", „Verkleinern", „Es war eben Krieg" und in Einzelfällen auch Reue kennzeichnend. Eine Neigung zu öffentlicher Erörterung dieser Vergangenheit besteht bei diesem Tätertyp nach den bisherigen Erfahrungen hingegen kaum. Für die Zukunft muß eine stetig zunehmende Zahl von Fehlbeurteilungen der Strafverfolgungsorgane befürchtet werden. Das wird für die schon anhängigen Verfahren unumgänglich sein. Die Gründe lie- 13316* .Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 gen durchweg in der Beweisnot der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Die Aufhebung der Verjährungsfrist hätte zur Folge, daß zu allen neuen Vorgängen materielle Entscheidungen über Schuld oder Unschuld erforderlich würden. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß diese durchweg Einstellungsverfügungen und Freisprüche sein werden. Ich hielte das für bedrückend, weil mit diesen staatlichen Akten, deren Qualität nicht anders ausfallen kann und wird, Geschichtslegenden gebildet und unterstützt werden können. Aus meiner Sicht ist daher das aus dem geltenden Recht folgende Offenhalten der strafrechtlichen Schuldfrage nach Ablauf der Verjährungsfrist auch der politische richtige Weg. Ich weiß, daß diese Überlegungen nur einen Teil der Fragen und Bedrängungen ausmachen. Für mich sind sie entscheidend. Eine neue gesetzliche Regelung muß sich auch an ihren Möglichkeiten und Grenzen messen lassen. Dem Anspruch der Opfer, der Betroffenen auf sühnende Gerechtigkeit kann nicht über eine Ausweitung des Verjährungsrechts Genüge geschehen. Ich meine, daß dies auszusprechen auch zur parlamentarischen Verantwortlichkeit gehört. Ich wage es daher, nein zu sagen.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Hans H. Gattermann


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich stimme dem Kollegen Dr. Mertes zu, daß es weniger eine rechtliche, weniger eine politische als eine moralische Frage ist, die wir hier heute zu entscheiden haben, daß wir abzuwägen haben zwischen verschiedenen Grundwerten. Im Ergebnis komme ich zu einem anderen Ziel.
    Niemand in diesem Hause, niemand in diesem Lande würde über die Aufhebung der Verjährung für Mord sprechen, gäbe es die unvorstellbaren Greuel- und Massenmorde aus der Nazizeit nicht. — So sagen es viele, und ehrenwert ist die Überzeugung, aus der heraus so argumentiert wird. — Niemand in diesem Lande und anderswo habe außerhalb der NS-Problematik in überschaubarer Vergangenheit jemals die Aufhebung der Mordverjährung gefordert. — Ehrenwert sind die Motive, aus denen heraus diese rechtspolitische Tatsachenforschung angestellt wurde. — Niemand in diesem Lande empfinde es als unerträglich, wenn ein unentdeckt gebliebener „normaler Mörder" — welch schreckliches Wort! — nach 30 Jahren ungeschoren davonkomme. — Wiederum ehrenwert ist der Eifer, mit dem dies behauptet wird. — Folglich gehe es den Befürwortern der Aufhebung der Mordverjährung allein darum, ungesühnte Nazimorde auch nach Ablauf der 30jährigen Verjährungsfrist noch gerichtlich aburteilen zu können. — Natürlich ist auch solches Schlußfolgern ehrenwert.
    Meine Damen und Herren, ich aber sage: Mit solcher Argumentation fügt man nicht nur den Befürwortern der Aufhebung der Mordverjährung Unrecht zu, man verengt auch die moralische Dimension der zur Entscheidung anstehenden Frage. In keinem anderen Rechtsbereich sind die Zusammenhänge zwischen Rechtsnormen und moralischen Wertvorstellungen so eng wie im Strafrecht und im Strafverfahrensrecht. Die moralische Wertung eines Rechtsgutes und das moralische Verdikt über den das Rechtsgut verletzenden Täter kommen aber nicht nur im materiellen Straftatbestand und im angedrohten Strafrahmen zum Ausdruck, vielmehr ist die moralische Sensibilisierung des Staates, der ja allein befugt ist, den Strafanspruch der Rechtsgemeinschaft durchzusetzen, daran abzulesen, nach welchen Regeln er den Strafanspruch verwirklicht. Das Legalitätsprinzip z. B., das ebenso wie Mordverjährung in diesem Lande bis auf eine kurze Unterbrechung in unheilvoller Zeit Tradition hat, ist Ausdruck einer solchen hohen moralischen Verantwortung des Staates gegenüber seiner Pflicht zur Strafverfolgung.
    Ich erwähne dies, weil in den Diskussionen der letzten Wochen bei dem Bemühen, einen Kompromiß in einer Frage zu finden, die nur ein klares Ja oder ein klares Nein ermöglicht, vor diesem Prinzip nicht haltgemacht wurde. Ich warne davor, meine Damen und Herren, Scheinlösungen zu akzeptieren, die unser moralisches und rechtsstaatli-



    Gattermann
    ches Bild nach innen und außen so verwaschen machen, daß unsere in 30 Jahren gewachsene Glaubwürdigkeit daran Schaden nehmen würde.

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD)

    In der Tat, auch das Instrument der Mordverjährung hat bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts und darüber hinausgehend Tradition in diesem Lande. Mit den geltenden moralischen Wertvorstellungen war es also durchaus vereinbar, daß auch die mörderische Lebensvernichtung nach Ablauf von ehedem nur 20 Jahren keine gerichtliche Ahndung mehr erfuhr. Was also hat sich verändert, daß dies so fürderhin nicht mehr gelten soll? Hier nun, meine Damen und Herren, ist der Zusammenhang mit den Verbrechen der Nazi-Zeit — ich sage ganz bewußt: seien sie nun gesühnt oder seien sie ungesühnt — nicht nur nicht zu leugnen, sondern sie sind als das zentrale Entscheidungskriterium herauszustellen.
    Wir, die wir leidvoll haben erfahren müssen, welche Dimension das Verbrechen Mord in der Addition von einzelnen Mordtaten annehmen kann, wenn ein verbrecherischer Staat den Boden bereitet, wir haben besondere Veranlassung, neu zu prüfen, ob der Wert des Rechtsgutes Leben, ob der Unwert der mörderischen Lebensvernichtung noch vereinbar ist mit der Handhabung des Strafverfolgungsanspruchs durch den Staat im Rahmen einer Verjährungsregelung, ob nicht vielmehr der Staat aus seiner Pflicht zur Strafverfolgung erst mit dem biologischen Ende des Täters entlassen werden kann. Es wäre, meine Damen und Herren, so glaube ich, ein Irrweg, sich dieser Fragestellung aus unserer unheilvollen Geschichte dadurch zu entziehen, daß man wegen des unbestreitbaren Unterschiedes zwischen dem Mord im Rechtsstaat und dem Mord im Unrechtsstaat die Frage nur teilweise beantwortet. Vor den lebenden Angehörigen der Opfer des Nazi-Regimes in aller Welt könnten wir vielleicht — ich sage: vielleicht — mit einer solchen Teilantwort bestehen, vor der Geschichte und den nachgeborenen Generationen nach meiner Überzeugung nicht.
    Der Wert des Rechtsgutes Leben läßt eine zeitliche Differenzierung bei der Pflicht zur Anklageerhebung bei Mord je nach den staatlichen Rahmenbedingungen und der Zahl der Opfer nicht zu.

    (Zustimmung bei Abgeordneten der FDP und der SPD)

    Der Satz: „Über einen normalen Mord wächst Gras, über Auschwitz nicht" mag historisch richtig sein, moralisch und rechtspolitisch ist er nach meiner Überzeugung ohne Aussagekraft für eine differenzierte Lösung.

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD)

    Eine Verschiebung moralischer Beurteilungskriterien ist in der Rechtsgeschichte ja nicht gerade etwas Neues, wie daraus abgeleitete Folgerungen für materielles und formelles Strafrecht nichts Ungewöhnliches sind. Solche Rechtsänderungen auf Grund veränderter Wertvorstellungen stehen am
    Ende evolutionärer gesellschaftlicher Prozesse, sie können aber auch am Ende kurzer, verdichteter, mit schmerzhaften Erfahrungen verbundener Zeitläufe stehen.
    Lassen Sie mich für die erste Alternative auf ein Beispiel verweisen, das in der umgekehrten Richtung liberalisierende Wertverschiebungen belegt. Die gemeinrechtliche Wissenschaft des 16. Jahrhunderts, die auf der Grundlage des römischen Rechts noch von prinzipieller Verjährbarkeit von Straftaten ausging, wollte den Ehebruch als Straftatbestand, weil besonders verwerflich, unverjährbar stellen. Heute ist dieser Straftatbestand entfallen. In der gesellschaftlichen Wertung ist die moralische Verurteilung in weiten Bevölkerungskreisen auf die Verletzung eines zwischen zwei Partnern wirkenden Treuegelöbnisses reduziert.
    Meine Damen und Herren, für die zweite von mir genannte Alternative ist der Beleg sehr einfach. Unsere Verfassung, insbesondere die Grundrechte unserer Verfassung, und eine Vielzahl von Einzelgesetzen sind von Grundwerten geprägt, deren Vorhandensein, mindestens aber ihre stringente Akzeptierung aus dem zwölfjährigen Erleben des Unrechtsstaates erwachsen sind.
    Warum aber werden die Konsequenzen in der Mordverjährungsfrage erst 34 Jahre nach Ende der Nazi-Herrschaft gezogen? Warum hat der Deutsche Bundestag in den 50er Jahren bei der Durchforstung der Gesetze nach nazistischem Gedankengut und bei der Überprüfung aller Vorschriften auf Grund der Erfahrungen der Nazi-Zeit keine Veranlassung gesehen, die traditionelle Mordverjährungsregelung zu ändern?
    Warum hat der Deutsche Bundestag 1965 und 1969, jeweils gezielt auf die Frage der Verfolgung von NS-Morden, Kompromißregelungen getroffen? Warum hat der von mir so hochgeschätzte Thomas Dehler, beharrend auf geltendem Verjährungsrecht aus tiefster Überzeugung, den unbeugsamen Willen zum Recht als Mittel zur Bewältigung der Vergangenheit angeboten?
    Meine Damen und Herren, ich bin weit davon entfernt, hier irgend jemandem irgendeinen Vorwurf zu machen, wie ich meinen vollen Respekt den Kolleginnen und den Kollegen zum Ausdruck bringen will, die auch heute noch an der traditionellen Mordverjährung festhalten wollen.
    Dennoch aber muß der Versuch unternommen werden, auf die gestellte Frage eine Antwort zu geben. Bei dieser Antwort kann es sich allerdings nur um den Ausdruck einer subjektiven Überzeugung handeln, weil die Antwort nur zum geringsten Teil auf der Beurteilung feststellbarer Fakten, im wesentlichen aber auf der Beurteilung innerer Vorgänge beruht.
    Das schreckliche Miterleben des Nazi-Regimes und des zweiten Weltkrieges, die Betroffenheit aus der Erkenntnis des ganzen Ausmaßes der Verbrechen, die selbstquälerischen Fragen, was man selbst getan oder unterlassen hat, um das Schreckliche zu fördern, haben viele der Männer geprägt, die diesen freiheitlichen Rechtsstaat auf deutschem



    Gattermann
    Boden geschaffen haben. Anfangs fehlte ihnen auf Grund eingeschränkter Souveränität das Recht und damit aber auch die Verpflichtung zur strafrechtlichen Aufarbeitung jener Verbrechen, für deren Art und Ausmaß es in der Geschichte keine Vorbilder gab. Und es fehlte ihnen der zeitliche Abstand, um emotionsfrei alle Grundwerte und ihre instrumentale Handhabung in der Praxis zu überprüfen. Deshalb ist mir der leidenschaftliche Appell Thomas Dehlers zum unbeugsamen Festhalten am Recht, hier bezogen auf ein 150 Jahre altes Rechtsinstrument, völlig verständlich, was mich, meine Damen und Herren, der ich damals Kind war, allerdings nicht von der Verpflichtung freistellt, mit dem nunmehr gegebenen zeitlichen Abstand diese damalige Wertung nachzuvollziehen und das damalige Ergebnis zu verwerfen.
    Dabei ist ein entscheidender Gesichtspunkt, daß wir heute, anders als damals, nach gefestigter Rechtsprechung und wissenschaftlicher Erkenntnis wissen, daß es sich nicht um ein Problem des Rückwirkungsverbots aus Art. 103 des Grundgesetzes handelt.
    Wenn die vorliegende Gesetzesinitiative zum Tragen kommt, wenn für jeden Mörder von damals, von heute und von morgen klar ist, daß die Ahndung seiner Mordtat in diesem Lande unabwendbar ist, wie lange er auch immer unentdeckt geblieben sein mag, dann gehe niemand aus diesem Raum in der Überzeugung, er habe nun alles getan, was zur Aufarbeitung der Erfahrungen und der Verbrechen der Nazizeit getan werden muß.

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD)

    Meine Damen und Herren, es bleibt doch dabei, daß auf Grund der fehlenden Souveränität von damals und der Gnadenpraxis der Siegermächte Täter schlimmsten Kalibers mit lächerlichen Strafen davongekommen sind und heute unter uns leben. Es bleibt doch dabei, daß scheußlichste Verbrechen aller Art verjährt sind, wenn das Opfer nur überlebt hat oder die Tötungshandlung als Totschlag zu klassifizieren ist. Es bleibt dabei, daß Schreibtischtäter so gut wie überhaupt nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden können, und es ist wohl auch richtig, daß nur noch sehr wenige bisher unentdeckt gebliebene Mörder bis hin zur Verurteilung vor Gericht gestellt werden können.
    Meine Damen und Herren, deshalb ist für mich der Vorwurf, den Initiatoren des vorliegenden Gesetzentwurfs gehe es nur darum, einige wenige Nazimörder noch zur Verantwortung zu ziehen, um sich vor der Welt ein Alibi zu verschaffen, so kränkend; denn ich scheue mich nicht, zu sagen, daß ich neben der Scham über das, was im deutschen Namen Schreckliches geschehen ist, auch mit der Tatsache fertig werden muß, daß uns die Möglichkeiten, die Kraft und die Einsicht nach dem Ende der Schreckensherrschaft gefehlt haben, das Geschehene angemessen und schnell strafrechtlich aufzuarbeiten.
    Es bleibt für jeden von uns die unerfüllte und als Daueraufgabe in die Zukunft wirkende Aufgabe
    der geistigen und politischen Auseinandersetzung mit dem Faschismus mit dem Ziel, das unverwechselbare Bild jedes einzelnen Menschen, insbesondere — im Zusammenhang unserer Debatte — seine körperliche Integrität, im freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen zu bewahren gegen nationalistische Hybris, gegen ideologische und rassistische Heilslehren, aber auch gegen unmenschliche bürokratische Verplanung.
    Meine Damen und Herren, nichts ist mehr gefährdet — und das gilt zeitlos — als der Mensch, seine Würde, seine Freiheit und sein Leben. Es geht also in der Tat wirklich um die rechtspolitische Frage, ob für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Mord in diesem Lande verjährbar oder unverjährbar sein soll. Ich meine, daß als Lehre aus den Erfahrungen mit dem menschenverachtenden Unrechtsstaat in diesem Lande Mord unverjährbar sein soll. Ich meine, wir verwirklichen damit ein Stück rechtsstaatliche Glaubwürdigkeit.
    Meine Damen und Herren, diese moralischen Überlegungen — wenn Sie so wollen — sind für meine Fraktionsfreunde und mich, die wir den vorliegenden Gesetzentwurf unterstützen, die die Entscheidung tragenden Gründe. Dahinter treten die vielen mehr oder minder wichtigen Argumente und Zweckmäßigkeitserwägungen zurück, die hier in der ersten Lesung ausgetauscht worden sind; denn für jedes dieser Argumente gibt es ein ebenso überzeugendes Gegenargument. Da ist die allgemeine Beweisnot, der die verbesserte Kriminaltechnik der Spurensicherung und ihrer Konservierung entgegenzuhalten ist. Da ist die besondere Zeugenbeweisnot, die dann wohl auch bei Gerichtsverfahren nach Ablauf von 30 Jahren und vorheriger Verjährungsunterbrechung gilt. Da ist die Qual der Zeugen, Schreckliches aus der Erinnerung wiederbeleben zu müssen, was mit der Überlegung zu beantworten ist, daß diese Not des Opferzeugen zu jedem Prozeßzeitpunkt besteht. Da ist die beschworene Gefahr von Fehlurteilen, der die rechtsstaatliche Unschuldsvermutung entgegenzusetzen ist. Es wird die Überforderung der Richter angeführt, obwohl die Richter doch wohl zu jedem Prozeßzeitpunkt ein ungewöhnlich schweres und verantwortungsvolles Amt übernommen haben. Da wird auf die Schwierigkeiten der Abgrenzung zwischen Mord und Totschlag hingewiesen, die nicht zu leugnen sind, die bisher aber nicht gehindert haben, die Verjährungsfristen für Mord und Totschlag um 100 %, nämlich 15 und 30 Jahre, divergieren zu lassen. Da wird der Rechtsfrieden bemüht, was sich die Frage gefallen lassen muß, wessen Rechtsfrieden hier gemeint ist, der der Täter, der der Opfer und ihrer Angehörigen oder der der Unbeteiligten.

    (Beifall bei der FDP und der SPD — Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Eine Verengung des Begriffs!)

    Da ist von der mangelnden Resozialisierungsbedürftigkeit die Rede, was als Argument mit der obligatorischen lebenslangen Freiheitsstrafe für Mord



    Gattermann
    wohl nicht zu vereinbaren ist. Kurz: Auf dieser Argumentationsebene gibt es gute Gründe für die Beibehaltung der Mordverjährung, wie es gute Gründe für deren Abschaffung gibt.
    Meine Damen und Herren, ich will Ihnen zum Schluß sagen, warum ein Liberaler so wie meine Freunde und ich entscheidet, bei dem doch das Schuldstrafrecht, die Resozialisierung des Täters im Vordergrund strafrechtlicher Überlegungen steht. Die Antwort, so glauben wir, ist sehr einfach: Subjektive Schuld dieser Dimension wird durch bloßen Zeitablauf nicht kompensiert.

    (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei der CDU/CSU)

    Und Fragen der Resozialisierung gehören primär in' die Zeit nach der Urteilsverkündung, sie gehören im Rahmen der Strafzumessung auch in das Gerichtsverfahren. Sie entscheiden aber, bitte schön, nicht über die Frage, ob Anklage erhoben werden soll oder nicht.

    (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei der CDU/CSU)

    Im übrigen: Ein Staat, der im Rahmen des Legalitätsprinzips jeden entdeckten Mörder zu jeder Zeit vor Gericht stellt, muß und soll deshalb der Gnade nicht entraten.

    (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei der CDU/CSU)



Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat Herr Abgeordneter Gerster.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Johannes Gerster


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion vertritt in der Frage der Verjährbarkeit von Mord keine einheitliche Meinung. Dies ist gut so. In dieser rechtspolitischen Frage, die, von unserer Vergangenheit überschattet, eine Regelung in der Gegenwart auch für die Zukunft erfordert, kann es in einer Volkspartei und in einer großen Fraktion keine Einheitsmeinung geben.
    Es kann eine Einheitsmeinung produziert werden, wenn die Gewissensfreiheit einzelner niedergewalzt würde oder wenn man um einer Scheineinigkeit willen einen möglicherweise dann zweifelhaften Kompromiß suchen würde. Die Negierung der Gewissensfreiheit des einzelnen würde unserer Demokratie schaden. Die Schaffung eines Kompromisses um jeden Preis könnte der Sache schaden, die zu grundsätzlich ist, als daß sie zu einem Handelsobjekt denaturiert werden darf.

    (Josten [CDU/CSU]: So ist es!)

    Ich danke meiner Fraktionsführung, daß sie nie einen Zweifel daran gelassen hat, daß in dieser Angelegenheit jeder Abgeordnete so stimmen sollte, wie er allein es für richtig hält.

    (Josten [CDU/CSU]: Sehr gut!)

    Diese Toleranz und Liberalität stehen in der Tradition der Entscheidungen der Jahre 1965 und 1969.
    Sie erfordern Respekt, wie ich selbst respektiere, daß eine Mehrheit in meiner Fraktion für die Beibehaltung der Verjährung eintritt.
    Ich spreche allerdings für die Minderheit meiner Fraktion, die für die generelle Aufhebung der Mordverjährung eintritt. Diese Gruppe hat als erste eine parlamentarische Initiative zur Aufhebung der Mordverjährung ergriffen. Sie legt Wert auf ihre Eigenständigkeit, auch wenn sie heute aus verfahrensrechtlichen Gründen einem Gesetzentwurf aus den Reihen der Koalition zustimmen muß.
    Der Deutsche Bundestag entscheidet wieder einmal über die Verjährbarkeit von Mordverbrechen. Wieder einmal stehen wir am Ende einer Debatte, die bisher in Abständen von vier bis zehn Jahren immer wieder in dieses Haus stand, jeweils die gleiche Debatte mit den gleichen Argumenten, mit dem gleichen öffentlichen Interesse und mit den gleichen Leidenschaften. Kaum eine andere Frage hat unsere 30jährige Republik so oft und so intensiv beschäftigt und die Gefühle vieler Menschen so tief aufgewühlt. Nur mit wenigen Fragen taten wir uns so unendlich schwer wie mit dieser Verjährungsfrage.
    Dabei stehen Anlaß und Wirkung in einem offenkundigen Mißverhältnis. So werden, wie wir wissen, bei einer Aufhebung der Verjährung nur relativ wenige Personen unmittelbar betroffen werden.
    Wer hätte kein Verständnis für das Argument, diese Frage müsse einmal endgültig geregelt bleiben? Wer versagt denen den Respekt, die Mordverjährung nicht alle paar Jahre neu und anders normieren wollen?
    Und doch zeigt das Wiederauftauchen dieses Themas immer und immer wieder, was nur mit einiger Beklommenheit hier festgestellt werden kann: In der Frage der Verjährbarkeit von Mord hat der Deutsche Bundestag bisher keine dauerhafte, keine allen Anfechtungen standhaltende Antwort geben können. Nur darum muß uns diese Frage immer wieder einholen. Ich füge hinzu: Auch die Entscheidung des Jahres 1979 wird uns nicht ruhen lassen, wenn wir nicht endlich die Verjährbarkeit von Mord generell aufheben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

    Wir werden erst loskommen — dies sage ich gerade auch denjenigen, die den Gesichtspunkt der Rechtssicherheit in den Vordergrund stellen —, wenn Mord in diesem Lande nicht verjähren wird.
    Bisher litt der Deutsche Bundestag unter der Last seiner Verantwortung, weil rechtspolitische Motive allgemeinpolitischen und außenpolitischen sowie moralischen Kategorien entgegenzustehen scheinen. Gleichwohl haben bisher immer juristische Erwägungen den Ausschlag für die Bestätigung der Verjährung gegeben. Auch heute können Begriffe und Werte wie Rechtstradition, Rechtsfrieden Rechtssicherheit, Gleichheit und Gerechtigkeit,



    Gerster (Mainz)

    aber auch die Verläßlichkeit des Gesetzgebers als Argumente gegen die Verjährungsaufhebung geltend gemacht werden, und ich füge hinzu: mit bestem Gewissen und durchaus ehrenwert.
    Aber, meine Damen und Herren, wollte man 1965 und 1969 die Verjährung von Mord wirklich mit der letzten Konsequenz bestätigen? Mit der Folge, daß dann nach Ablauf der neuen, verlängerten Frist NS-Mörder frei und unangreifbar herumlaufen sollten? Glaubte man nicht vielmehr, die jeweilige Fristenverlängerung werde ausreichen, um auch noch den letzten noch lebenden NS-Mörder entdekken und verfolgen zu können?

    (Josten [CDU/CSU]: So war das!)

    Rechtspolitisch waren die Entscheidungen der Jahre 1965 und 1969 eine Bestätigung des Rechtsinstitutes der Verjährung. Faktisch wurden diese Entscheidungen jedoch als zeitlich begrenzte Verjährungsaufhebungen verstanden und auch so gewollt. Auch heute kann niemand ausschließen -das haben gerade die Beratungen im Rechtsausschuß belegt —, daß bisher unbekannte Mörder noch auftauchen werden. Im Gegenteil! Dies führt heute daher zu der Erkenntnis, daß die Fristverlängerungen von 1964 und 1969 ihr eigentliches Ziel verfehlt haben. Daher, meine ich, müßten diejenigen, die damals für eine Fristverlängerung stimmten, auch heute im Prinzip wieder so votieren. Da wir uns aber eine neuerliche Verlängerung der Verjährungsfrist — der Gedanke erscheint kaum aussprechbar zu sein — etwa auf 40 oder 50 Jahre wirklich nicht mehr leisten können, bleibt für diese Kollegen nach meiner Auffassung konsequenterweise nur die Aufhebung der Verjährung. Damit stünden sie zugleich in der Kontinuität etwa des Gruppenantrages von Ernst Benda aus dem Jahre 1965 und dem Regierungsentwurf der Großen Koalition aus dem Jahre 1969, die beide dem Ziel dienen sollten, die Verjährung für Mord generell und grundsätzlich aufzuheben.
    Die Frage, wie viele Strafverfahren nach 1979 dann auf uns zukämen, ist dagegen wenig überzeugend. Das Rechtsgefühl vieler Bürger unseres Landes müßte nach meiner festen Überzeugung Schaden nehmen, wenn einerseits junge Menschen wegen jugendlicher Straftaten sitzen müssen, aber nur ein Massenmörder — wäre die Tat auch noch so weit zurück — nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden könnte.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei der SPD und der FDP)

    Ich meine, wegen eines einzigen Massenmörders müßten wir die Verjährung aufheben.
    Es geht, meine Damen und Herren, aber nicht nur um eine rechtspolitische Entscheidung, es geht um mehr. In der Verjährungsfrage wird der Deutsche Bundestag, ob uns dies paßt oder nicht, in eine Mitentscheidung und Mithaftung für unsere Geschichte gedrängt.

    (Josten [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Deutschland hat den Naziterror mit der Zerstörung, mit der Teilung, auch mit Verbrechen gegen Deutsche bei der Vertreibung und mit der Unfreiheit im Osten unseres Vaterlandes bezahlt. Der Westen ist in die Gemeinschaft der freien Welt aufgenommen. Es besteht kein Zweifel, daß hierzulande alles Mögliche unternommen wurde, um alle NS-Mörder zu entdecken und ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Und dennoch wird ein erneuter Beweis für die Dauerhaftigkeit unserer Grundwertentscheidungen, für die Abkehr vom Unrecht und für eine weitere Selbstanklage verlangt, indem NS-Mörder unnachsichtig weiter verfolgt werden sollen.

    Ich gestehe offen, mich persönlich stört es ganz erheblich, daß an uns strengere Maßstäbe angelegt werden als an andere Staaten, in denen nach 1945 im Namen des Unrechts gemordet wurde und auch heute noch gemordet wird. Vergeben und Vergessen wird ihnen offenbar freigiebiger gewährt als uns Deutschen im Westen.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Leider wahr!)

    Dazu stelle ich fest: Wer Mord aus politischen Gründen, so z. B. heute im Iran oder in Vietnam, nicht anprangert, hat das moralische Recht verwirkt, von uns die Aufhebung der Verjährung zu verlangen.

    (Katzer [CDU/CSU]: Sehr richtig! — Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: So ist es!)

    Und doch: Sollen wir, nur weil das Ausland Druck auf uns ausübt, dem Druck der eigenen Überzeugung nicht nachgeben? Nicht weil, sondern obwohl die Welt Gefahr läuft, Unrecht mit vielerlei Maß zu messen, sollten wir durch unsere Entscheidung heute erneut dokumentieren: Mord im deutschen Namen wird es nie wieder geben, und er wird daher auch 35 Jahre nach Kriegsende unnachsichtig geahndet.
    Rigorosität mit uns selbst stärkt aber auch unser Recht, Mord heute und überall an den Pranger zu stellen. Sie legitimiert uns, auch Verbrechen an Deutschen — heute an der innerdeutschen Grenze, früher bei der Vertreibung — als Verbrechen zu bezeichnen und dadurch einer falschen und einseitigen Geschichtsschreibung entgegenzuwirken.

    (Katzer [CDU/CSU] : Sehr richtig!)

    Meine Damen, meine Herren, letztlich können aber weder rechtspolitische noch außenpolitische Erwägungen bei der Verjährungsentscheidung den Ausschlag geben. Es geht um eine Grundentscheidung, und zwar nicht um eine losgelöste Entscheidung über die Vergangenheit, sondern notwendigerweise auch um eine Entscheidung für heute und für die Zukunft.
    Die Väter unserer Verfassung haben nach den bitteren Erfahrungen mit dem NS-Terror die Würde des Menschen an den Anfang unseres Grundrechtskataloges, an den Anfang unseres Grundgesetzes gestellt. Der Schutz des menschlichen Lebens genießt Vorrang, wenn man von wenigen gesetzlichen Ausnahmen wie etwa der Notwehr einmal absieht.



    Gerster (Mainz)

    Die Tötung eines Menschen unter den besonders verwerflichen Umständen des Mordes ist das schwerste Verbrechen, das unsere Rechtsordnung kennt.
    Dennoch hat der Staat aus humanitären Gründen die Todesstrafe abgeschafft, und dies bejahe ich. Selbst lebenslängliche Freiheitsstrafe bedeutet nicht mehr unbedingt „lebenslänglich". Die Schutzfunktion der Strafandrohung für Mord ist damit stark gemindert. Sie wird zusätzlich relativiert, wenn der Mörder durch Fristablauf der Verantwortlichkeit gegenüber Staat und Gesellschaft ganz entzogen wird.

    (Katzer [CDU/CSU] : Sehr richtig!)

    Mord bleibt Mord, so wie des gemordeten Ehegatten Witwe Hinterbliebene und sein Kind Halbwaise bleiben. Die Tat als die persönliche, auch moralisch vorwerfbare Schuld bleibt mit dem Täter verhaftet; er kann sich ihrer nicht entledigen. Wir sollten jedem, der menschliches Leben in derart schändlicher Weise zerstören will, zu erkennen geben, daß er sich nach einer solchen Tat sein ganzes Leben lange nicht der Verantwortung und Strafverfolgung entziehen kann.

    (Josten [CDU/CSU] : Sehr gut!)

    Die Prävention ist heute leider notwendiger als 1949. Mord und grausamste Hinrichtungen nehmen weltweit zu. Sie werden politisch begründet und gerechtfertigt. Was noch 1965 und 1969 niemand für möglich hielt, ist inzwischen bittere Wahrheit geworden. Auch in unserem Lande wurde unter Vorgabe politischer Beweggründe seit 1970 wieder gemordet.

    (Josten [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

    Das geschah zwar nur von einer kleinen Bande irregeleiteter Narren, aber immerhin begleitet von dem Versuch einer größeren Zahl von Personen, diesen Taten einen rechtfertigenden Anstrich zu geben. Name und Person von Hanns Martin Schleyer stehen hier für zahlreiche Opfer eines neuen politischen Fanatismus auch in Deutschland.

    (Josten [CDU/CSU]: Ausgezeichnet!)

    Mord nicht verjähren zu lassen, ist daher für mich — ich sage dies in aller Deutlichkeit — weniger ein Akt der Vergangenheitsbewältigung als ein Signal für die Gegenwart und die Zukunft.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Es wird deutlich gemacht, daß Mord keinerlei Berechtigung haben kann. Mörder haben dafür ein Leben lang geradezustehen und können frühestens, wenn ihr Schuld in einem Gerichtsverfahren erkannt ist, mit Gnade rechnen. Diese Grundentscheidung verträgt keine Ausweichmanöver. Sie ist ein moralischer Akt, ein erneutes Bekenntnis für das Lebensrecht jedes einzelnen Menschen. Daher verbietet sich auch ein Sonderrecht für NS-Verbrecher. Weder ein privilegierendes noch ein verschärfendes Sonderrecht wäre nach meiner Überzeugung zu rechtfertigen.
    Maßgeblich für die strafrechtliche Verantwortlichkeit war und ist die persönliche Schuld des Täters. Dies kann bei NS-Mördern geringer als bei einem Mord in einer freiheitlich verfaßten Gesellschaft sein; sie kann natürlich auch größer sein. Jede generelle Unterscheidung der Schuld, je nach Zeitablauf oder Staatsverfassung, wäre dagegen willkürlich und berührte damit die Grenzen des Rechtsstaates. Daher 'verbietet sich nach meiner Auffassung und nach meinem Verständnis eine Differenzierung der Verjährung von Mordtaten je nach Zeitepochen oder Mordfallgruppen. Den Vorschlag der Kollegen Maihofer und Helmrich werte ich als einen Versuch des Ausgleichs zwischen unterschiedlichen Meinungen. Dieser Versuch löst aber in keinem Fall die anstehende Problematik.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

    Nicht Fraktionen, sondern jeder einzelne Abgeordnete entscheidet heute über die Nichtverjährbarkeit von Mord.

    (Josten [CDU/CSU]: So ist das!)

    Diese Frage ist für viele eine Gewissensentscheidung, die keinen politischen Kompromiß verträgt. So wurde dies auch in den Jahren 1965 und 1969 gesehen und akzeptiert. Daher mißtraue ich allen, die in dieser Frage und in ihrer Fraktion auf eine einstimmige Entscheidung drängen.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

    Ich beanstande auch Ort und Art, in der der Kollege Wehner diese Debatte in der Öffentlichkeit eröffnet hat. Wer eine Israel-Reise zu einer Verjährungsdebatte mißbraucht, belastet unsere Diskussion und die Entscheidung des einzelnen auf das schwerste. Ich befürchte, daß dies sogar gewollt war. So blicke ich heute gespannt auf die Fraktion der SPD, um eine von ihrem Vorsitzenden abweichende Auffassung hier und heute an dieser Stelle zu vernehmen.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Das werden wir ja sehen!)

    Ich glaube, daß die Öffentlichkeit auch von der SPD Pluralität und Freiheit des einzelnen erwarten darf. Jedenfalls ist dieses Thema für interne und äußere Machtproben völlig ungeeignet.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die heutige Entscheidung ist — ganz gleich, wie sie ausfällt — politisch, juristisch, moralisch tragbar. Hier danke ich dem Herrn Botschafter des Staates Israel, dem ich bei einer entgegengesetzten Äußerung öffentlich widersprochen habe, und bei dem ich dennoch auf ein großherziges und freundschaftliches Verständnis gestoßen bin.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

    Jede Entscheidung, die heute im frei gewählten deutschen Parlament fällt, muß für die Menschen in unserem Lande, aber auch draußen in der Welt annehmbar sein. Eine Einschränkung der freien



    Gerster (Mainz)

    Entscheidung des einzelnen gibt es nicht und darf es nicht geben.
    Mit dem Herrn Botschafter des Staates Israel bin ich in der Sache allerdings einer Meinung: Wir sollten uns alle einen Ruck geben und die Mordverjährung nach vielen Vorläufen endlich aufheben: ohne inneren Groll, ohne Wenn und Aber. Wir sollten aber auch jede andere Entscheidung hinnehmen. Entscheidend ist, daß wir diese Entscheidung mit Würde treffen, um sie dann gemeinsam zu tragen und zu verteidigen.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Sehr gut!)

    Nicht das in dieser Frage Trennende, sondern das uns im Streben nach Recht und Freiheit Einende muß dieser Entscheidung heute seinen prägenden Stempel aufdrücken.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)