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ID0816601200

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    Plenarprotokoll 8/166 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 166. Sitzung Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 Inhalt: Abweichung von § 60 Abs. 2 GO bei der Beratung der Verjährungsvorlagen . . . 13233 A Eintritt des Abg. Besch in den Deutschen Bundestag für den ausgeschiedenen Abg Carstens (Fehmarn) 13290 A Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung . 13233 B Beratung des Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Hermann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen Unverjährbarkeit von Mord zu der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord zu dem von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurf eines Achtzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes — Drucksachen 8/2539, 8/2616, 8/2653 (neu), 8/3032 — in Verbindung mit Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Achtzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes — Drucksache 8/2653 (neu) — in Verbindung mit Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Her- II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 mann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen Unverjährbarkeit von Mord — Drucksache 8/2539 — in Verbindung mit Beratung der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord — Drucksache 8/2616 — Dr. Mertes (Gerolstein) CDU/CSU . . . . 13234 A Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD . . . . 13239 B Kleinert FDP 13243 C Hartmann CDU/CSU 13247 C Dr. Vogel (München) SPD . . . . . . 13252 A Gattermann FDP . . . . . . . . . 13254 C Gerster (Mainz) CDU/CSU . . . . . . 13257 B Dr. Dr. h. c. Maihofer FDP . . . 13260 A, 13292 A Dr. Emmerlich SPD . . . . . . . 13265 B Helmrich CDU/CSU 13268 A Sieglerschmidt SPD 13269 C Frau Matthäus-Maier FDP . . . . . . 13272 B Dr. Lenz (Bergstraße) CDU/CSU 13274 D Dr. Weber (Köln) SPD 13277 D Ey CDU/CSU 13281 C Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 13282 B Blumenfeld CDU/CSU 13285 C Cronenberg FDP 13287 B Dr. Bötsch CDU/CSU . . . . . . . . . 13288 A Erhard (Bad Schwalbach) CDU/CSU . . . 13294 B Dürr SPD 13296 C Engelhard FDP 13298 D Dr. Gradl CDU/CSU 13301 A Thüsing SPD 13303 A Dr. Wendig FDP 13305 D Namentliche Abstimmungen . . 13290 A, 13292 B, 13308 A, 13311 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Sechsten Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes — Drucksache 8/3027 — Pfeifer CDU/CSU . . . . . . . . . . 13308 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Gesetz zur Neufassung des Umsatzsteuergesetzes und zur Änderung anderer Gesetze — Drucksache 8/3028 Westphal SPD 13309 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Gesetz zur Änderung des Gesetzes über technische Arbeitsmittel und der Gewerbeordnung — Drucksache 8/3029 — Jahn (Marburg) SPD 13313 B Nächste Sitzung 13313 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 13315* A Anlage 2 Erklärung des Abg. Dr. Penner (SPD) nach § 59 GO zu Punkt 1 der Tagesordnung . . 13315*A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 13233 166. Sitzung Bonn, den 3. Juli 1979 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich Dr. Arnold 4. 7. Bayha 4. 7. Dr. Böhme (Freiburg) 4. 7. Büchner (Speyer) * 4. 7. Dr. Dübber 3. 7. Dr. h. c. Kiesinger 4. 7. Koblitz 4. 7. Dr. Müller ** 4. 7. Picard 4. 7. Scheffler ** 4. 7. Frau Schlei 4. 7. Dr. Schmitt-Vockenhausen 4. 7. Spilker 4. 7. Volmer 4. 7. Walkhoff 4. 7. Dr. Wulff 4. 7. Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Dr. Penner (SPD) nach § 59 GO zu Punkt 1 der Tagesordnung Ich stimme einer angestrebten Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord nicht zu. Ich bin der Meinung, daß sich das abgestufte System der Verjährungsfristen im Strafgesetzbuch, in das auch schwerste Straftaten wie Mord einbezogen sind, bei allen eingeräumten Unzulänglichkeiten bewährt hat. Die zeitliche Begrenzung der staatlichen Verfolgungspflicht für Straftaten beruht auch auf der Erkenntnis, daß die Möglichkeiten der Wahrheitsfindung im Strafprozeß um so brüchiger und fragwürdiger werden, je mehr Zeit zwischen Tat und Ahndung verstrichen ist. Ich halte es daher für richtig und auch geboten, wenn der Gesetzgeber diese Regelerfahrung gesetzlich absichert und damit den Strafverfolgungsorganen eine Pflicht abnimmt, der sie auch bei bestem Wollen und Können nicht gerecht werden können. Hinweise auf ausländische Rechtsordnungen und frühere deutsche und romanische Rechtsinstitute halte ich für bemerkenswert, aber für nur bedingt aussagekräftig, da bei einem Vergleich die gesamten Verfahrensordnungen mit allen Möglichkeiten und Hemmnissen besonders des Beweisrechts gegenüber gestellt werden müssen. Der Anlaß für die Initiative ist ebenso beklemmend wie säkulär. Es geht nicht einfach um eine Neufassung des Verjährungssystems, es geht um die Frage, ob besonders Mordtaten der NS-Zeit über gesetzliche Verjährungsvorschriften einer Strafverfolgung entzogen sein können oder nicht. Das Für und Wider ist in den bewegenden Debatten der 60er * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlagen zum Stenographischen Bericht Jahre und in den Diskussionen aus jüngster Zeit engagiert, behutsam und sorgfältig beleuchtet worden. Ich bin aber der Meinung, daß es statthaft sein darf, bei der Entscheidung auch berufsbedingte Erfahrungen miteinzubeziehen, die mehr die praktische Auswirkung der Gesetzesänderung betreffen. Ich neige mehr und mehr zu der Auffassung, daß der in den 60er Jahren beschrittene Weg der Ausdehnung der Verjährungsfristen nicht richtig gewesen ist. Dabei will ich nicht verschweigen, daß ich dies seinerzeit anders gesehen habe. Aber im Verlaufe einer beruflichen Tätigkeit, bei der ich mit der Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen zu tun hatte, sind mir zunehmend Zweifel gekommen. Und das, obwohl die nazistische Wirklichkeit mit Genozid, mit Vernichtungs- und Konzentrationslagern, mit Massen- und Einzelmorden durch Akten und Zeugenaussagen erdrückend bestätigt wurde. Aber im Strafprozeß geht es nicht allein um Tatgeschehen, sondern auch um persönliche Verantwortung, um Schuld. Der Nachweis individueller Schuld war schon früher aus vielerlei Gründen kaum oder gar nicht möglich. Das ist auch nach der Erweiterung der Verjährungsfrist auf 30 Jahre noch problematischer geworden. Nicht nur statistische Hinweise geben darüber Aufschluß. Selbst das deutsch-französische Rechtshilfeabkommen des Jahres 1971, das die Verfolgungssperren des Überleitungsvertrages für deutsche Behörden lockerte, hat die strafrechtliche Bewältigung der Judendeportationen aus Frankreich nicht unterstützen können, wie man hört. Ich bin der Meinung, daß unter den gegebenen Umständen die Beibehaltung des geltenden Verjährungsrechts verantwortet werden kann. Nach meiner Erfahrung dürfte die Entdeckung neuer Sachverhalte mit der Folge strafrechtlicher Verurteilung zwar nicht ausschließbar, aber nahezu ausgeschlossen sein. Aller Voraussicht nach wird ein berechtigtes Sühnebedürfnis nicht mehr gestillt werden können. Daher halte ich es aus meiner Sicht nicht für erträglich, Zeugen, die Schwerstes erlitten und durchlitten haben, den Lasten und Beschwernissen, ja den Qualen von Vernehmungen über die gegebenen Unumgänglichkeiten hinaus auszusetzen. Daß nach Eintritt der Verjährungsfrist unentdeckte NS-Mörder sich ihrer Untaten öffentlich rühmen könnten, ist eine theoretische Möglichkeit, hat aber mit der Verjährungsproblematik nichts zu tun. Für schon Abgeurteilte oder außer Verfolgung gesetzte NS-Täter sind eher Stichworte wie „Leugnen", „Verkleinern", „Es war eben Krieg" und in Einzelfällen auch Reue kennzeichnend. Eine Neigung zu öffentlicher Erörterung dieser Vergangenheit besteht bei diesem Tätertyp nach den bisherigen Erfahrungen hingegen kaum. Für die Zukunft muß eine stetig zunehmende Zahl von Fehlbeurteilungen der Strafverfolgungsorgane befürchtet werden. Das wird für die schon anhängigen Verfahren unumgänglich sein. Die Gründe lie- 13316* .Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 gen durchweg in der Beweisnot der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Die Aufhebung der Verjährungsfrist hätte zur Folge, daß zu allen neuen Vorgängen materielle Entscheidungen über Schuld oder Unschuld erforderlich würden. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß diese durchweg Einstellungsverfügungen und Freisprüche sein werden. Ich hielte das für bedrückend, weil mit diesen staatlichen Akten, deren Qualität nicht anders ausfallen kann und wird, Geschichtslegenden gebildet und unterstützt werden können. Aus meiner Sicht ist daher das aus dem geltenden Recht folgende Offenhalten der strafrechtlichen Schuldfrage nach Ablauf der Verjährungsfrist auch der politische richtige Weg. Ich weiß, daß diese Überlegungen nur einen Teil der Fragen und Bedrängungen ausmachen. Für mich sind sie entscheidend. Eine neue gesetzliche Regelung muß sich auch an ihren Möglichkeiten und Grenzen messen lassen. Dem Anspruch der Opfer, der Betroffenen auf sühnende Gerechtigkeit kann nicht über eine Ausweitung des Verjährungsrechts Genüge geschehen. Ich meine, daß dies auszusprechen auch zur parlamentarischen Verantwortlichkeit gehört. Ich wage es daher, nein zu sagen.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hans-Jochen Vogel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Geschichte ist nicht arm an Beispielen für Konflikte zwischen der Macht und dem Recht, zwischen der Gewalt und der ethisch fundierten Norm. Selten indes sind Macht und Recht, Gewalt und Norm, Willkür und Wert so elementar aufeinandergeprallt wie in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. In diesen zwölf Jahren hat die Macht, hat willkürliche Macht dem Recht immer wieder Gewalt angetan und es auch pervertiert, jedenfalls das positive Recht, die in die äußeren Formen des Gesetzes und der Verordnung gekleideten Regeln und Vorschriften.
    Aus diesem Geschehen hat unsere Rechtsordnung seit Gründung der Bundesrepublik vielfältige Folgerungen gezogen. Unser Grundgesetz und zahlreiche andere wichtige Rechtsnormen hätten nicht den Inhalt, den sie heute haben, wenn in unser Recht nicht die geschichtliche Erfahrung jener Schreckenszeit eingegangen wäre.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Sehr richtig!)

    Und das ist gut so. Denn Rechtspolitik wird nicht im luftleeren Raum betrieben, Rechtspolitik muß sich auch mit der Geschichte auseinandersetzen.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Da sind wir uns alle einig!)

    Die Diskussion, in der wir heute miteinander beraten und miteinander ringen, gehört in diesen Zusammenhang.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Das ist wahr!)

    Auch hier geht es darum, ob ein schrecklicher Machtmißbrauch, nein, der schrecklichste Mißbrauch während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, nämlich die massenhaften Tötungsverbrechen, eine Rechtsänderung, nämlich die Änderung unseres Verjährungsrechts, erforderlich macht.
    Diese Diskussion hat vor ziemlich genau 20 Jahren, im Jahre 1960, begonnen. Damals verlangte die SPD-Fraktion, die drohende Verjährung der Totschlagsverbrechen abzuwenden. In diesem Zusammenhang, also vor fast zwei Jahrzehnten, tauchte auch bereits die Frage auf, ob nicht die Verjährung der Strafverfolgung von Morden überhaupt aufgehoben werden müsse. Heute sind wir am Ende dieser Diskussion angelangt. Heute müssen wir die Frage, die Adolf Arndt und Ernst Benda 1965 übereinstimmend formulierten und übereinstimmend mit Ja beantworteten, endgültig entscheiden.
    Die Entscheidungen der Jahre 1965 und 1969, die Verjährungsfristen um viereinhalb und dann noch einmal um zehn Jahre zu verlängern, waren — das hat sich heute herausgestellt — nur Zwischenbescheide, Bescheide, die das Problem vertagten, die es nicht lösten. Wir müssen endgültig auch in dem
    Sinn antworten, daß uns eine abermalige Korrektur nicht erlaubt sein wird.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

    Die Antwort, um die wir heute in Ernst und Verantwortung ringen, muß Ja oder Nein lauten. Eine erneute Verlängerung der Frist läge zwischen Ja und Nein. Sie wird von niemand befürwortet. Zwischen Ja und Nein läge aber auch jede Lösung, die nur einen Teil der Morde von der Verjährung ausnehmen wollte. Solche Vorschläge gibt es. Ich respektiere die Motive solcher Vorschläge; ja, ich danke den Kollegen Maihofer und Erhard dafür, daß sie diese Vorschläge gemacht haben. Sie haben uns dadurch Anlaß gegeben, die ernsten und schwierigen Fragen, die hier zu erwägen sind, noch einmal mit großem Ernst zu bedenken.
    Ich trete ausdrücklich einzelnen ausländischen — und in dieser Minute muß ich hinzufügen: auch inländischen — Stimmen entgegen, die aus der Haltung. gegenüber der Verjährungsfrage oder gar aus den zur Debatte stehenden Vorschlägen Schlüsse auf die Haltung gegenüber den nationalsozialistischen Verbrechen ziehen wollen. Das ist unzulässig und unbegründet.

    (Beifall bei allen Fraktionen)

    Genauso unzulässig und unbegründet ist es allerdings, auch nur andeutungsweise Parallelen zwischen der Freislerschen Verordnung über die Durchbrechung eingetretener Verjährung und der heute zur Beratung stehenden Vorlage zu ziehen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

    Ich wiederhole es in großem Ernst: Ich respektiere die Motive des Antrags, den Kollege Maihofer schon gestellt hat, und auch die des Antrags, den Kollege Erhard bei den Beratungen des Rechtsausschusses zur Erwägung gegeben hat. Aber ich warne vor der Annahme dieser Anträge. Nach meinem Urteil bedeutet jeder dieser Vorschläge im Ergebnis Sonderrecht. Jeder läuft darauf hinaus, daß Morde unverfolgbar werden, und zwar gerade auch Morde aus der Schreckenszeit. Jeder der beiden Vorschläge löst in jedem einzelnen Strafverfahren eine neue Verjährungsdebatte aus, trägt der Justiz das zur Entscheidung auf, was hier bei Annahme des einen oder anderen Antrags nicht entschieden würde. Jeder dieser Vorschläge bewirkt oder beschwört dort nach Anhörung der Sachverständigen die ernste Gefahr herauf, daß auch schon wegen Mordes Angeklagte, ja, sogar wegen Mordes in erster Instanz Verurteilte außer Verfolgung gesetzt werden müssen. Das in § 2 Abs. 3 des Strafgesetzbuches und in Art. 15 des UN-Menschenrechtspaktes normierte rechtsstaatliche Prinzip, demzufolge bei Rechtsänderungen zwischen der Tat und der Aburteilung das mildeste Gesetz anzuwenden ist, führt dorthin. Wer, so frage ich, könnte auch nur die ernste Gefahr, daß solche Entscheidungen getroffen werden, den Opfern und ihren Angehörigen wirklich zumuten, zudem noch mit einem Entwurf, der ja — und da besteht



    Dr. Vogel (München)

    Übereinstimmung — die Aufhebung der Verjährung zum Ziel hat?
    Dennoch haben diese Vorschläge ihr Gutes. Sie zeigen nämlich, daß auch Kolleginnen und Kollegen, die zunächst die Beibehaltung der Verjährung als ein zwingendes Gebot der Rechtsstaatlichkeit bezeichnet haben, nunmehr Ausnahmen von einem solchen Gebot anerkennen. Damit ist der Gegensatz zwischen diesen Kolleginnen und Kollegen und denen, die wie ich die Verjährung für Mord insgesamt aufheben wollen, kein prinzipieller, kein qualitativer mehr — da stimme ich dem Kollegen Hartmann zu —, sondern nur noch ein gradueller, nämlich ein Meinungsunterschied darüber, wie weit die Ausnahmen von der Verjährbarkeit reichen müssen, um den furchtbaren Erfahrungen unserer jüngeren Geschichte gerecht zu werden.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Es ist nicht mehr die Frage des Ob, sondern die Frage des Inwieweit. Ich appelliere an diese Kolleginnen und Kollegen und bitte sie, nicht auf halbem Weg stehenzubleiben. Ich bitte sie, die Frage, ob die Verjährung für Mord aufgehoben werden soll, mit Ja zu beantworten und dieser Antwort so zu einer breiten, nicht nur zu einer knappen Mehrheit zu verhelfen.
    Mord soll, nein, Mord darf in unserer Republik nicht mehr verjähren. Von der Richtigkeit dieses Satzes bin ich jetzt, nach den sorgfältigen Beratungen der letzten Wochen und Monate, tief überzeugt. Folgendes sind meine beiden Gründe.
    Ich halte erstens dafür, daß jeder Mord, der nach dem 31. Dezember 1979 bekannt wird und dann nicht mehr verfolgt werden kann, den Rechtsfrieden auf das schwerste erschüttern würde, auch dann, wenn der Mörder still nach Deutschland zurückkehrt und selbst über seine Taten schweigt.
    Der Fall des stellvertretenden KZ-Kommandanten Gustav Wagner, der dem Haftbefehl nach für einen Zeitraum von knapp 18 Monaten, nämlich für die kurze Spanne zwischen dem Frühjahr 1942 und dem Herbst 1943, 150 000fachen Mord im Lager Sobibor zu verantworten haben soll, hat uns erschreckend vor Augen geführt, was es für die Opfer und darüber hinaus für alle menschlich Denkenden bedeutet, wenn ein solcher Mann infolge des Eintritts der Verjährung — und sei es auch nur nach fremdem Recht — nicht mehr verfolgt werden kann und dann seinerseits durch seinen Anwalt sogar noch Schadenersatzansprüche gegen die Bundesrepublik geltend macht!

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

    Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich möchte fast beschwörend sagen: Sage doch bitte keiner, ein solcher Fall sei nach unserem Recht nicht denkbar, die Verjährung sei in allen vergleichbaren Fällen unterbrochen! Wer will denn schon im Ernst die Hand dafür ins Feuer legen, daß alle angeblich toten Massenmörder, die nach den Bekundungen in den Akten tot sein sollen, wirklich tot sind? Was dann, so frage ich, wenn der erste dieser „Toten" in seine Heimat zurückkehrt?

    (Mattick [SPD]: Sehr wahr!)

    Überhaupt mißtraue ich allen Vorhersagen, daß dieses oder jenes nicht mehr eintreten werde, daß alles bekannt sei, daß alle Fälle bestimmter Verbrechen bereits restlos abgeurteilt seien. Dreimal schon, 1960, 1965 und 1969, haben sich solche Voraussagen durch die amtierenden Justizminister, die sicher subjektiv im besten und ehrlichsten Glauben ausgesprochen wurden, als falsch und durch die Tatsachen überholt erwiesen.
    Ich halte zum zweiten dafür, daß wir nach den millionenfachen Morden Zeichen aufrichten müssen, Zeichen, die der Furchtbarkeit des Geschehens entsprechen. Wir wissen heute, daß nicht der Himmel, wohl aber die Hölle, von Menschen bereitet, auf Erden möglich ist. Papst Johannes Paul II., der heute schon zitiert wurde, hat vor knapp einem Monat Auschwitz das „Golgatha unserer Zeit", das „Golgatha der Gegenwart" genannt.

    (Zuruf des Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] [CDU/CSU])

    Daran — dies ist meine Überzeugung — kann unser Recht nicht vorübergehen.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

    Die Abschaffung der Todesstrafe im Grundgesetz war ein solches Zeichen; übrigens: die völlige Abschaffung der Todesstrafe, nicht nur ihre Abschaffung für den Bereich, in dem sie mißbraucht wurde.
    Die Aufhebung der Verjährung für Mord würde ein zweites Zeichen sein — auch hier die völlige Aufhebung, nicht nur die Aufhebung für einzelne, genau ausgezirkelte Bereiche des Mordes. Sie würde ein Zeichen für die radikale Absage an das Verwerflichste der Schreckensherrschaft sein, nämlich an das Mörderische, das Lebensvernichtende am Nationalsozialismus, ein Zeichen auch für den Ernst, mit dem wir den ersten Sätzen unseres Grundgesetzes gerecht werden sollen, die unter dem nahen Eindruck der Schreckensherrschaft geschrieben wurden, den Sätzen, die da lauten: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." — Auch der Gesetzgebung.
    Sie würde schließlich auch ein Zeichen für die junge Generation setzen, der wir doch verstärkt nahebringen wollen, was damals an Furchtbarem geschehen ist. Wie eigentlich könnten wir der jungen Generation erklären, daß es sich um Verbrechen handelt, die in unserer Geschichte ihresgleichen suchen, wenn wir gleichzeitig darauf verzichten, solche zur Verantwortung zu ziehen, die diese Verbrechen begangen zu haben im dringenden Verdacht stehen?

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

    Diese beiden Gründe als Resümee aus einer langen Diskussion wiegen für mich schwerer als alle



    Dr. Vogel (München)

    Bedenken, vor denen ich die Augen nicht verschließe und die ich durchaus respektiere.
    Adorno hat nach dem Kriege einmal gesagt, daß nach Auschwitz nie wieder ein Gedicht geschrieben werden könne. Wer schon einmal dort war — viele von uns waren es —, wer dort an der schwarzen Wand gestanden, wer in dem Bunker gewesen ist, in dem Maximilian Kolbe verhungert ist, wer in Birkenau die Rampe gesehen hat, kann diesen Gedanken nachempfinden. Das Leben hat diesen Satz widerlegt.
    Ein anderer Satz aber ist, so meine ich, auch um unserer eigenen Selbstachtung willen notwendig, der Satz nämlich, daß nach Auschwitz in Deutschland kein Mord mehr verjähren darf. Wir haben doch in der Mehrheit dieses Hauses diesem Satz bis jetzt durch zwei Gesetzesänderungen — 1965 und 1969 — Geltung verschafft, wohl auch aus dem Gefühl, ja, aus dem sicheren Instinkt heraus, daß es anders nicht sein dürfe. Lassen Sie uns diesen Satz heute ausdrücklich und endgültig in unser Recht aufnehmen!
    Ich komme zum Schluß. In dieser Debatte ist — auch heute — immer wieder und zu Recht Adolf Arndt zitiert worden. Er ist besonders häufig auch von denen zitiert worden, die sich mit ihren Gründen für die Verjährung aussprechen. Ich bitte gerade diese Kolleginnen und Kollegen, noch einmal zu bedenken, was Adolf Arndt am Ende seiner denkwürdigen Rede von dieser Stelle aus am 10. März 1965 gesagt hat, am Ende der Rede, in der er sich für die Aufhebung der Verjährung für Mord aussprach. Er schloß mit den Worten:
    Was haben wir zu tun? Wir haben nicht nur daran zu denken, daß der Gerechtigkeit wegen, auf die wir uns berufen, die überführten Mörder abgeurteilt werden sollen, sondern wir haben auch den Opfern Recht zuteil werden zu lassen schon allein durch den richterlichen Ausspruch, daß das ... ein Mord war. Schon dieser Ausspruch ist ein Tropfen, ein winziger Tropfen Gerechtigkeit, der doch zu erwarten ist zur Ehre aller derer, die in unbekannten Massengräbern draußen in der Welt liegen.
    Und er fuhr fort:
    Nicht daß wir Jüngstes Gericht spielen wollen; das steht uns nicht zu. Nicht daß es hier eine justitia triumphans
    — eine triumphierende Justiz —
    gäbe! Es geht darum, eine sehr schwere ... Last und Bürde auf uns zu nehmen. Es geht darum, daß wir dem Gebirge an Schuld und Unheil, das hinter uns liegt, nicht den Rücken kehren, sondern daß wir uns als das zusammenfinden, was wir sein sollen: kleine, demütige Kärrner, Kärrner der Gerechtigkeit, nicht mehr.
    Meine sehr verehrten Damen und Herren, anderes, geschweige Besseres wüßte ich zum Schluß meiner Darlegungen nicht zu sagen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)



Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gattermann.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Hans H. Gattermann


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich stimme dem Kollegen Dr. Mertes zu, daß es weniger eine rechtliche, weniger eine politische als eine moralische Frage ist, die wir hier heute zu entscheiden haben, daß wir abzuwägen haben zwischen verschiedenen Grundwerten. Im Ergebnis komme ich zu einem anderen Ziel.
    Niemand in diesem Hause, niemand in diesem Lande würde über die Aufhebung der Verjährung für Mord sprechen, gäbe es die unvorstellbaren Greuel- und Massenmorde aus der Nazizeit nicht. — So sagen es viele, und ehrenwert ist die Überzeugung, aus der heraus so argumentiert wird. — Niemand in diesem Lande und anderswo habe außerhalb der NS-Problematik in überschaubarer Vergangenheit jemals die Aufhebung der Mordverjährung gefordert. — Ehrenwert sind die Motive, aus denen heraus diese rechtspolitische Tatsachenforschung angestellt wurde. — Niemand in diesem Lande empfinde es als unerträglich, wenn ein unentdeckt gebliebener „normaler Mörder" — welch schreckliches Wort! — nach 30 Jahren ungeschoren davonkomme. — Wiederum ehrenwert ist der Eifer, mit dem dies behauptet wird. — Folglich gehe es den Befürwortern der Aufhebung der Mordverjährung allein darum, ungesühnte Nazimorde auch nach Ablauf der 30jährigen Verjährungsfrist noch gerichtlich aburteilen zu können. — Natürlich ist auch solches Schlußfolgern ehrenwert.
    Meine Damen und Herren, ich aber sage: Mit solcher Argumentation fügt man nicht nur den Befürwortern der Aufhebung der Mordverjährung Unrecht zu, man verengt auch die moralische Dimension der zur Entscheidung anstehenden Frage. In keinem anderen Rechtsbereich sind die Zusammenhänge zwischen Rechtsnormen und moralischen Wertvorstellungen so eng wie im Strafrecht und im Strafverfahrensrecht. Die moralische Wertung eines Rechtsgutes und das moralische Verdikt über den das Rechtsgut verletzenden Täter kommen aber nicht nur im materiellen Straftatbestand und im angedrohten Strafrahmen zum Ausdruck, vielmehr ist die moralische Sensibilisierung des Staates, der ja allein befugt ist, den Strafanspruch der Rechtsgemeinschaft durchzusetzen, daran abzulesen, nach welchen Regeln er den Strafanspruch verwirklicht. Das Legalitätsprinzip z. B., das ebenso wie Mordverjährung in diesem Lande bis auf eine kurze Unterbrechung in unheilvoller Zeit Tradition hat, ist Ausdruck einer solchen hohen moralischen Verantwortung des Staates gegenüber seiner Pflicht zur Strafverfolgung.
    Ich erwähne dies, weil in den Diskussionen der letzten Wochen bei dem Bemühen, einen Kompromiß in einer Frage zu finden, die nur ein klares Ja oder ein klares Nein ermöglicht, vor diesem Prinzip nicht haltgemacht wurde. Ich warne davor, meine Damen und Herren, Scheinlösungen zu akzeptieren, die unser moralisches und rechtsstaatli-



    Gattermann
    ches Bild nach innen und außen so verwaschen machen, daß unsere in 30 Jahren gewachsene Glaubwürdigkeit daran Schaden nehmen würde.

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD)

    In der Tat, auch das Instrument der Mordverjährung hat bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts und darüber hinausgehend Tradition in diesem Lande. Mit den geltenden moralischen Wertvorstellungen war es also durchaus vereinbar, daß auch die mörderische Lebensvernichtung nach Ablauf von ehedem nur 20 Jahren keine gerichtliche Ahndung mehr erfuhr. Was also hat sich verändert, daß dies so fürderhin nicht mehr gelten soll? Hier nun, meine Damen und Herren, ist der Zusammenhang mit den Verbrechen der Nazi-Zeit — ich sage ganz bewußt: seien sie nun gesühnt oder seien sie ungesühnt — nicht nur nicht zu leugnen, sondern sie sind als das zentrale Entscheidungskriterium herauszustellen.
    Wir, die wir leidvoll haben erfahren müssen, welche Dimension das Verbrechen Mord in der Addition von einzelnen Mordtaten annehmen kann, wenn ein verbrecherischer Staat den Boden bereitet, wir haben besondere Veranlassung, neu zu prüfen, ob der Wert des Rechtsgutes Leben, ob der Unwert der mörderischen Lebensvernichtung noch vereinbar ist mit der Handhabung des Strafverfolgungsanspruchs durch den Staat im Rahmen einer Verjährungsregelung, ob nicht vielmehr der Staat aus seiner Pflicht zur Strafverfolgung erst mit dem biologischen Ende des Täters entlassen werden kann. Es wäre, meine Damen und Herren, so glaube ich, ein Irrweg, sich dieser Fragestellung aus unserer unheilvollen Geschichte dadurch zu entziehen, daß man wegen des unbestreitbaren Unterschiedes zwischen dem Mord im Rechtsstaat und dem Mord im Unrechtsstaat die Frage nur teilweise beantwortet. Vor den lebenden Angehörigen der Opfer des Nazi-Regimes in aller Welt könnten wir vielleicht — ich sage: vielleicht — mit einer solchen Teilantwort bestehen, vor der Geschichte und den nachgeborenen Generationen nach meiner Überzeugung nicht.
    Der Wert des Rechtsgutes Leben läßt eine zeitliche Differenzierung bei der Pflicht zur Anklageerhebung bei Mord je nach den staatlichen Rahmenbedingungen und der Zahl der Opfer nicht zu.

    (Zustimmung bei Abgeordneten der FDP und der SPD)

    Der Satz: „Über einen normalen Mord wächst Gras, über Auschwitz nicht" mag historisch richtig sein, moralisch und rechtspolitisch ist er nach meiner Überzeugung ohne Aussagekraft für eine differenzierte Lösung.

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD)

    Eine Verschiebung moralischer Beurteilungskriterien ist in der Rechtsgeschichte ja nicht gerade etwas Neues, wie daraus abgeleitete Folgerungen für materielles und formelles Strafrecht nichts Ungewöhnliches sind. Solche Rechtsänderungen auf Grund veränderter Wertvorstellungen stehen am
    Ende evolutionärer gesellschaftlicher Prozesse, sie können aber auch am Ende kurzer, verdichteter, mit schmerzhaften Erfahrungen verbundener Zeitläufe stehen.
    Lassen Sie mich für die erste Alternative auf ein Beispiel verweisen, das in der umgekehrten Richtung liberalisierende Wertverschiebungen belegt. Die gemeinrechtliche Wissenschaft des 16. Jahrhunderts, die auf der Grundlage des römischen Rechts noch von prinzipieller Verjährbarkeit von Straftaten ausging, wollte den Ehebruch als Straftatbestand, weil besonders verwerflich, unverjährbar stellen. Heute ist dieser Straftatbestand entfallen. In der gesellschaftlichen Wertung ist die moralische Verurteilung in weiten Bevölkerungskreisen auf die Verletzung eines zwischen zwei Partnern wirkenden Treuegelöbnisses reduziert.
    Meine Damen und Herren, für die zweite von mir genannte Alternative ist der Beleg sehr einfach. Unsere Verfassung, insbesondere die Grundrechte unserer Verfassung, und eine Vielzahl von Einzelgesetzen sind von Grundwerten geprägt, deren Vorhandensein, mindestens aber ihre stringente Akzeptierung aus dem zwölfjährigen Erleben des Unrechtsstaates erwachsen sind.
    Warum aber werden die Konsequenzen in der Mordverjährungsfrage erst 34 Jahre nach Ende der Nazi-Herrschaft gezogen? Warum hat der Deutsche Bundestag in den 50er Jahren bei der Durchforstung der Gesetze nach nazistischem Gedankengut und bei der Überprüfung aller Vorschriften auf Grund der Erfahrungen der Nazi-Zeit keine Veranlassung gesehen, die traditionelle Mordverjährungsregelung zu ändern?
    Warum hat der Deutsche Bundestag 1965 und 1969, jeweils gezielt auf die Frage der Verfolgung von NS-Morden, Kompromißregelungen getroffen? Warum hat der von mir so hochgeschätzte Thomas Dehler, beharrend auf geltendem Verjährungsrecht aus tiefster Überzeugung, den unbeugsamen Willen zum Recht als Mittel zur Bewältigung der Vergangenheit angeboten?
    Meine Damen und Herren, ich bin weit davon entfernt, hier irgend jemandem irgendeinen Vorwurf zu machen, wie ich meinen vollen Respekt den Kolleginnen und den Kollegen zum Ausdruck bringen will, die auch heute noch an der traditionellen Mordverjährung festhalten wollen.
    Dennoch aber muß der Versuch unternommen werden, auf die gestellte Frage eine Antwort zu geben. Bei dieser Antwort kann es sich allerdings nur um den Ausdruck einer subjektiven Überzeugung handeln, weil die Antwort nur zum geringsten Teil auf der Beurteilung feststellbarer Fakten, im wesentlichen aber auf der Beurteilung innerer Vorgänge beruht.
    Das schreckliche Miterleben des Nazi-Regimes und des zweiten Weltkrieges, die Betroffenheit aus der Erkenntnis des ganzen Ausmaßes der Verbrechen, die selbstquälerischen Fragen, was man selbst getan oder unterlassen hat, um das Schreckliche zu fördern, haben viele der Männer geprägt, die diesen freiheitlichen Rechtsstaat auf deutschem



    Gattermann
    Boden geschaffen haben. Anfangs fehlte ihnen auf Grund eingeschränkter Souveränität das Recht und damit aber auch die Verpflichtung zur strafrechtlichen Aufarbeitung jener Verbrechen, für deren Art und Ausmaß es in der Geschichte keine Vorbilder gab. Und es fehlte ihnen der zeitliche Abstand, um emotionsfrei alle Grundwerte und ihre instrumentale Handhabung in der Praxis zu überprüfen. Deshalb ist mir der leidenschaftliche Appell Thomas Dehlers zum unbeugsamen Festhalten am Recht, hier bezogen auf ein 150 Jahre altes Rechtsinstrument, völlig verständlich, was mich, meine Damen und Herren, der ich damals Kind war, allerdings nicht von der Verpflichtung freistellt, mit dem nunmehr gegebenen zeitlichen Abstand diese damalige Wertung nachzuvollziehen und das damalige Ergebnis zu verwerfen.
    Dabei ist ein entscheidender Gesichtspunkt, daß wir heute, anders als damals, nach gefestigter Rechtsprechung und wissenschaftlicher Erkenntnis wissen, daß es sich nicht um ein Problem des Rückwirkungsverbots aus Art. 103 des Grundgesetzes handelt.
    Wenn die vorliegende Gesetzesinitiative zum Tragen kommt, wenn für jeden Mörder von damals, von heute und von morgen klar ist, daß die Ahndung seiner Mordtat in diesem Lande unabwendbar ist, wie lange er auch immer unentdeckt geblieben sein mag, dann gehe niemand aus diesem Raum in der Überzeugung, er habe nun alles getan, was zur Aufarbeitung der Erfahrungen und der Verbrechen der Nazizeit getan werden muß.

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD)

    Meine Damen und Herren, es bleibt doch dabei, daß auf Grund der fehlenden Souveränität von damals und der Gnadenpraxis der Siegermächte Täter schlimmsten Kalibers mit lächerlichen Strafen davongekommen sind und heute unter uns leben. Es bleibt doch dabei, daß scheußlichste Verbrechen aller Art verjährt sind, wenn das Opfer nur überlebt hat oder die Tötungshandlung als Totschlag zu klassifizieren ist. Es bleibt dabei, daß Schreibtischtäter so gut wie überhaupt nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden können, und es ist wohl auch richtig, daß nur noch sehr wenige bisher unentdeckt gebliebene Mörder bis hin zur Verurteilung vor Gericht gestellt werden können.
    Meine Damen und Herren, deshalb ist für mich der Vorwurf, den Initiatoren des vorliegenden Gesetzentwurfs gehe es nur darum, einige wenige Nazimörder noch zur Verantwortung zu ziehen, um sich vor der Welt ein Alibi zu verschaffen, so kränkend; denn ich scheue mich nicht, zu sagen, daß ich neben der Scham über das, was im deutschen Namen Schreckliches geschehen ist, auch mit der Tatsache fertig werden muß, daß uns die Möglichkeiten, die Kraft und die Einsicht nach dem Ende der Schreckensherrschaft gefehlt haben, das Geschehene angemessen und schnell strafrechtlich aufzuarbeiten.
    Es bleibt für jeden von uns die unerfüllte und als Daueraufgabe in die Zukunft wirkende Aufgabe
    der geistigen und politischen Auseinandersetzung mit dem Faschismus mit dem Ziel, das unverwechselbare Bild jedes einzelnen Menschen, insbesondere — im Zusammenhang unserer Debatte — seine körperliche Integrität, im freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen zu bewahren gegen nationalistische Hybris, gegen ideologische und rassistische Heilslehren, aber auch gegen unmenschliche bürokratische Verplanung.
    Meine Damen und Herren, nichts ist mehr gefährdet — und das gilt zeitlos — als der Mensch, seine Würde, seine Freiheit und sein Leben. Es geht also in der Tat wirklich um die rechtspolitische Frage, ob für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Mord in diesem Lande verjährbar oder unverjährbar sein soll. Ich meine, daß als Lehre aus den Erfahrungen mit dem menschenverachtenden Unrechtsstaat in diesem Lande Mord unverjährbar sein soll. Ich meine, wir verwirklichen damit ein Stück rechtsstaatliche Glaubwürdigkeit.
    Meine Damen und Herren, diese moralischen Überlegungen — wenn Sie so wollen — sind für meine Fraktionsfreunde und mich, die wir den vorliegenden Gesetzentwurf unterstützen, die die Entscheidung tragenden Gründe. Dahinter treten die vielen mehr oder minder wichtigen Argumente und Zweckmäßigkeitserwägungen zurück, die hier in der ersten Lesung ausgetauscht worden sind; denn für jedes dieser Argumente gibt es ein ebenso überzeugendes Gegenargument. Da ist die allgemeine Beweisnot, der die verbesserte Kriminaltechnik der Spurensicherung und ihrer Konservierung entgegenzuhalten ist. Da ist die besondere Zeugenbeweisnot, die dann wohl auch bei Gerichtsverfahren nach Ablauf von 30 Jahren und vorheriger Verjährungsunterbrechung gilt. Da ist die Qual der Zeugen, Schreckliches aus der Erinnerung wiederbeleben zu müssen, was mit der Überlegung zu beantworten ist, daß diese Not des Opferzeugen zu jedem Prozeßzeitpunkt besteht. Da ist die beschworene Gefahr von Fehlurteilen, der die rechtsstaatliche Unschuldsvermutung entgegenzusetzen ist. Es wird die Überforderung der Richter angeführt, obwohl die Richter doch wohl zu jedem Prozeßzeitpunkt ein ungewöhnlich schweres und verantwortungsvolles Amt übernommen haben. Da wird auf die Schwierigkeiten der Abgrenzung zwischen Mord und Totschlag hingewiesen, die nicht zu leugnen sind, die bisher aber nicht gehindert haben, die Verjährungsfristen für Mord und Totschlag um 100 %, nämlich 15 und 30 Jahre, divergieren zu lassen. Da wird der Rechtsfrieden bemüht, was sich die Frage gefallen lassen muß, wessen Rechtsfrieden hier gemeint ist, der der Täter, der der Opfer und ihrer Angehörigen oder der der Unbeteiligten.

    (Beifall bei der FDP und der SPD — Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Eine Verengung des Begriffs!)

    Da ist von der mangelnden Resozialisierungsbedürftigkeit die Rede, was als Argument mit der obligatorischen lebenslangen Freiheitsstrafe für Mord



    Gattermann
    wohl nicht zu vereinbaren ist. Kurz: Auf dieser Argumentationsebene gibt es gute Gründe für die Beibehaltung der Mordverjährung, wie es gute Gründe für deren Abschaffung gibt.
    Meine Damen und Herren, ich will Ihnen zum Schluß sagen, warum ein Liberaler so wie meine Freunde und ich entscheidet, bei dem doch das Schuldstrafrecht, die Resozialisierung des Täters im Vordergrund strafrechtlicher Überlegungen steht. Die Antwort, so glauben wir, ist sehr einfach: Subjektive Schuld dieser Dimension wird durch bloßen Zeitablauf nicht kompensiert.

    (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei der CDU/CSU)

    Und Fragen der Resozialisierung gehören primär in' die Zeit nach der Urteilsverkündung, sie gehören im Rahmen der Strafzumessung auch in das Gerichtsverfahren. Sie entscheiden aber, bitte schön, nicht über die Frage, ob Anklage erhoben werden soll oder nicht.

    (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei der CDU/CSU)

    Im übrigen: Ein Staat, der im Rahmen des Legalitätsprinzips jeden entdeckten Mörder zu jeder Zeit vor Gericht stellt, muß und soll deshalb der Gnade nicht entraten.

    (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei der CDU/CSU)