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ID0816600400

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    Plenarprotokoll 8/166 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 166. Sitzung Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 Inhalt: Abweichung von § 60 Abs. 2 GO bei der Beratung der Verjährungsvorlagen . . . 13233 A Eintritt des Abg. Besch in den Deutschen Bundestag für den ausgeschiedenen Abg Carstens (Fehmarn) 13290 A Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung . 13233 B Beratung des Bericht des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Hermann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen Unverjährbarkeit von Mord zu der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord zu dem von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurf eines Achtzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes — Drucksachen 8/2539, 8/2616, 8/2653 (neu), 8/3032 — in Verbindung mit Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wehner, Ahlers, Dr. Ahrens, Amling, Dr. Apel und Genossen und den Abgeordneten Dr. Wendig, Gattermann, Frau Dr. Hamm-Brücher und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Achtzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes — Drucksache 8/2653 (neu) — in Verbindung mit Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gradl, Katzer, Blumenfeld, Dr. Mikat, Dr. Biedenkopf, Josten, Dr. Müller-Her- II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 mann, Gerster (Mainz), Wohlrabe, Frau Dr. Riede (Oeffingen), Kittelmann, Breidbach, Frau Pieser, Luster, Reddemann, Schröder (Lüneburg), Dr. Pfennig, Frau Berger (Berlin), Stommel, Conrad (Riegelsberg), Dr. Stercken, Russe, Frau Dr. Wisniewski, Schartz (Trier) und Genossen Unverjährbarkeit von Mord — Drucksache 8/2539 — in Verbindung mit Beratung der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Unverjährbarkeit von Völkermord und Mord — Drucksache 8/2616 — Dr. Mertes (Gerolstein) CDU/CSU . . . . 13234 A Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD . . . . 13239 B Kleinert FDP 13243 C Hartmann CDU/CSU 13247 C Dr. Vogel (München) SPD . . . . . . 13252 A Gattermann FDP . . . . . . . . . 13254 C Gerster (Mainz) CDU/CSU . . . . . . 13257 B Dr. Dr. h. c. Maihofer FDP . . . 13260 A, 13292 A Dr. Emmerlich SPD . . . . . . . 13265 B Helmrich CDU/CSU 13268 A Sieglerschmidt SPD 13269 C Frau Matthäus-Maier FDP . . . . . . 13272 B Dr. Lenz (Bergstraße) CDU/CSU 13274 D Dr. Weber (Köln) SPD 13277 D Ey CDU/CSU 13281 C Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 13282 B Blumenfeld CDU/CSU 13285 C Cronenberg FDP 13287 B Dr. Bötsch CDU/CSU . . . . . . . . . 13288 A Erhard (Bad Schwalbach) CDU/CSU . . . 13294 B Dürr SPD 13296 C Engelhard FDP 13298 D Dr. Gradl CDU/CSU 13301 A Thüsing SPD 13303 A Dr. Wendig FDP 13305 D Namentliche Abstimmungen . . 13290 A, 13292 B, 13308 A, 13311 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Sechsten Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes — Drucksache 8/3027 — Pfeifer CDU/CSU . . . . . . . . . . 13308 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Gesetz zur Neufassung des Umsatzsteuergesetzes und zur Änderung anderer Gesetze — Drucksache 8/3028 Westphal SPD 13309 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zum Gesetz zur Änderung des Gesetzes über technische Arbeitsmittel und der Gewerbeordnung — Drucksache 8/3029 — Jahn (Marburg) SPD 13313 B Nächste Sitzung 13313 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 13315* A Anlage 2 Erklärung des Abg. Dr. Penner (SPD) nach § 59 GO zu Punkt 1 der Tagesordnung . . 13315*A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 13233 166. Sitzung Bonn, den 3. Juli 1979 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich Dr. Arnold 4. 7. Bayha 4. 7. Dr. Böhme (Freiburg) 4. 7. Büchner (Speyer) * 4. 7. Dr. Dübber 3. 7. Dr. h. c. Kiesinger 4. 7. Koblitz 4. 7. Dr. Müller ** 4. 7. Picard 4. 7. Scheffler ** 4. 7. Frau Schlei 4. 7. Dr. Schmitt-Vockenhausen 4. 7. Spilker 4. 7. Volmer 4. 7. Walkhoff 4. 7. Dr. Wulff 4. 7. Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Dr. Penner (SPD) nach § 59 GO zu Punkt 1 der Tagesordnung Ich stimme einer angestrebten Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord nicht zu. Ich bin der Meinung, daß sich das abgestufte System der Verjährungsfristen im Strafgesetzbuch, in das auch schwerste Straftaten wie Mord einbezogen sind, bei allen eingeräumten Unzulänglichkeiten bewährt hat. Die zeitliche Begrenzung der staatlichen Verfolgungspflicht für Straftaten beruht auch auf der Erkenntnis, daß die Möglichkeiten der Wahrheitsfindung im Strafprozeß um so brüchiger und fragwürdiger werden, je mehr Zeit zwischen Tat und Ahndung verstrichen ist. Ich halte es daher für richtig und auch geboten, wenn der Gesetzgeber diese Regelerfahrung gesetzlich absichert und damit den Strafverfolgungsorganen eine Pflicht abnimmt, der sie auch bei bestem Wollen und Können nicht gerecht werden können. Hinweise auf ausländische Rechtsordnungen und frühere deutsche und romanische Rechtsinstitute halte ich für bemerkenswert, aber für nur bedingt aussagekräftig, da bei einem Vergleich die gesamten Verfahrensordnungen mit allen Möglichkeiten und Hemmnissen besonders des Beweisrechts gegenüber gestellt werden müssen. Der Anlaß für die Initiative ist ebenso beklemmend wie säkulär. Es geht nicht einfach um eine Neufassung des Verjährungssystems, es geht um die Frage, ob besonders Mordtaten der NS-Zeit über gesetzliche Verjährungsvorschriften einer Strafverfolgung entzogen sein können oder nicht. Das Für und Wider ist in den bewegenden Debatten der 60er * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Anlagen zum Stenographischen Bericht Jahre und in den Diskussionen aus jüngster Zeit engagiert, behutsam und sorgfältig beleuchtet worden. Ich bin aber der Meinung, daß es statthaft sein darf, bei der Entscheidung auch berufsbedingte Erfahrungen miteinzubeziehen, die mehr die praktische Auswirkung der Gesetzesänderung betreffen. Ich neige mehr und mehr zu der Auffassung, daß der in den 60er Jahren beschrittene Weg der Ausdehnung der Verjährungsfristen nicht richtig gewesen ist. Dabei will ich nicht verschweigen, daß ich dies seinerzeit anders gesehen habe. Aber im Verlaufe einer beruflichen Tätigkeit, bei der ich mit der Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen zu tun hatte, sind mir zunehmend Zweifel gekommen. Und das, obwohl die nazistische Wirklichkeit mit Genozid, mit Vernichtungs- und Konzentrationslagern, mit Massen- und Einzelmorden durch Akten und Zeugenaussagen erdrückend bestätigt wurde. Aber im Strafprozeß geht es nicht allein um Tatgeschehen, sondern auch um persönliche Verantwortung, um Schuld. Der Nachweis individueller Schuld war schon früher aus vielerlei Gründen kaum oder gar nicht möglich. Das ist auch nach der Erweiterung der Verjährungsfrist auf 30 Jahre noch problematischer geworden. Nicht nur statistische Hinweise geben darüber Aufschluß. Selbst das deutsch-französische Rechtshilfeabkommen des Jahres 1971, das die Verfolgungssperren des Überleitungsvertrages für deutsche Behörden lockerte, hat die strafrechtliche Bewältigung der Judendeportationen aus Frankreich nicht unterstützen können, wie man hört. Ich bin der Meinung, daß unter den gegebenen Umständen die Beibehaltung des geltenden Verjährungsrechts verantwortet werden kann. Nach meiner Erfahrung dürfte die Entdeckung neuer Sachverhalte mit der Folge strafrechtlicher Verurteilung zwar nicht ausschließbar, aber nahezu ausgeschlossen sein. Aller Voraussicht nach wird ein berechtigtes Sühnebedürfnis nicht mehr gestillt werden können. Daher halte ich es aus meiner Sicht nicht für erträglich, Zeugen, die Schwerstes erlitten und durchlitten haben, den Lasten und Beschwernissen, ja den Qualen von Vernehmungen über die gegebenen Unumgänglichkeiten hinaus auszusetzen. Daß nach Eintritt der Verjährungsfrist unentdeckte NS-Mörder sich ihrer Untaten öffentlich rühmen könnten, ist eine theoretische Möglichkeit, hat aber mit der Verjährungsproblematik nichts zu tun. Für schon Abgeurteilte oder außer Verfolgung gesetzte NS-Täter sind eher Stichworte wie „Leugnen", „Verkleinern", „Es war eben Krieg" und in Einzelfällen auch Reue kennzeichnend. Eine Neigung zu öffentlicher Erörterung dieser Vergangenheit besteht bei diesem Tätertyp nach den bisherigen Erfahrungen hingegen kaum. Für die Zukunft muß eine stetig zunehmende Zahl von Fehlbeurteilungen der Strafverfolgungsorgane befürchtet werden. Das wird für die schon anhängigen Verfahren unumgänglich sein. Die Gründe lie- 13316* .Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 166. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 3. Juli 1979 gen durchweg in der Beweisnot der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Die Aufhebung der Verjährungsfrist hätte zur Folge, daß zu allen neuen Vorgängen materielle Entscheidungen über Schuld oder Unschuld erforderlich würden. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß diese durchweg Einstellungsverfügungen und Freisprüche sein werden. Ich hielte das für bedrückend, weil mit diesen staatlichen Akten, deren Qualität nicht anders ausfallen kann und wird, Geschichtslegenden gebildet und unterstützt werden können. Aus meiner Sicht ist daher das aus dem geltenden Recht folgende Offenhalten der strafrechtlichen Schuldfrage nach Ablauf der Verjährungsfrist auch der politische richtige Weg. Ich weiß, daß diese Überlegungen nur einen Teil der Fragen und Bedrängungen ausmachen. Für mich sind sie entscheidend. Eine neue gesetzliche Regelung muß sich auch an ihren Möglichkeiten und Grenzen messen lassen. Dem Anspruch der Opfer, der Betroffenen auf sühnende Gerechtigkeit kann nicht über eine Ausweitung des Verjährungsrechts Genüge geschehen. Ich meine, daß dies auszusprechen auch zur parlamentarischen Verantwortlichkeit gehört. Ich wage es daher, nein zu sagen.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Herta Däubler-Gmelin


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Frühjahr dieses Jahres haben zahlreiche Kollegen dieses Hauses — ich gehöre zu ihnen — dem Bundestag den Entwurf eines Achtzehnten Strafrechtsänderungsgesetzes vorgelegt. Inhalt dieses Gesetzentwurfs ist es, die Verjährung von Mord generell aufzuheben.
    Das ist bekanntlich der dritte Vorstoß innerhalb von 15 Jahren in diesem Haus, zu dessen Beurteilung wir aufgerufen sind. Wir halten diesen Vorstoß für sehr erforderlich, und zwar im Interesse der Sache, um die es heute bei uns geht.
    Der Anlaß ist heute der gleiche wie vor einem Jahrzehnt und vor 15 Jahren: Es droht die Gefahr
    jetzt mit Ablauf des Jahres 1979 —, daß NS-Mörder nicht länger vor Gericht gestellt werden können, wenn man ihrer habhaft wird, weil ihre Taten dann verjährt wären.
    Was das bedeutet, ist klar. Es bedeutet, daß solche Nazimörder, die es bisher mit welchen Mitteln auch immer geschafft haben, sich verborgen zu halten, im Ausland unterzutauchen oder ihre Verbrechen zu verschleiern, dann von uns keinerlei Verfolgung mehr zu befürchten bräuchten. Sie könnten dann ohne jene Heimlichkeit und Zurückhaltung, ja mit großer Dreistigkeit und ohne ihre Taten wenigstens noch verschweigen zu müssen, unter uns leben. Niemand könnte ihnen noch irgend etwas anhaben oder sie gar zur Rechenschaft ziehen.
    Die Antragsteller würden dies für einen unerträglichen Zustand halten, und zwar auch dann,, wenn wir davon ausgehen können — und wir tun das —, daß nicht mehr Hunderte oder Tausende von Tätern betroffen sein werden. Es mag zutreffen, was uns erfahrene Praktiker sagen: daß die Zahl der noch nicht bekannten in Frage kommenden Mörder nicht groß sei. Für uns ist es eine Frage der Glaubwürdigkeit, unseres Selbstverständnisses, nicht eine Frage der Zahl, und das auch dann nicht, wenn wir heute Einschätzungen nüchtern vernehmen, möglicherweise nüchterner als 1965. Denn damals mögen viele in diesem Haus von der Hoffnung ausgegangen sein, die Zeit bis 1969 werde ausreichen, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen oder wenigstens die Verjährung nach den bestehenden Gesetzen unterbrechen zu können. Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt. Auch die Hoffnung des Jahres 1969, man werde durch eine weitere, diesmal zehnjährige, Verlängerung der Verjährung für Mord von 20 auf 30 Jahren bis zum Ende des Jahres 1979 zu einem endgültigen Abschluß kommen können, hat sich — das sehen wir heute — nicht erfüllt.
    In den derzeitigen Beratungen findet sich dann auch kein Verantwortlicher mehr, der uns mit Ernsthaftigkeit versichern würde, daß weitere Täter, also Mörder mit schwerster Schuld, nicht mehr ermittelt werden können, noch daß die Verjährung in allen in Frage kommenden Fällen schon habe unterbrochen werden können. Im Gegenteil, die Beratungen, die wir in den letzten Monaten im Rechtsausschuß geführt haben, haben unsere Skepsis verstärkt.
    Der für die Zentralstelle zur Aufklärung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen unmittelbar zuständige Justizminister des Landes Baden-Württemberg hat, wie uns in den Beratungen mitgeteilt wurde, erst vor einigen Wochen darauf hingewiesen, daß schon die Personalbesetzung der Zentralstelle in Ludwigsburg nicht ausreichen könne, um den heute vorhandenen Bestand an eingegangenen Ermittlungsakten bis Ende des Jahres 1979 wenigstens soweit aufzuarbeiten, daß fristgemäß nach dem geltenden Recht die Verjährung durch die erforderlichen richterlichen Akte unterbrochen werden könnte, wo dies geboten ist.



    Frau Dr. Däubler-Gmelin
    Ich frage jetzt nicht, warum das so ist. Das ist uns
    bekannt. Ich stelle nur fest, daß wir auch heute durchaus die Sorge haben müssen, daß das, was ich geschildert habe, in manchen Fällen Realität gewinnen kann, wenn wir uns heute — wie ich meine falsch — entscheiden.
    Die Antragsteller würden dies für einen unerträglichen Zustand halten — unerträglich wegen der moralischen, wegen der juristischen und auch wegen der politischen Folgen, die ja dann leicht absehbar wären.
    Die Antragsteller sind deshalb der Meinung, daß der Deutsche Bundestag, daß jeder von uns die Pflicht hat, durch sein Verhalten heute dafür zu sorgen, daß die Voraussetzungen für eine weitere Verfolgung von solchen Mördern über das Jahr 1979 hinaus geschaffen werden und daß damit zugleich der nicht wiedergutzumachende Schaden vermieden wird, der sonst auf uns alle zurückfallen würde.
    In der ersten Lesung vom 29. März dieses Jahres haben wir ausführlich über viele Gesichtspunkte gesprochen, die unserem Antrag im Grundsätzlichen und auch in seiner Ausgestaltung, im Weg, den er vorschlägt, zugrunde liegen. Sie werden es mir nachsehen, daß ich nicht die ganze Diskussion vom März nachzeichne. Lassen Sie mich lediglich auf einige Bedenken eingehen, die uns in den Beratungen der vergangenen Monate im Rechtsausschuß, in Diskussionen innerhalb des Bundestags — auch heute von Kollege Mertes — oder auch in Diskussionen draußen in der Öffentlichkeit immer wieder entgegengehalten worden sind.
    Viele dieser Stimmen, die wir hören, sagen uns, man solle die Verjährung jetzt nicht mehr verlängern, man solle sie schon gar nicht aufheben, wie wir das vorschlagen. Solche Stimmen laufen darauf hinaus, die Verjährung mit Ablauf dieses Jahres eintreten zu lassen. Viele der vorgetragenen Bedenken sind grundsätzlicher Art. Fast nahezu alle sind uns aus den Diskussionen von 1969, ja schon von 1965 durchaus geläufig.
    Wir haben die vergangenen Monate dessen ungeachtet dazu benutzt, unsere Meinung, unsere Argumente, unsere Schlußfolgerungen auch an Hand dieser Einwände nochmals zu durchdenken, unseren Ausgangspunkt nochmals auf seine Stichhaltigkeit zu überprüfen. Ich glaube, dieser Weg war richtig, weil alle diese Einwände seit 1969 eine zusätzliche Dimension erhalten haben, nämlich die des zusätzlichen Zeitablaufs, der inzwischen eingetreten ist. Wir haben die vergangenen Monate im Rechtsausschuß auch dazu benutzt, um uns mit Sachkennern zu beraten. Herr Dr. Rückerl von der Zentralen Stelle in Ludwigsburg hat uns mit Rat und seinen Kenntnissen zur Seite gestanden. Andere erfahrene und auch verantwortliche Persönlichkeiten aus den Ermittlungsbehörden, aus den Gerichten und aus der Wissenschaft haben dankenswerterweise dazu beigetragen, uns umfassende und, wie ich meine, zuverlässige Beurteilungsgrundlagen zu verschaffen. Uns, meine Damen und Herren, die Antragsteller des Gesetzentwurfs, über den wir heute beraten, hat dies in unserer Auffassung noch sicherer gemacht, auch
    dann, wenn wir in den Diskussionen vieles Neue erfahren haben und einige unserer Meinungen durchaus relativieren konnten.
    Niemand in diesem Hause bezweifelt — lassen Sie mich das betonen — den Grundsatz, daß Mörder nach unserer Rechtsordnung, nach dem. Selbstverständnis unserer Gesellschaft für ihre Taten auch zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Dieser Konsens besteht nicht nur heute, dieser Konsens bestand 1965 und 1969. Aber die Bedenken damals und auch die Bedenken gegen die Aufhebung der Verjährung heute werden anders begründet. Es gibt hier Einwände von sehr unterschiedlichem Gewicht. Wenn beispielsweise — ich habe Herrn Kollegen Mertes so verstanden — eingewandt wird, Verjährung sei deshalb so wichtig, weil Gründe des Rechtsfriedens es erforderten, daß nach Ablauf von eigentlich 20 Jahren — nach heutigem Rechtszustand von 30 Jahren; faktisch, wie Sie ganz richtig sagen, auch nach mehr Jahren — die Strafverfolgung eben ein Ende haben müsse, so muß ich gestehen, daß mich dieser Einwand, zumindest wenn er so formuliert wird, am wenigsten überzeugt, nicht nur deshalb, weil ja die Praxis heute mit der Möglichkeit, die Verjährung zu unterbrechen, schon ganz anders aussieht, sondern einfach deshalb, weil ich den Rechtsfrieden für viel nachhaltiger gestört sehe, wenn ein Mörder lediglich wegen des Verjährungseintritts nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden kann, und das, obwohl seine Tat offenbar ist und obwohl die Nachweisbarkeit seiner Täterschaft gar kein Problem darstellen würde.

    (Beifall bei der SPD)

    Auch der Einwand, die Verjährung sei ein hohes Gut unserer Rechtstradition und müsse auf jeden Fall beibehalten werden, scheint mir zumindest in dem Zusammenhang, über den wir heute reden, nicht so schwer zu wiegen. Dabei bestreite ich keineswegs, daß das Prinzip der Verjährung seinen Sinn hat. Ich will es auch nicht etwa abgeschafft wissen. Wenn man indes unsere vermeintliche Rechtstradition als Wert betrachtet und diesen der Verfolgbarkeit einer Tat gegenüberstellt, die das schwerste Verbrechen ist, das unsere Rechtsordnung kennt, nämlich die bewußte und gewollte Vernichtung menschlichen Lebens unter Mordumständen, dann muß sich diese Tradition schon gefallen lassen, hinterfragt zu werden. Was dabei herauskommt, steht meiner Ansicht nach völlig außer Zweifel: Der Wert menschlichen Lebens und sein Schutz durch unsere Rechtsordnung muß hier einfach Vorrang haben.
    Weiter ist uns in nahezu allen Diskussionen der Vergangenheit entgegengehalten worden, unser Vorstoß zur Aufhebung der Verjährung bei Mord verstoße unter den gegebenen Umständen gegen ein anderes Prinzip, das wir hochhalten wollten, nämlich das der Resozialisierung des Täters. Dieser Einwand ist, wie ich meine, in der Tat sehr erwägenswert. Ich habe ihn sehr ernst genommen, denn ich bin ein erklärter Anhänger des Resozialisierungsstrafrechts; ich teile nicht die Auffassung einiger Kollegen in diesem Hause, daß Sühne, Vergeltung



    Frau Dr. Däubler-Gmelin
    und Abschreckung im Vordergrund der Strafzwecke zu stehen hätten.
    Ich glaube jedoch nicht, daß in unserem Zusammenhang dieser Einwand unserem Antrag wirklich entgegengehalten werden könnte. Mir scheint, wir müßten hier einiges deutlicher voneinander unterscheiden. Nicht nur vom Typ des Täters — des Mörders oder gar des NS-Mörders — her, mit dem wir es zu tun haben, wirft das Problem der Resozialisierung und der Resozialisierbarkeit als eines Strafzwecks erhebliche Fragen auf — sowohl wegen der Begleitumstände der Tat als auch wegen der häufig nicht wiederholbaren Konstellationen, die eine Tat überhaupt ermöglichen; das alles haben wir schon häufiger erörtert —; entscheidend scheint mir zu sein, daß es bei unserem Antrag zur Aufhebung der Verjährung zunächst einmal nicht um die Frage der Resozialisierung eines Straftäters durch Strafe geht, sondern um die Frage, ob überhaupt eine Straftat noch mit strafprozessualen Mitteln aufgeklärt werden kann,

    (Zustimmung bei der SPD)

    ob das als Voraussetzung einer Strafe überhaupt noch zulässig sein soll. Ich sehe den richtigen Platz für den Resozialisierungsgedanken nicht vor dem Strafausspruch, sondern erst danach, z. B. bei der Verbüßung der verhängten Strafe.
    Schon 1965 und 1969, in den damaligen Diskussionen um die weitere Verfolgbarkeit von NS-Mördern, hat der Gedanke eine Rolle gespielt, ob nicht der lange Zeitablauf zwischen der Begehung der Tat und einer möglichen Strafverfolgung alles, was wir wollen und anstreben, an Grenzen geraten lassen müsse. Wir haben uns mit diesen Bedenken heute in der Tat auseinanderzusetzen. Ich glaube, daß die Gegner einer Aufhebung der Verjährung mit ihrer Auffassung dann recht hätten, wenn eine Strafverfolgung heute nur noch zu Lasten der Opfer von damals durchgeführt werden könnte. Auch solche Stimmen hört man heute, und sie wurden auch in der ersten Lesung laut.
    Wenn darauf hingewiesen wird, daß es häufig Zumutungen sind, denen sich die Opfer der Verbrechen von damals heute als Zeugen in NS-Prozessen ausgesetzt sehen, stimme ich dem zu. Da wird mit Recht betont, es müsse für diese Zeugen häufig eine Quälerei bedeuten, sich immer wieder an die grauenvollsten Zeiten ihres Lebens erinnern zu müssen und im Strafprozeß nach Einzelheiten, nach präzisen Details gefragt zu werden, wobei mit zunehmender Entfernung von der Tat die Erinnerung an strafprozessual wichtige, für den Zeugen selbst aber nebensächliche Wahrnehmungen zwangsläufig verblassen muß. Da wird ganz zu Recht darauf hingewiesen, daß es häufig Anwälte mutmaßlicher NS-Mörder sind, die aus falsch verstandener Solidarität mit ihren Mandanten — wenn nicht manchmal auch aus schlimmeren Beweggründen — Salz in diese Wunden streuen und den Zeugen vorführen, wie man aus den Opfern von damals Opfer von heute machen kann. Das ist häufig so; jeder, der an NS-Prozessen teilgenommen hat, weiß das, und diese Erfahrung ist bitter. Das ist heute so, und das wird auch dann so sein, wenn wir die Verjährung aufheben.
    Aber, meine Damen und Herren, haben wir nicht gerade in diesem Zusammenhang sehr viel stärker zu berücksichtigen, daß es gerade die Opfer von einst sind, die uns gestern wie heute und speziell auch in den vergangenen Monaten im Inland und im Ausland mit großem Ernst zurufen, wir dürften einen Schlußstrich eben nicht zulassen, die uns auffordern, die Verjährung aufzuheben, weil trotz aller Quälerei ein Ablauf der Verjährungsfrist für sie noch schmerzhafter sein müsse und weil sonst von vornherein auf jeden Versuch verzichtet werde, ihnen wenigstens durch Anklage und Verurteilung der Peiniger von einst ein wenig Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? So zwiespältig unsere Empfindungen angesichts der Erfahrungen mit NS-Prozessen heute auch sein mögen — und sie sind es —, ich glaube, daß dieser Ruf der Opfer von einst nicht ungehört verhallen darf.

    (Beifall bei der SPD)

    Lassen Sie mich noch einen Punkt anführen. Schon 1965, auch 1969, auch in den vergangenen Monaten haben wir uns immer wieder gefragt: Überfordern wir nicht doch die Ermittlungsbehörden und die Gerichte, wenn wir die Verjährung für Mord aufheben? Wird nicht allein schon wegen des erwähnten Zeitablaufs die Chance auf Gerechtigkeit zwangsläufig geringer, wird. Recht nicht zwangsläufig immer mehr zum Spielball von Zufällen? Auch diese Bedenken haben wir gehört, und wir nehmen sie ernst. Einiges davon ist zumindest im Ansatz ganz zweifellos richtig. Es ist unbestreitbar, daß die Schwierigkeiten der Rechtsfindung, der Beweiserhebung immer größer werden, je mehr Zeit zwischen der Begehung der Tat und dem Zeitpunkt der Strafverfolgung vergeht. Das führt zu Unzuträglichkeiten, zu langen Prozessen, zu quälenden Verhandlungen, an deren Ende viele ehrenwerte Versuche, aber manchmal keine angemessenen Verurteilungen stehen. Auch das wissen wir. Das zeigen auch die Statistiken über Anklageerhebungen und Verurteilungen in NS-Verfahren der vergangenen Jahrzehnte. Der Leiter der Zentralen Stelle, Dr. Rückerl, hat uns berichtet, daß dies so sei, und wir haben keinerlei Anlaß, an seinen Feststellungen zu zweifeln.
    Wir gehen davon aus, daß die Zahlen der Anklageerhebungen weiter rückläufig sind und daß das auch bei den Zahlen der Verurteilungen in erheblich größerem Umfang der Fall ist. Auch ist uns klar, was das jenseits von Prozentzahlen, Erfolgsquoten und Relationen zwischen Ermittlungszahlen, Zahlen über Anklageerhebungen und Verurteilungen bedeutet. Es bedeutet die nüchterne Erkenntnis, daß längst nicht jeder Täter im Strafprozeß abgeurteilt werden kann, von dem zu Beginn der Ermittlungen angenommen werden mußte und konnte, daß er persönlich gemordet hat, daß er somit nach geltendem Recht noch der Strafverfolgung unterliegt. Das bedeutet weiter, daß das, was wir aus der Kenntnis der Geschichte des Dritten Reiches zu wissen meinen, häufig genug nicht ausreicht, um den strengen Regeln unseres strafprozessualen Verfahrens und seiner Nachweispflicht standzuhalten. Das gilt, wie gesagt, schon für die NS-Prozesse heu-



    Frau Dr. Däubler-Gmelin
    te. Wer würde es bestreiten wollen, daß die Gefahr besteht, daß dies eine Fortsetzung finden wird, wenn wir, unserem Antrag entsprechend, die Verjährung von Mord aufheben? Wir wissen, daß dies unbefriedigend ist. Wir wissen auch, Herr Mertes, daß dies häufig nicht verstanden wird; das stimmt. Ich gebe auch denen recht, die in diesem Zusammenhang auf die Freisprüche im Majdanek-Prozeß und auf die Proteste verweisen, die sie im In- und Ausland ausgelöst haben. Ich gebe auch denen recht, die auf die Strafaussprüche verweisen, die bisweilen in groteskem Mißverhältnis zu den vorgeworfenen Straftaten stehen. Auch wir meinen, daß das die bitteren Zeiten der NS-Prozesse sind, und zwar heute und bei der Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord auch in Zukunft.
    Nur ist damit die Antwort auf die Frage, die wir heute erörtern müssen, noch nicht gegeben. Auch der Hinweis auf eine doppelte Moral reicht dazu nicht aus. Ich sehe die Folgerungen anders, die wir daraus ziehen müssen. Ich meine, wir alle müssen daraus mit Sicherheit die Verpflichtung ziehen — gerade weil wir wissen, welche enorme Last die Ermittlungsbehörden und Gerichte tragen, welche Last die Richter und Staatsanwälte auf sich nehmen, die in solchen Verfahren eingesetzt sind —, daß wir ihnen zur Seite treten, wenn sie ihre Pflicht getan haben und dennoch unbefriedigende Ergebnisse erzielen konnten.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Ich meine, daß wir daraus auch die Verpflichtung ziehen müssen, immer wieder auf den uns einsichtigen Zwiespalt zwischen geschichtlicher Wahrheit und strafprozessualer Nachweisbarkeit hinzuweisen,

    (Dr. Emmerlich [SPD] : Sehr richtig!)

    dem Unverständnis der jungen Generation, wenn wieder ein unbefriedigendes Urteil ergehen mußte, geduldig nachzuhelfen, damit daraus Verständnis wird. Dort wird häufig das Auseinanderklaffen, von dem ich hier spreche, noch schmerzlicher als von uns selbst empfunden. Das bedeutet sicher auch, daß wir die Unkenntnis im Ausland abbauen und dem dort, sei es gesteuert oder spontan, vorhandenen Argwohn begegnen müssen, der darauf hinausläuft, wir täten nicht genug, um NS-Mörder abzuurteilen.
    Eines glaube ich allerdings nicht. Ich glaube nicht, daß wir aus alledem die Berechtigung ableiten dürfen, die Verjährung nicht aufzuheben. Das hätte doch nur zur Folge, daß möglicherweise einige unbefriedigende neue Fälle nicht auftauchen würden, und diese werden ja, wie wir alle bestätigen und alle wissen, nicht allzu zahlreich sein. Die große Zahl der Verfahren, in denen wir solche Probleme haben, würde dadurch in keiner Weise verhindert. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Forderung vertreten und auch durchgesetzt werden soll, jetzt müsse Schluß sein — und das vollständig. Diese Forderung wird von uns nicht erhoben, sie wird — soweit ersichtlich — in diesem Hause nicht ver-
    treten. Ich bin über diesen Konsens froh. Denn ich bin ganz sicher, daß diese Forderung und ihre Verwirklichung das Rechtsbewußtsein unserer Gesellschaft und gerade der jungen Menschen viel nachhaltiger verwirren und viel nachhaltiger korrumpieren würde, als dies jede der Unzuträglichkeiten vermöchte, über die ich gerade gesprochen habe. Das, Herr Mertes, wäre in der Tat doppelte Moral, und diese wäre das Gefährlichste.
    Meine Damen und Herren, alle diese Gründe und Einwände, über die ich gerade gesprochen habe, bestärken uns in unserem Wunsch, das 18. Strafrechtsänderungsgesetz zur Durchsetzung zu bringen.
    Lassen Sie mich aber noch auf einen anderen Gesichtspunkt eingehen, der nicht die Frage betrifft, ob die Verjährung im Grundsatz aufgehoben werden soll, sondern den Weg, den wir Ihnen vorschlagen. Unser Antrag zielt darauf ab, die Verjährung für Mord insgesamt aufzuheben. Obwohl ich in den vergangenen Ausführungen — und das ganz bewußt — immer von Nazi-Morden gesprochen habe, enthält unser Vorschlag diese Differenzierung nicht. Das ist kein Versehen und kein Widerspruch, sondern die Folge sorgfältiger Überlegungen.
    Zunächst: Ich habe es immer akzeptiert und verstehe es auch heute sehr gut, wenn mir angesichts der grauenvollen Ereignisse in Deutschland zwischen 1933 und 1945 und der Verbrechen, die in deutschem Namen, hauptsächlich im Osten Europas — aber nicht nur dort —, begangen wurden, erklärt wird, daß es aus einem Vergleich der Lebenssachverhalte heraus eben zweierlei sei, ob man über einen noch so üblen verbrecherischen Einzelmord rede oder diese fabrikmäßigen, grauenvollen Vernichtungs- und Ausrottungsaktionen der staatlichen Terrormaschine der Nationalsozialisten in Betracht ziehe. Ich sehe das auch so. Nur, meine Damen und Herren, ich kann daraus keine differenzierten Konsequenzen für die Frage der Aufhebung der Verjährung ableiten, und zwar nicht nur deshalb, weil ich mich frage, ob bei der bewußten und gewollten Vernichtung von Leben unter Mordumständen differenziert werden darf — jedenfalls dann, wenn es um die Verfolgbarkeit einer solchen Tat geht, und darum geht es heute —, sondern auch deshalb — hier haben mich die Beratungen der letzten Wochen in meiner Beurteilung sicherer gemacht —, weil ich keine Anhaltspunkte für eine differenzierende Lösung sehe, die nicht noch mehr Probleme, mehr Schwierigkeiten und mehr Unzulänglichkeiten mit sich bringen müßte. Ich weiß, daß einige Kollegen in diesem Hause dies anders sehen. Ich respektiere das, auch wenn ich nicht in der Lage bin, dem zu folgen.
    Meine Damen und Herren, wenn ich Sie heute um Ihre Unterstützung unseres Antrags bitte, so nicht nur wegen der Gründe, die ich bisher erörtert habe — der großen moralischen und politischen Verantwortung, die ich damit verbunden sehe, des Schadens für unser aller Rechtsgefühl, den ich sehe, wenn die Entscheidung zuungunsten der Verjährung ausfallen sollte —, sondern auch aus einem anderen Grund, der mir besonders wichtig ist und zu dem ich jetzt noch einiges sagen will.



    Frau Dr. Däubler-Gmelin
    Herr Wissmann hat in der ersten Lesung am 29. März betont, daß es seiner Meinung nach in unserer Situation des Jahres 1979 weniger um die Aufhebung der Verjährung von Mord gehen könne, daß sich vielmehr die Frage stelle, wie wir es erreichen könnten, ohne, wie er es nannte — ich stimme ihm da nicht zu —, die Justiz als Alibi zu gebrauchen, daß die Öffentlichkeit und die jungen Menschen in unserem Lande mehr Kenntnisse, mehr Informationen über das erhalten, was sich in diesem unsäglichen Kapitel deutscher Geschichte zugetragen hat. Ich stimme ihm hier und auch dort zu, wo er über die Bedeutung von Kenntnissen und Verständnis redet. Ich bin der Meinung, daß wir es schaffen müssen, daß gerade die jungen Menschen mehr darüber erfahren, damit sie genau wissen, was damals geschehen ist, wie das geschehen konnte. Vor allem müssen sie in die Lage versetzt werden, daraus zu lernen. Wir alle müssen lernen, wie wir es anstellen, daß sich so etwas in unserem Einflußbereich — und das ist hier — nicht mehr wiederholt.
    Er hat es dann für richtig gehalten, auf die Schulen, die Presse und die anderen Medien zu verweisen. Nun gut, ich teile auch diese Auffassung, die damit verbunden ist: daß es wichtig ist; daß die Schulen Kenntnisse vermitteln, und daß das durch die Presseberichterstattung ebenfalls geschieht. Hier wird inzwischen einiges getan. Ich habe die Ausstrahlung von „Holocaust" im Fernsehen, vor allem aber die Diskussionen nach der Sendung und die unzähligen Materialmappen, die durch die Zentralen für politische Bildung verteilt worden sind, für einen wesentlichen Beitrag gehalten, von dem ich hoffe, daß er einen Anfang darstellt.
    Eines bleibt allerdings festzuhalten: Auf Schulen und Schulverwaltungen haben wir — sagen wir — keinen unmittelbaren Einfluß. Bei allen Anstrengungen, die von dem einen oder anderen Lehrer unternommen werden, sehen wir zudem, daß man sich dort, wo man auf Schulbuchrichtlinien und deren Umsetzung Einfluß hat, manchmal übermäßig schwer tut. Das zeigt das Beispiel der deutsch-polnischen Schulbuchrichtlinien, die ja ein größeres Kapitel unserer Geschichte aufhellen, beleuchten und ins Bewußtsein der nachwachsenden Generation rücken sollen. Dieses Beispiel ist nicht unbedingt ermutigend. Soviel ich weiß, werden diese Richtlinien noch nicht einmal überall in solchen Punkten umgesetzt, bei denen aktuelle politische Meinungsverschiedenheiten nicht bestehen.
    Auch unser Einfluß auf die Medien ist — lassen Sie es mich so ausdrücken — begrenzt, vergleichbar gering oder noch geringer. Hier können wir bestenfalls appellieren, und das sollten wir tun. Nur, ich glaube nicht, daß wir uns auf solche Hinweise beschränken können. Vor allen Dingen aber meine ich, daß das unsere eigene Verantwortung, unseren eigenen Beitrag keinesfalls ausschließt. Wir sind heute und hier gefordert. Wir können heute handeln, indem wir Maßnahmen beschließen, die jetzt zur Debatte stehen, Maßnahmen, die unsere sind, Maßnahmen, die den Weg zu dem Ziel eröffnen, das wir wollen. Wenn wir uns heute gegen die Aufhebung der Verjährung entscheiden, dann befürchte
    ich, daß wir dieses gemeinsame Ziel auch dauerhaft versperren können.
    Wir sind gefordert, meine Damen und Herren, über die Aufhebung der Verjährung zu entscheiden. Das kann einer unserer Beiträge sein, das ins Auge gefaßte Ziel zu erreichen. Ich halte diese Entscheidung für den derzeit wichtigsten von uns geforderten Beitrag. Dieser Beitrag wird ein Zeichen unserer Glaubwürdigkeit sein. Wir müssen uns der Verantwortung stellen.
    Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung zu unserem Antrag.

    (Beifall bei der SPD)



Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Detlef Kleinert


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist ganz offensichtlich viel schwerer als 1965, für dieses Thema die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit zu gewinnen, die es heute wie damals in gleicher Weise verdient. Das Haus ist davon ganz offensichtlich nicht verschont geblieben. Dabei haben wir geglaubt, daß die Auseinandersetzungen im Rechtsausschuß wenigstens insoweit, als die Presse darüber berichtet hat, die Aufmerksamkeit für dieses Problem geschärft hätten und daß das Problembewußtsein dadurch erneut so groß geworden wäre, wie es allenthalben in unseren internen Besprechungen dargestellt wird. Aber es ist eben doch nicht mehr so, wie es 1965 in so leidenschaftlicher Form bewiesen worden ist.
    Ich glaube, es lohnt sich sehr, über unser Thema, das wie 1965 von außerordentlichem Interesse ist, noch einmal sehr gründlich — und nicht nur lange — zu sprechen. Zunächst möchte auch ich im Namen der Mehrheit der Freien Demokraten Herrn Emmerlich und Herrn Erhard sehr herzlich für den Ausschußbericht danken,

    (Beifall)

    wobei ich gleich hinzufügen möchte, daß wir den anderen Kollegen, die sich zu ihren abweichenden Vorstellungen äußern werden, nicht etwa absprechen wollen, daß sie genau so sehr um ein möglichst gutes und möglichst richtiges Ergebnis bemüht sind. Mehr läßt sich bei allem in dieser Diskussion nicht erzielen.
    Dem Ausschußbericht gebührt das große Verdienst, hier noch einmal in Aufbereitung all dessen, was im Laufe der Jahre vorgetragen wurde, Klarheit geschaffen zu haben. Ich meine, diese Klarheit ist für das Haus unbequem. Übersehen Sie doch bitte nicht, daß 1965 legitimerweise eine Fülle von Überlegungen in der Diskussion waren, die nach diesem Ausschußbericht überhaupt nicht mehr vorhanden sind.
    Es bestand nämlich 1965 eine erhebliche verfassungsrechtliche Ungewißheit über die Frage, ob die Rückwirkung der Verjährung materiellen oder formellen Charakters sei und ob sich deshalb über-



    Kleinert
    haupt eine Änderung des Instituts der Verjährung auch nur in der zeitlichen Geltung ermöglichen ließe oder nicht. Dieses Bedenken war Anfang 1969 durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ausgeräumt.
    Eine weitere Frage hat 1960, in der ersten dieser Diskussionen, wie auch 1965 in viel stärkerem Maße als heute die Debattanten bewegt: Wie viele Täter gibt es noch, die unerkannt sind? Wie viele werden, wenn wir uns hier so oder so entscheiden, nicht bestraft werden können, obwohl sie schwerste Schuld auf sich geladen haben.
    Auch diese Frage, meine Damen und Herren, ist nach diesem Bericht des Ausschusses fast ganz in dem Sinne geklärt, daß nach Ansicht aller Sachverständigen, die inzwischen mit größerer Akribie, als das leider am Anfang der Geschichte der Republik der Fall war, den Fragen nachgegangen sind, kaum noch Fälle von Strafverfolgungen nach Eintritt der Verjährung nach geltendem Recht möglich sein werden. Es ist keineswegs auszuschließen — das sehen wir ganz klar —, daß einzelne Täter noch auftauchen. Zahlenmäßig wird es sich allenfalls um ganz, ganz wenige handeln.
    An dieser Stelle muß ich gleich zu Anfang sagen: 5 000 Personen, die zu lebenslanger Strafe verurteilt und anschließend amnestiert wurden und seit 20 oder 25 Jahren frei in diesem Land herumlaufen — übrigens ohne sich jemals ihrer Untaten gerühmt zu haben —, stehen gegen einige wenige, die, wenn wir beim geltenden Recht bleiben, ihrer Strafe entgehen könnten. Die anderen haben wir schon hinnehmen müssen. Deshalb ist das, was hier noch quantitativ allenfalls verbleibt, nicht mehr von der Qualität, die uns in unserer Entscheidung wesentlich beeinflussen könnte.
    Unter Berücksichtigung dieser beiden inzwischen ausgeräumten Punkte haben wir heute eine ganz besondere Debatte. Wir müssen uns nämlich nun der Frage stellen: Wollen wir aus Prinzip bis zum Schluß keine Verjährung? Wollen wir dieses Institut abschaffen, oder wollen wir die Sache praktisch handhaben in Ansehung dessen, was jetzt allenfalls noch auf uns zukommen kann und was wir sehr viel genauer wissen als 1960, 1965 und 1969? Oder wollen wir sagen: „Wir bleiben beim geltenden Recht?" Auf diese Fragen spitzt sich die heutige Situation bei den inzwischen gewonnenen Erkenntnissen deutlicher zu.
    Die Entwicklung der Debatte bis zum heutigen Tage habe ich einleitend schon als etwas ermüdend gekennzeichnet. Sie war auch ungewiß. Ich möchte über folgendes keinen Zweifel aufkommen lassen. Ich habe bei der Lektüre über die verflossenen Debatten an keiner Stelle gefunden, daß sich die Sozialdemokraten mit den jeweiligen Zwischenlösungen abgefunden hätten. Ihre Redner haben vielmehr stets betont, sie würden die jeweilige Zwischenlösung als einen Schritt auf dem von ihnen seit sehr früher Zeit für richtig gehaltenen Weg der Abschaffung der Verjährung ,auffassen. Das ist konsequent; das ist überhaupt nicht zu bestreiten.
    Ich habe umgekehrt auch nie gefunden, daß, unsere Vertreter bei den verschiedenen Abstufungen, in denen sich dieses Haus an das Problem herangetasfet hat — so muß man die Ergebnisse der vergangenen Debatten wohl bezeichnen —, in ihrer Überzeugung jemals wankend gewesen wären, daß unsere rechtspolitischen Grundsätze — das ist eben unsere Überzeugung vom Rechtsstaat; ich will damit nicht sagen, daß die Sozialdemokraten weniger rechtsstaatlich wären — auch nur im geringsten im Zweifel gewesen wären. Wir sind da immer anderer Auffassung gewesen. Ich finde, es ist sehr gut, daß diese Koalition aus Sozialdemokraten und Freien Demokraten an einem so wichtigen Punkt einmal darstellen kann, wie es möglich ist, sich bei fairer Partnerschaft in einer wichtigen Frage ganz frei und offen voneinander zu unterscheiden, und dies beiderseits bei sehr großer Konsequenz.
    Ich will nun nicht etwa den Vertretern der Christlich Demokratischen Union absprechen, daß sie sich um das Problem ihre Sorge gemacht hätten. Sie haben in all den Jahren aber jeweils den Teil gestellt, der dann dazu beigetragen hat, daß immer ein Schritt weitergegangen worden ist, ohne daß die eigentliche Entscheidung getroffen worden wäre.
    Ich weiß nicht, wie ich mich heute entscheiden würde, wenn heute 1960 wäre und hier über die Abschaffung der Verjährung, und zwar in klarer Zielansprache der Verbrechen des Naziregimes, entschieden werden würde. Nachdem aber seit 1960 19 Jahre vergangen sind, weiß ich ganz genau, daß mir in der jetzt eingangs geschilderten, zugespitzten Entscheidungslage mit größter Selbstverständlichkeit nur bleibt, mich für das zu entscheiden, für das sich meine politischen Freunde, als ich noch nicht dabei war, hier im Hause stets entschieden haben:' nämlich Beibehaltung des geltenden Rechts.

    (Beifall bei der FDP und Abgeordneten der CDU/CSU)

    Denn viele Gründe, die es früher einmal gegeben hat, die mindestens zu erheblichen Zweifeln Anlaß geben konnten, gibt es heute nicht mehr. Wir haben jetzt über unsere Auffassung von Strafrechtspflege zu entscheiden — oder über einen viel weitergehenden moralischen Grundsatz im Hinblick auf die Vergangenheit, auf unsere geschichtliche Vergangenheit zur Zeit des Nationalsozialismus. Wir haben zu entscheiden, ob wir sagen wollen: Das, was damals geschehen ist, war so singulär, daß es auch einen Eingriff in unsere Strafrechtspflege von erheblichem Gewicht rechtfertigt — wie wir inzwischen wissen: nicht von verfassungsrechtlichem, aber von ungewöhnlich erheblichem Gewicht. Das ist die Auffassung der Sozialdemokraten.
    Wir sind der Meinung: Hier werden das, was wir in der Kontinuität der Strafrechtspflege tun können, und das, was wir in der Kontinuität der Geschichte dieses Landes tun müssen, verwechselt.

    (Beifall bei der FDP und Abgeordneten der CDU/CSU)




    Kleinert
    Das ist früher schon einmal in der Debatte dargelegt worden. Es handelte sich damals um einen Zwischenruf von Herrn Jahn, wenn ich mich recht erinnere, der gesagt hat, es handle sich nicht um die Kontinuität der Strafrechtspflege, sondern um die Kontinuität der Geschichte. Sie sehen das so zusammen; das kann man ja auch tun. Wir sehen es nicht so zusammen, sondern wir meinen: Wir schulden es unserer Geschichte, in unserer Strafrechtspflege gerade nach den Ereignissen des Dritten Reiches besonders sauber und besonders klar zu bleiben.

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Daran hat es bei den vorangegangenen Entscheidungen dieses Hauses im Ergebnis — keineswegs in den Ansätzen, darüber habe ich bereits gesprochen - jedesmal gefehlt.
    Ich mag nicht so sehr auf die Frage eingehen, ob wir heute über das Thema der Aufhebung der Verjährung sprechen würden, wenn es sich um wirklich alle Morde gleichermaßen handelte. Ganz beiseite lassen darf ich es nicht. Ich bin schon der Meinung, wir würden nicht darüber sprechen, wenn es licht die Morde aus der Zeit des Nationalsozialismus gäbe.

    (Dr. Erhard [Bad Schwalbach] [CDU/CSU] : Absolut richtig!)

    Herr Süsterhenn hat für die CDU 1969 nicht nur von der letzten Rate gesprochen, die Herr Mertes eben zitiert hat — etwas, was mir nicht so gut gefällt, obwohl es sich ja tatsächlich so abgespielt hat —, sondern auch davon, daß es der CDU leichter werde, dem damaligen Kompromiß zuzustimmen, weil man alle Mordtaten gleichsetze. Ich würde das anders sehen.
    Ich halte die Auffassung unseres Freundes Professor Maihofer schon für erheblich konsequenter. Er sagt, es gehe doch in Wirklichkeit um das besondere und exzeptionelle Unrecht, viele Fälle von Völkermord, viele Fälle von grausigen Verbrechen besonderer Art, bei denen man versuchen müsse, sie als solche zu erfassen und aus der Verjährung herauszunehmen. Vom politischen Anliegen her ist das, was Herr Professor Maihofer — er wird ja dazu sprechen — versucht, konsequenter als die Aufhebung der Strafe für Mord in allen Fällen. Ich glaube allerdings auch, daß der Weg, den Herr Professor Maihofer sucht, die Konsequenz, vor der wir uns sehen, etwas verschleiert. Es ist eine Hilfe, klarzumachen, worum es eigentlich geht. Es ist aber keine Hilfe in der Bewältigung des Problems.
    Ich habe dieser Tage irgendwo gelesen, „Bewältigung" wäre sehr schlecht, es hätte den gleichen Sprachstamm wie „Gewalt" und „vergewaltigen", und man würde sich zu etwas zwingen, was man gar nicht so meine. Ich glaube, das ist sehr richtig beobachtet. Wir wollen gar nicht bewältigen, sondern wir wollen klar sehen und klar entscheiden. Dazu hilft uns meiner Ansicht nach auch die mittlere Lösung von Herrn Professor Maihofer in klarer Zielansprache dessen, was hier gewollt ist, nicht.
    Wir müssen uns einfach fragen: Tun wir recht daran, Mord nicht verjähren zu lassen, weil er gegen das höchste aller Rechtsgüter gerichtet ist, oder sollen wir nicht hier genauso wie in allen anderen Fällen aus einer wirklich humanen Einstellung sagen, auch hier müsse es, abgesehen von allen Zweckmäßigkeitserwägungen, eine Grenze der Verfolgung geben, hier müsse es Verzeihen geben, hier müsse es Rücksichtnahme auf die Pesönlichkeitsveränderungen geben, von denen ich immer noch ausgehe?
    Ich habe in den vielen Diskussionen dieser Wochen und Monate gehört, die Persönlichkeit würde sich nicht ändern. Ich glaube, sie verändert sich sehr wohl. Ich glaube darüber hinaus, gerade viele Sozialdemokraten würden in ihrem rechtspolitischen Bestreben auf anderen Gebieten wesentlich zurückgeworfen, wenn sie nicht mehr daran glaubten, daß sich die Persönlichkeit verändern lasse.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Wir haben doch gemeinsam um viele Elemente der Resozialisierung gerungen. Dabei gehe ich nicht so weit wie manche, daß ich sage, das sei das alleinige Ziel der Strafrechtspflege. Ich sehe daneben durchaus den Gesichtspunkt der- Sühne. Die stärkere Betonung der Resozialisierung verbindet uns doch aber in unserem Bemühen um eine bessere Strafrechtspflege. Also kann ich nicht sagen, in diesen Fällen ändere sich die Persönlichkeit nicht. Sie ändert sich sehr wohl.
    Darin liegt für mich ein ganz wesentlicher Gesichtspunkt, daß irgendwann Verjährung ihren tieferen und auch gerechten Sinn hat, abgesehen von den technischen Schwierigkeiten, abgesehen von dem, was man 1965 auch nur vermuten konnte.
    Inzwischen hat es sich erwiesen. Der Majdanek-Prozeß ist ein Prozeß, der uns viel Schelte bei denen eingetragen hat, die ihn nicht sorgfältig vor Ort verfolgt haben. Sehr zu Unrecht! Die Richter haben nach meiner Überzeugung ihr Äußerstes getan, aber sie sind zu erschreckenden Beweisergebnissen gekommen, zu erschreckenden Ergebnissen schließlich ihrer Beweiswürdigung gekommen mit der Folge, daß das Ergebnis auch die technischen Bedenken rechtfertigt, die man 1965 nur prophezeien konnte, die aber inzwischen ganz offensichtlich geworden sind. Man kann nach dieser Zeit nicht mehr in geordneter Weise so Recht sprechen, daß es dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit zumindest nahekommt. Das hat dieser Majdanek-Prozeß und sein Urteil ganz klar erwiesen.
    Vieles spricht auch gegen die Gleichbehandlung aller Mörder. Die Knesset, das Parlament des Staates, in dem sicherlich die meisten Menschen leben, die von dem, was im Dritten Reich an Verbrechen geschehen ist, zutiefst betroffen sind, hat uns eine Entschließung übersandt. Sie hat in dieser Entschließung darauf hingewiesen, daß es sich um ein Verbrechen handelte wie kein Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. Auf die Geschichte der Menschheit will ich mich hier gar nicht einlassen;



    Kleinert
    daß dieses Verbrechen ungeheuerlich war, das ist außer Zweifel.
    Aber welche Folgerung soll ich daraus ziehen? Das ist der Punkt, auf den ich Ihre Aufmerksamkeit hier immer wieder zu lenken versuche. Muß ich daraus die Folgerung ziehen, daß ich in diesem Fall in unser Strafrecht eingreifen muß, um den einzelnen zu bestrafen, oder ist die Folgerung nicht eine ganz andere, nämlich die, daß wir, d. h. große Teile des Volkes, unserer Geschichte als Volk gegenüber nach wie vor fahrlässig blind, bequem und leichtfertig sind?

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

    „Da in der Kammer 201 B des Landgerichts sowieso wird verhandelt." Damit wird die Geschichte dieses Landes erledigt, und draußen geht die Bevölkerung spazieren und amüsiert sich, während da drinnen die Vergangenheit bewältigt wird. Das kann doch nicht die Lösung sein!

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

    Das ist wirklich keine Lösung. Das ist Verdrängung in einer besonders miesen Form.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Sehr richtig!)

    Wir müssen uns der Rechtsfrage einerseits und der geschichtlichen Frage andererseits stellen. Ich habe schon einmal versucht, das hier darzulegen, und ich lasse nicht nach in meinem Bemühen, dieses klarzumachen: Die geschichtliche Frage ist in unserem Lande in verheerender Weise unbekannt. Wenn ich höre, was die Lehrer an unseren Schulen davon wissen, dann wage ich gar nicht mehr zu fragen, woher die Schüler etwas wissen sollen, denn die Lehrer wissen gar nichts.

    (Beifall bei der FDP und bei der CDU/ CSU)

    Das ist doch das Entscheidende an der Situation.
    Und dann soll ich sehenden Auges hergehen und mit der angeblich strafrechtlichen Bewältigung der Resttatbestände dieses alles noch mehr zumachen? Nein, wir wollen es offen haben. Und deshalb bedarf es einer ganz klaren Trennung zwischen unserer Sorge um die Strafrechtspflege und unserer Sorge um das geschichtliche Bewußtsein von der Verantwortung für die einmaligen Verbrechen, die unser Volk, und zwar unser Volk im ganzen, damals begangen hat.

    (Wehner [SPD] : Die Botschaft hör ich wohl!)

    — Herr Wehner, mir geht es auch so; ich weiß, wie schwer es ist, hier etwas wirklich zu bewegen. Aber das darf mich doch nicht daran hindern, es nicht mit heißem Herzen zu versuchen. Ich gehöre nicht zu der Generation, wie damals Herr Benda. Herr Benda ist damals hier als junger Mann von wohlmeinenden älteren Kollegen angesprochen worden; er hat hier 1965 als Vertreter der jungen Generation gestritten, wie ihm schulterklopfend die
    Älteren bescheinigten, und sie waren glücklich darüber, daß er so gesprochen hat, wie er damals gesprochen hat. Nun, ja, um einiges jünger bin ich immer noch; aber eines weiß ich: ich weiß, daß unser politisches Engagement, nämlich das der Generation, die — wie ich — etwa 1932 geboren wurde, daher rührt, daß wir noch einigermaßen klar gesehen haben, wie unsere Studienräte zwischen 1944 und 1946 vom straffen Hochziehen des rechten Armes zum Kreuz-Schlagen übergegangen sind.

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU — Heiterkeit)

    Weil wir das nicht wollten, haben wir ein erhebliches politisches Engagement entwickelt. Das ist auch eine Generation, die ein besonderes Erlebnis hatte, wie das viele Generationen in dieser Debatte schon für sich in Anspruch genommen haben. Herr Wehner, es wird uns niemand daran hindern, in diesem Sinne weiterzustreiten. Aber ich meine, wir sollten auf dem richtigen Felde streiten.
    Alle diejenigen, die unter dem damaligen Unrecht gelitten haben, werden diejenigen sein, die uns in einer vernünftigen Unterhaltung Recht geben, wenn wir sagen: Das alles ist passiert, weil in diesem Lande kein genügend gefestigtes, gesichertes und deshalb selbstverständliches Rechtsbewußtsein vorhanden war. Formale Eigenschaft oder materielle Eigenschaft der Verjährung hin und her: Die Verjährung ist in diesem Lande ein wichtiges Rechtsinstitut seit mehr als hundert Jahren. Es prägt die Rechtsüberzeugung der Rechtsgenossen. Und wenn ich damit so umgehe, wie dieses Haus schon mehrfach damit umgegangen ist, nämlich in Raten, dann prägt das dieses Rechtsbewußtsein falsch.
    Das Interessante ist ja: Manche glauben — aus sehr ehrenwerten Gründen —, wir hätten hier auch eine gewisse außenpolitische Verantwortung. Natürlich haben wir die. Natürlich schaut das Ausland auf das, was wir in dieser Frage tun. Das wissen wir alle. Aber es ist nicht so, daß man daraus nur eine Konsequenz ziehen könnte.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Richtig!)

    Wir haben Unterhaltungen gepflogen, nicht nur hier, sondern auch in Jerusalem, Tel Aviv und Warschau, und wir haben auch hier in Bonn mit Vertretern verschiedenster jüdischer Spitzenorganisationen aus den Vereinigten Staaten und mit Verlegern jüdischer Zeitungen gesprochen. Wenn man unsere Argumente sachlich — möglichst in kleinerem Kreise — auseinandergelegt und dargestellt hat, dann waren das immer diejenigen, bei denen ich mehr Verständnis gefunden habe als bei manchem, der hier ideologisch auf die eine oder andere Lösung eingeschworen ist.

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

    Dazu bedarf es allerdings des Willens, die besondere Bedeutung dieser rechtsstaatlichen Entscheidung aus unserer Rechtstradition den anderen auch klarzumachen.



    Kleinert
    Ununterbrochen wird uns z. B. erzählt, in den angelsächsischen Ländern wäre das überhaupt nicht drin. Da gäbe es die Verjährung nicht. Ich habe versucht, mich in London mit führenden Mitgliedern des Anwaltvereins — so sagt man bei uns; bei denen ist das viel komplizierter — zu unterhalten. Die haben mir gesagt: Es ist völlig unmöglich, daß ein britischer Ankläger nach 20 Jahren anklagen würde. Daß ein Richter dann diese Anklage annehmen würde, ist absolut ausgeschlossen. Die Praxis dieses case law, die gesicherte Tradition dieses Rechtsbereichs läßt die Idee überhaupt nicht aufkommen, daß man nach so langer Zeit hier etwa noch strafrechtlich vorgehen könne.

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

    Dann soll man uns doch mit oberflächlichen Rechtsvergleichen dieser Art verschonen

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

    und vielmehr vor Ort erforschen, wie sich das wirklich verhält — und es verhält sich wirklich so, wie ich es vor Ort erfahren und Ihnen eben wiedergegeben habe.

    (Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Eine beachtliche Rede!)

    Meine Damen und Herren, das Entscheidende — ich habe es mehrfach gesagt — ist die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte. Ich habe das Buch von Frau Aicher-Scholl über die Geschichte der „Weißen Rose" in diesen Tagen noch einmal gelesen. Diese jungen Menschen haben damals sehenden Auges — so muß man das ganz deutlich verstehen — ihr Leben aufs Spiel gesetzt, nur um zu zeigen, daß es noch ein Prinzip gibt, daß es noch ethische, moralische und gewiß auch rechtliche Prinzipien gibt; sie wollten ein Zeichen dafür setzen, daß sich der einzelne dafür notfalls aufzuopfern hat. Das war das Signal, was die damals geben wollten. Sie wollten zeigen, daß wichtiger als das Leben diese Grundprinzipien sind.
    Jetzt versuchen wir durch letztlich technische Maßnahmen — und sehr technisch hat mir auch einiges in den vorangegangenen Reden geklungen — mit derartigen Dingen fertigzuwerden. Uns hätte es gut getan, wenn möglichst viele von denen, die heute mit der Bierflasche in der Hand vor ihrem Fernseher sitzen, damals auch nur einen Funken von dem an den Tag gelegt hätten — ohne Heldentum, ganz klein, ganz schlicht, in ihrem Umkreis —, was dann schließlich in letzter Stunde diese Geschwister Scholl und ihre Freunde gezeigt haben. Für die Zukunft zu erreichen, daß davon mehr vorhanden ist, als damals vorhanden war, ist unsere Aufgabe,

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Sehr gut!)

    aber nicht, mit rechtlichen Argumenten zu versuchen, unter Gefährdung eines wesentlichen Instituts unseres Rechtsstaates hier scheinbar Dinge in
    Ordnung zu bringen, die so keineswegs in Ordnung zu bringen sind.

    (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)