Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich habe auch nicht vor, das abzuwerten, sondern ich möchte Ihnen gern in Erinnerung bringen, Herr Abgeordneter — vielleicht haben Sie es noch in Erinnerung —, daß wir es bei der Kernenergie und
bei all dem, was damit zu tun hat, seit dem Jahre 1956 mit Bewußtseinsveränderungen, mit Schärfungen des Problembewußtseins zu tun haben. Ich hätte es sehr gern, daß etwas von diesen Schärfungen des Problembewußtseins, das in den letzten Monaten — übrigens auch beim Katholikentag in Freiburg — deutlich geworden ist, in den Reden der Sprecher Ihrer Fraktion deutlich würde.
Was die Prüfung dessen angeht, was wir an Teilerrichtungsgenehmigungen mit der ersten und mit der zweiten erteilt haben, so ist da nichts abzuziehen. Und die dritte Teilerrichtungsgenehmigung kommt auch, und sie kommt, nachdem dieses Parlament über die Sache, über die verhandelt werden muß, geredet hat.
— Gerne! Die dritte Teilerrichtungsgenehmigung kommt nach der Entschließung des Bundestages.
— Nein, Sie müssen nicht Ersatzregierung spielen; davon ist überhaupt keine Rede.
Aber lesen Sie doch bitte, wenn Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts lesen, nicht nur den Teil, der Ihnen paßt, sondern nehmen Sie auch den Duktus des Urteils zur Kenntnis.
Dann werden Sie feststellen, daß das Bundesverfassungsgericht an keiner Stelle davon redet, daß dem Parlament das Reden und das Entscheiden in dieser Sache aus der Hand genommen werden solle, und Sie werden auch feststellen, daß das Bundesverfassungsgericht — vor allen Dingen im dritten Leitsatz auf Seite 1 — deutlich macht, daß „der Gesetzgeber dann, wenn er eine Entscheidung getroffen hat, deren Grundlage durch neue, im Zeitpunkt des Gesetzeserlasses noch nicht abzusehende Entwicklungen entscheidend in Frage gestellt wird, von Verfassungs wegen gehalten sein kann, zu überprüfen, ob die ursprüngliche Entscheidung auch unter den veränderten Umständen aufrechtzuerhalten ist". Wenn dies der Leitsatz 3 des Urteils ist, werden Sie doch wohl einer Regierung und Koalitionsfraktionen zugestehen, daß sie vor einer schwierigen Entscheidung — und dies ist eine schwierige Entscheidung, auch wenn das in Reden Ihrer Fraktion nicht immer deutlich geworden ist — das Gespräch mit dem Souverän, mit dem Bundesgesetzgeber suchen und nach diesem Gespräch ihre Entscheidungen treffen.
— Es gibt viele neue Tatsachen, die wir ausbreiten und darstellen könnten, und es wird mancherlei Anlaß geben, das deutlich zu machen.
9812 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 125. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 14. Dezember 1978
Ministerpräsident Rau
Es geht darum, daß angesichts der Sensibilität des Themas, mit dem wir es zu tun haben, jeder Schritt, den wir tun, sichtbar und glaubwürdig begleitet werden muß von gewissenhafter Prüfung, von zunehmender Sachkunde und von der Bereitschaft, solche Sachkunde noch zu steigern, vom öffentlichen Gespräch — und welcher Ort wäre für das öffentliche Gespräch besser geeignet als das Parlament?
und von der Bereitschaft zur ständigen Überprüfung des zurückgelegten Weges.
Ich möchte gern ein paar Sätze zum Vorschlag meines Kollegen Horst-Ludwig Riemer sagen, der ja einige Aufregung mit dem verursacht hat, was er im September dargestellt hat und was unter dem Stichwort „Plutoniumvernichtungsanlage" nach meiner Überzeugung viel zu knapp, viel zu schnell, _viel zu sehr nebenbei bewertet worden ist.
Daß dieser Vorschlag zu diesem Zeitpunkt gekommen ist,
hängt mit der dritten TEG zusammen, hängt damit zusammen, daß ja nach der gegenwärtig zu erteilenden Genehmigung nicht x-beliebige Maschinenteile gekauft werden sollen, sondern ein schwieriger, ein wichtiger Schritt auf dem Wege zur Fertigstellung des Schnellen Brüters getan wird.
Nun kann es ja sein, daß einem das nicht paßt, aber deswegen darf man doch wohl General Atomic nicht aus dem Kreis der Sachkundigen ausschließen. Denn gerade General Atomic gehört zu denen, die Möglichkeiten und Notwendigkeiten alternativer Brennstoffkreisläufe nicht nur für denkbar halten, sondern auch an ihnen arbeiten und sie alternativ anbieten. Von dort kommen ja die Überlegungen, die ich ernst zu nehmen bitte und die in Punkt 2 des Antrages der Koalitionsfraktionen zur Enquete-Kommission u. a. angesprochen werden. Hier liegt nach meiner Überzeugung der forschungspolitische Fortschritt in den Entschließungen und in der heute hier geführten Debatte. Hier wird, wenn ich den Punkt 2 des Entschließungsantrags richtig verstehe, die Ergebnisoffenheit dessen, was wir forschungspolitisch tun, nicht nur deklamiert, sondern definiert und so möglich gemacht. Dafür bin ich dankbar.
Ich bin deshalb für diesen Punkt 2 des Entschließungsantrags dankbar, weil er deutlicher macht, als es in den Diskussionen der letzten Monate geschehen konnte, daß die Formulierungen „Versuchsreaktor" und „Prototyp" nicht schamhaftes Verhüllen eines anderen Sachverhaltes sind, sondern daß mit diesem Entschließungsantrag — mit dem, was er will, und dem, was er erreicht — Kalkar wieder an den Platz gestellt wird, der ihm trotz der Größenordnung von 300 MW, die dieser Prototyp, dieser Versuchsreaktor hat, forschungs- und technologiepolitisch zukommt. Und ich bin dankbar für die Rede, die Herr Kollege Volker Hauff hier heute gehalten hat, und für die
Rede meines Freundes Ueberhorst. Wenn alle, die über Kernenergie reden, in den letzten Jahren so differenziert geredet hätten, wie diese beiden es heute getan haben, wäre uns manche holzschnittartige Auseinandersetzung erspart geblieben.
Es geht bei Ihrer heutigen Entscheidung über deh Entschließungsantrag nicht um die bloße Genehmigungsfähigkeit eines Typs, sondern es geht darum, daß ein Parlament sich seines eigenen Weges öffentlich versichert und vergewissert. Vor diesem Versuch und vor dieser Absicht habe ich Respekt.
Wenn der Punkt 4 des Entschließungsantrags der Koalitionsfraktion von den „Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben" und von der „Verhinderung von Fehlentwicklungen" redet, meine ich, sei es nicht erlaubt, so wie es der Abgeordnete Riesen- huber hier getan hat, süffisant von „psychosozialen Expertisen" zu reden.
Es geht nicht um psychosoziale Expertisen, sondern darum, daß wir miteinander das Gespräch darüber suchen und bereit sind, es mit dem Bürger zu führen, der ja nicht nur von Böswilligen in die Angst vor dem Atomstaat getrieben werden könnte und der wissen möchte, ob für uns das Wort „beherrschbar" und das Wort „vertretbar" eigentlich nur Worthülsen sind oder ob wir, die wir auf Zeit Verantwortung haben, selber die Dimension unserer eigenen Entscheidungen bedenken können.
Mit dem Punkt 4 des Entschließungsantrages der Koalitionsfraktion durchbricht meiner Überzeugung nach der Bundestag beim Thema Kernenergie und beim Thema Schneller Brüter die Schallmauer des bloß Energiewirtschaftlichen, des bloß Energiepolitischen, des bloß Wirtschaftspolitischen. Deshalb wäre ich froh, wenn diese Entschließung der Koalitionsfraktionen hier nicht nur mehrheitsfähig, sondern auch übereinstimmungsfähig wäre.
Sie sichert uns und Ihnen bei künftigen Entscheidungen volle Handlungsfreiheit.
Sie setzt an die Stelle der Anweisung eine Auftragsverwaltung in Mitverantwortung. Und weil es darum ging, wollten wir, daß dieses Parlament öffentlich redet. Wenn so verantwortliches Wahrnehmen der Auftragsverwaltung geschieht, meine Damen und Herren, dann fürchte ich die Karikaturen nicht, die hier und andernorts über die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen ohne zeichnerische Einfälle immer wieder angeboten werden.
Wer das Problem auf die Entscheidungsfähigkeit
eines Kabinetts reduzieren will, wer hier parteipolitisch ein wenig Rabatt erreichen, ein wenig
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Ministerpräsident Rau
Rendite haben möchte, der verkennt die Dimension des Problems.
Hier darf man weder naßforsch noch locker, weder ausweichend noch abwiegelnd entscheiden.
Hier muß man glaubwürdig, verständlich, übersetzungsfähig reden und handeln.
Die Entschließung der Koalitionsfraktionen gibt uns in Nordrhein-Westfalen die Möglichkeit, die dritte Teilerrichtungsgenehmigung zu erteilen. Die Entschließung ist nach meiner Meinung nicht nur mehrheitsfähig, sondern übereinstimmungsfähig. Ich fände es gut, wenn auf der Basis dieser Entschließung die Gemeinsamkeit der Energiepolitik kein Wortgeklingel bliebe, sondern der Wirklichkeit ein Stück näher käme.