Rede von
Dr.
Horst
Ehmke
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Kohl, ich halte es für sehr schlimm, daß der Vorsitzende der CDU den Fehler macht, aus der Tatsache, daß die CDU erst 1945 gegründet worden ist, zu schließen, die in ihr versammelten Kräfte hätten keine Geschichte, die ins 19. Jahrhundert zurückgeht.
— Ich komme noch darauf zurück, wie der Ungeist des Sozialistengesetzes heute wieder in der deutschen Politik Platz greift. Ich sage das hier nicht als akademische Belehrung, sondern ich komme natürlich noch darauf zurück, Herr Kohl. Es geht nicht, einfach zu sagen: Das fing 1945 an, und dann laßt uns nicht weiter reden. Sie bringen doch auch dauernd historische Zitate.
Dieses unhistorische Denken bringt Sie dazu, heute
stolz zu verkünden: „Wir waren für Europa, da haben die Sozialisten noch gar nicht an Europa gedacht." Das stand bei uns im Heidelberger Programm, als das deutsche Bürgertum noch sehr woanders war, Herr Kollege Kohl.
Herr Kohl, nehmen Sie das einmal so! Sie können mich ja widerlegen, und Herr Biedenkopf wird ja auf mich antworten. Das eigentliche Problem ist, daß wir leider mit dieser rechten Tradition nicht fertiggeworden sind.
— Lassen Sie mich bitte diesen Gedanken zu Ende führen, Herr Kollege Mertes!
Einer der Gründe für den Untergang Weimars war es, daß das deutsche Bürgertum kein Vertrauen und kein Verhältnis zur Demokratie hatte, und zwar bis in die Beamtenschaft und die Richterschaft. Sie wissen vielleicht noch, daß ein hohes deutsches Gericht die Beleidigung der Reichsflagge als „schwarz, rot, Mostrich" mit der Begründung aufrechterhielt, das sei keine Beleidigung, da Mostrich ein Nahrungsmittel sei. Das war ein Vorgang, der in einer gewachsenen Demokratie ganz undenkbar gewesen wäre. Die Deutsch-Nationalen in Weimar haben es vorgezogen, mit den Nazis zu flirten, bis sie von diesen aufgefressen wurden, statt mit den Sozialdemokraten und allen anderen diese Demokratie zu verteidigen. Man kann nicht einfach sagen, das alles sei heute irrelevant.