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    Plenarprotokoll 8/104 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 104. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 21. September 1978 Inhalt: Fortsetzung der ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1979 (Haushaltsgesetz 1979) — Drucksache 8/2150 — in Verbindung mit Beratung des Finanzplans des Bundes 1978 bis 1982 — Drucksache 8/2151 — in Verbindung mit Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes, des Gewerbesteuergesetzes, des Umsatzsteuergesetzes und anderer Gesetze (Steueränderungsgesetz 1979) — Drucksache 8/2100 — in Verbindung mit Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Herabsetzung der flexiblen Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung für Schwerbehinderte (Fünftes Rentenversicherungs-Änderungsgesetz) — Drucksache 8/2101 — in Verbindung mit Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, FDP eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes — Drucksache 8/2102 — Strauß CDU/CSU 8173 C Hoppe FDP 8190 D Schmidt, Bundeskanzler 8195 B Dr. Jenninger CDU/CSU (zur GO) . . 8214 A Porzner SPD (zur GO) 8214 B Spitzmüller FDP (zur GO) . . . . . . 8214 C Dr. Kohl CDU/CSU 8218 C Mischnick FDP 8232 A Dr. Ehmke SPD 8235 C Dr. Biedenkopf CDU/CSU . . . . . . 8242 B Dr. Gruhl fraktionslos 8248 D Dr. Vogel, Bundesminister BMJ 8250 D Dr. Wittmann (München) CDU/CSU . . 8254 B Dr. Graf Lambsdorff, Bundesminister BMWi 8255 B II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. September 1978 Bahr SPD 8259 C Dr. Schwarz-Schilling CDU/CSU . . . 8264 D Dr. Mertes (Gerolstein) CDU/CSU . . . 8267 B Friedrich (Würzburg) SPD 8271 D Dr. Marx CDU/CSU 8276 A Dr. Riedl (München) CDU/CSU 8277 B Löffler SPD 8282 D Gärtner FDP 8285 B Wohlrabe CDU/CSU 8288 C Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz zur Änderung der Antragsfrist für den Lohnsteuer-Jahresausgleich — Drucksache 8/2088 —Gaddum, Staatsminister des Landes Rheinland-Pfalz 8215 A Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz über die Statistik im Handel und Gastgewerbe (Handelsstatistikgesetz) — Drucksache 8/2089 — Gaddum, Staatsminister des Landes Rheinland-Pfalz 8215 D Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz zur Anderung des Investitionszulagengesetzes und anderer Gesetze — Drucksache 8/2090 — Büchler (Hof) SPD 8216 B Dr. Warnke CDU/CSU 8217 B Engelhard FDP 8218 A Nächste Sitzung 8291 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 8293* A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 104. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. September 1978 8173 104. Sitzung Bonn, den 21. September 1978 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich Dr. Lenz (Bergstraße) 22. 9. Luster * 22. 9. Möhring 29. 9. Müller (Mülheim) * 22. 9. Müller (Wadern) * 21. 9. Nordlohne 29. 9. Peter 22. 9. Russe 22. 9. Sauer (Salzgitter) 29. 9. Saxowski 29. 9. Schmidthuber 22. 9. Schmidt (München) ' 22. 9. Schmidt (Wattenscheid) 22. 9. Schreiber * 22. 9. Schulte (Unna) 22. 9. Dr. Schwencke (Nienburg) * 22. 9. Dr. Schwörer * 22. 9. Seefeld * 22. 9. Sieglerschmidt ** 22. 9. Dr. Starke (Franken) * 22. 9. Stücklen 22. 9. Frau Dr. Walz * 22. 9. Wawrzik * 22. 9: Wissmann 22. 9. Würtz * 22. 9. Ziegler 6. 10. Zink 22. 9. für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments ** für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich Adams * 22. 9. Dr. van Aerssen * 22. 9. Dr. Ahrens ** 22. 9. Dr. Aigner * 22. 9. Alber * 22. 9. Dr. Bangemann * 21. 9. Dr. Barzel 22. 9. Dr. Bayerl * 22. 9. Dr. Becher (Pullach) 22. 9. Blumenfeld 22. 9. Dr. Dregger 6. 10. Erhard (Bad Schwalbach) 21. 9. Dr. Eyrich 22. 9. Fellermaier * 22. 9. Dr. Fuchs * 22. 9. Haase (Fürth) 22. 9. Haberl 27. 9. Hansen 28. 9. Hoffie 21. 9. Hoffmann (Saarbrücken) * 22. 9. Ibrügger * 6. 10. Dr. Jahn (Braunschweig) * 22. 9. Dr. h. c. Kiesinger 22. 9. Kleinert 21. 9. Dr. Klepsch * 21. 9: Klinker * 21. 9. Dr.-Ing. Laermann 22. 9. Lange * 21. 9. Lemp * 22. 9.
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    Bitte sehr.


Rede von Dr. Philipp Jenninger
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Herr Bundeskanzler, können Sie mir sagen, wer von unserer Fraktion im Zusammenhang mit den Renten eine Sondersitzung für den August angekündigt bzw. gefordert hat?

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    Sie hatten angekündigt — —(Dr. Jenninger [CDU/CSU] : Wer hat sie angekündigt?)

    — Ich kann Ihnen nicht sagen, wer es war.

    (Reddemann [CDU/CSU] : Roß und Reiter! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    — Entschuldigung, wir sind hier ja nicht vor dem Volksgerichtshof. Ich werde meine Antwort ja wohl in Ruhe geben dürfen.

    (Reddemann [CDU/CSU]: Volksgerichtshof? Nehmen Sie das zurück, Herr Schmidt! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    — Ich werde ja wohl meine Antwort selber geben dürfen und muß ja wohl nicht nach drei Worten unterbrochen werden.

    (Dr. Jenninger [CDU/CSU] : Ich bitte um Entschuldigung. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir eine Antwort auf meine Frage geben würden. — Wehner [SPD] : Er kann ja nicht einmal richtig fragen!)

    — Ich bemühe mich.
    Ich stehe in der festen Erinnerung — ich kann Ihnen nicht sagen, wer von Ihnen es war, aber es waren mehrere —,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Aha!)

    daß Sie damit rechneten, daß die Rentengesetzgebung im Bundesrat zu Fall gebracht würde, ein Vermittlungsausschußverfahren in Gang gesetzt werden müßte und dieses dann im August im Plenum zu entscheiden gewesen wäre.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Dr. Kohl [CDU/CSU] : Alles unwahr! — Reddemann [CDU/CSU] : Nennen Sie Namen! Sie sind doch der größte Erfinder! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Ich möchte gerne zur Währungspolitik und zum Gemeinsamen Markt zurückkommen. Herr Strauß, ich möchte Sie darauf hinweisen, daß der innergemeinschaftliche Wirtschaftsaustausch, der Wirtschaftsaustausch und der Handel zwischen den Partnern des Gemeinsamen Marktes, seit den großen Währungsunruhen, seit dem Jahre 1973, langsamer wächst als der Welthandel im übrigen, während bis zum Jahre 1973 der Welthandel insgesamt langsamer gewachsen war als der innergemeinschaftliche Handel.

    (Franke [CDU/CSU] : Woher kennen Sie den Volksgerichtshof?)

    Ich erwähne dies, um Ihnen gedanklich einen Beleg nahezubringen, von dem ich hoffe, daß er Sie dazu führt, wenn schon nicht aus deutschen außenpolitischen Gründen, so doch aus deutschen wirtschaftspolitischen, beschäftigungspolitischen Gründen zu prüfen, wie sehr uns daran liegen muß, innerhalb des europäischen Marktes, in den wir 60 % all unserer Exporte liefern, wieder zu stabilen Währungsverhältnissen zu kommen.



    Bundeskanzler Schmidt
    Sie haben in dem Zusammenhang mit Recht eine große Zahl von Zitaten aus meiner Feder oder aus meinem Munde vorgelesen, was ich in den Jahren 1972, 1973 und 1974 zu notwendigen Voraussetzungen für einen engeren europäischen Währungsverbund erklärt habe. Ich stehe zu all diesen Zitaten, Herr Strauß.

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

    — Das war sicher der Abgeordnete aus Wangen,
    der da „Hört! Hört!' gerufen hat.

    (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

    Ich stehe zu all diesen Bemerkungen. Ihr Sinn war doch der, daß währungspolitische Zusammenarbeit und Verknüpfung nur sinnvoll möglich sind, wenn dafür gesorgt wird, daß sich der wirtschaftliche Verlauf insgesamt in den Staaten einander annähert, harmonisiert oder wie die technischen Schlagworte heißen, daß man also zu einer stärkeren Koordinierung, einem stärkerem Gleichlauf der Volkswirtschaften kommt.
    Nun sind aber seit den Jahren, aus denen Sie zitiert haben, bis heute ganz entscheidende Veränderungen eingetreten. Damals gab es in Großbritannien eine Inflationsrate von 27 % pro Jahr. Sie ist unter dem Eindruck all der Gespräche und der Leistungen im Juli 1978 tatsächlich auf 8 % reduziert: von 27 auf 8 % in Großbritannien, in Italien von 25 auf 12 %.

    (Pieroth [CDU/CSU] : Jetzt kommt Frankreich!)

    — Ja, natürlich kommt Frankreich: in Frankreich von 15 % im Jahre 1974 auf 9 % in diesem Juli. — Herr Pieroth, ich würde mit kritischen Bemerkungen über die gegenwärtige französische Wirtschafts- und Finanzpolitik vorsichtig sein, die in meinen Augen überaus mutig und tapfer ist.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

    Die Franzosen nehmen unter der Führung von Präsident Giscard d'Estaing und Premierminister Raymond Barre große Risiken in Kauf, um im Innern der französischen Volkswirtschaft das Maß an Stabilisierung zu erreichen, das ein bißchen früher zu erreichen wir so glücklich gewesen sind. Das Vertrauen in die Stabilität und die Kontinuität der Politik der Herren Giscard d'Estaing und Raymond Barre und ihrer Mehrheit im französischen Parlament läßt mich auch auf den positiven Ausgang des Ganzen vertrauen.
    Sie sehen ähnliches in Holland. Ich will Ihnen nicht alle Zahlen für die einzelnen Länder vorlesen. In Holland — Sie konnten. es, glaube ich, gestern in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" lesen — wurde jetzt das Ziel einer Annäherung an die deutsche Preissteigerungsrate von 2 bis 3 % gesetzt. Überall haben die Regierungen erkannt — und die Parlamente sind auf dem Wege, es zu erkennen —, daß man auf die Dauer mit Inflationierung die wirtschaftliche Krise der Welt nicht überwinden kann.
    Wir haben, das zu erkennen, ein bißchen früher fertiggebracht.

    (Katzer [CDU/CSU] : „Lieber 5 % Inflation als 5 % Arbeitslosigkeit" !)

    — Wir sind mit beiden unter 5 %, lieber Herr Katzer.

    (Katzer [CDU/CSU] : Daran wollte ich nur erinnern!)

    — Ja, sicher, ich gebe es zu, aber es ist immer doch besser als in den Ländern, in die Sie rundherum sonst reisen können! Wir sind ja nicht allein auf der Welt.
    Ich gebe es zu, wir haben schreckliche Schwierigkeiten hinter uns und auch noch vor uns, Herr Katzer. Ich bin weit davon entfernt, so zu tun, als ob wir vor einer problemlosen Landschaft stünden. Ich bin weit davon entfernt, so zu tun, als ob das heute vorliegende Gesetzgebungspaket insgesamt die Arbeitslosigkeit oder die Preissteigerungsrate auf Null bringen könnte. Wie käme ich dazu, so etwas zu glauben?! Ich sehe aber — ich bin immer noch bei den Argumenten des Herrn Kollegen Strauß — und verlasse mich in Frankreich und in anderen Staaten der EG auf den neu entstehenden Willen, den Weg der Stabilisierungspolitik zu gehen und ihn mit Konsequenz zu gehen. Heute ist keiner meiner Kollegen im Europäischen Rat mehr der Meinung, daß man mit ein bißchen mehr Inflation Wachstum herbeizaubern könnte.
    Was nun die technische Ausgestaltung des Währungssystems angeht, so werden wir dafür sorgen
    — geldpolitisch gesprochen —, daß stabilitätspolitische Risiken begrenzt bleiben.
    Ich war mit dem französischen Präsidenten in diesem Ziel von Anfang an immer einig. Darüber bestand auch in Aachen Einigkeit zwischen Franzosen und Deutschen. Es bestand Einigkeit darüber, erstens, daß die Regeln des zukünftigen Interventionssystems auf den Devisenmärkten — so wie auch jetzt in der Schlange — sicherstellen, daß jederzeit sowohl die Notenbank des währungsstarken Landes als auch die Notenbank des währungsschwachen Landes, daß also beide intervenieren müssen — Fachleute haben dafür den schönen Ausdruck „Paritätengitter" erfunden; ich will Sie damit aber jetzt hier nicht behelligen —, zweitens, daß die Höhe der Kreditfazilitäten zwar ausreichen muß, um den Bestand und, nota bene, auch die Glaubwürdigkeit des Systems zu sichern, daß aber gleichzeitig die währungspolitischen Beistände, die Inanspruchnahme der Fazilitäten so dimensioniert und so konditioniert sein müssen, daß von daher nicht das stabilitätspolitische Ziel unterlaufen werden kann; und drittens, daß auch in Zukunft innerhalb des Verbundes, wie es auch früher, vor 1973, im Gemeinsamen Markt. der Fall war und wie es vor 1957 war, ehe es den Gemeinsamen Markt gab, natürlich Paritätsänderungen notwendig und zulässig sein müssen, wenn die ökonomischen Entwicklungen innerhalb der Gemeinschaft zu stark divergieren sollten.
    Dies alles stellt die Autonomie z. B. der Deutschen Bundesbank nicht in Frage. Ich füge hinzu,



    Bund eskanzler Schmidt
    I wir haben darüber hinaus sogar die ausgesprochene Absicht, Herr Abgeordneter Strauß, all dies auf dem Wege eines Abkommens zwischen Notenbanken ins Werk zu setzen und nicht durch Gesetzgebung und gegenwärtig jedenfalls auch nicht durch einen Vertrag, der zu ratifizieren wäre. Das mag nach zwei, drei oder vier Jahren dann die Folge sein. Gegenwärtig ist ein Abkommen zwischen Notenbanken beabsichtigt, so wie auch die Schlange kein Vertrag zwischen Staaten ist, nicht auf Gesetz beruht, sondern ein Abkommen zwischen Notenbanken ist.
    Herr Abgeordneter Dregger hat in einem interessanten Aufsatz gesagt, Europa sei mehr als eine „Käseunion". Das ist zwar eine burschikose Ausdrucksweise; aber ich stimme ihm zu. Deswegen darf man sich auch bei solchen Fragen wie der Schaffung eines Währungsverbundes, meine Damen und Herren, auch nicht wie ein Käsehöker benehmen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Wenn ich lese, was alles an Kritik aus der CDU/ CSU dazu gesagt worden ist Herr Kohl hat Kritik geübt, Mißtrauen gesät und mit seinem Namen unterschrieben, Herr Strauß, Herr Häfele, Herr Sprung: „äußerstes Mißtrauen", Herr Sprung: „größte Bedenken", die „Alarmglocke" müsse geläutet werden —,

    (Wehner [SPD] : Hört! Hört!)

    kann ich nur sagen: Mein Gott, welch ein Käse!

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD' und der FDP — Wehner [SPD] : Eine Käse-Union — Reddemann [CDU/CSU] : Das ist doch völlig unparlamentarisch!)

    Ein anderes Wort Ihres neuen wirtschaftspolitischen Sprechers, des Professors Biedenkopf, wird hier Wahrheit: die CDU sei ein „Veto-Kartell". Sie können immer nur nein sagen; eigene Gedanken hören wir nicht.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Reddemann [CDU/CSU] : Auch das ist verkürzt wiedergegeben! Aber das können wir von Ihnen nicht anders erwarten! — Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU]: Das ist unfair!)

    Ihre Bemerkungen zur inneren Sicherheit, Herr Strauß, veranlassen mich, zu einem besonderen Thema etwas hinzuzufügen; ich spreche von den Exilkroaten, die in Deutschland leben. Dies ist ein weltoffenes Land mit einem vom Grundgesetz garantierten Asylrecht. Diese freiheitliche Ordnung hat dazu geführt, daß sehr viele Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, leben, 4 Millionen gegenwärtig. Die breite Mehrheit der Deutschen schätzt die große Mehrheit dieser ausländischen Mitbürger. Wenn aber Ausländer auf deutschem Boden Gewalt predigen, Gewalt anwenden oder Gewaltaktionen, die sie in anderen Staaten durchzuführen beabsichtigen, bei uns vorbereiten sollten, so mißbrauchen sie unser Gastrecht und müssen mit unserem entschiedenen Eingreifen rechnen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Terroristen bleiben Terroristen, gegen wen sie sich auch wenden mögen;

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Das ist unbestritten!)

    sie werden bei uns mit der gleichen Elle gemessen. Eine erhebliche Anzahl von Strafurteilen deutscher Gerichte, in denen in entsprechenden Fällen hohe Strafen verhängt worden sind, sowie ausländerrechtlicher und vereinsrechtlicher Maßnahmen belegen das. Wir sind es unseren eigenen Bürgern schuldig, dafür zu sorgen, daß Streitigkeiten anderer Länder nicht auf unserem Boden, nicht auf Kosten unserer öffentlichen Ordnung und unserer öffentlichen Sicherheit ausgetragen werden. Das ist zugleich auch ein Gebot der Friedenspolitik. Wir sind es allen Staaten, wir sind es befreundeten Staaten, z. B. Jugoslawien, in besonderem Maße schuldig, dafür zu sorgen, daß unser Land nicht zur Ausgangsbasis von Aktionen werden kann, die die Integrität anderer Staaten in Frage stellen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ich versichere unsere Entschlossenheit, mit den uns zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mitteln weiterhin zu sichern, daß unsere Rechtsordnung geachtet wird, daß die Grenzen des Gastrechts strikt eingehalten werden. Wer unsere öffentliche Ordnung mißachtet, das Gastrecht mißbraucht, unserer Friedenspolitik Schaden zufügt, kann mit Nachsicht nicht rechnen.
    Sie haben im Zusammenhang mit dem Terrorismus noch einmal von Sicherungsverwahrung gesprochen. Herr Strauß, wissen Sie eigentlich, daß —gesetzt den Fall, Ihre Vorschläge zur gesetzlichen Verankerung von Sicherungsverwahrung wären so Gesetz geworden, wie Sie sie hier eingebracht haben — dann insgesamt bisher nur in einem einzigen Fall — in einem einzigen Fall! — theoretisch davon hätte Gebrauch gemacht werden können? Und gerade dieser Fall betraf einen Täter, der durch seine Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden zur Überführung anderer Täter beigetragen hat. Geben Sie es doch auf, so zu tun, als ob die nicht zu leugnenden Pannen, wie man sich zu sagen angewöhnt hat — ob im Odenwald oder anderswo, auch in Bayern ist ja die Entführung des Herrn Oetker noch nicht aufgeklärt, Herr Strauß; Pannen gibt es ja nicht nur an einer Stelle —, durch zusätzliche Gesetze vermieden werden könnten! Auch bitte ich jedermann und richte mich an alle drei Seiten des Hauses: Wenn bei der Polizei oder bei anderen Behörden Fehler vorgekommen sind, die offenbar werden, bitte, widerstehen Sie der Versuchung — je nach tatsächlichem oder vermutetem Parteibuch des zuständigen Polizeiführers —, den Mann persönlich öffentlich anzugreifen!

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ich habe Vertrauen in die Diensttreue und in den Pflichteifer dieser Menschen, deren Leistungsfähigkeit in den letzten Jahren in sehr viel höherem Maße in Anspruch genommen worden ist als die durchschnittliche Leistungsfähigkeit anderer Menschen im öffentlichen Dienst. Ich finde, wir dürfen nicht dazu beitragen, daß nun auch noch die Sicher-



    Bundeskanzler Schmidt
    heitsorgane parteipolitisch auseinandermanipuliert werden. Das, was sie zu tun haben, ist schwierig genug.
    Man sollte auch nicht immer wieder so tun, als ob das, was an einigen Schulen, an einigen Universitäten geschieht, als ob die Frage der Extremisten im öffentlichen Dienst, des Terrorismus alles ein Kontinuum sei, in dem das eine aus dem Vorhergehenden fließe.
    Uns muß daran liegen — uns allen —, daß das liberale Bild unserer Gemeinschaft, unseres Staates — im Inland wie im Ausland —, nicht in Zweifel gezogen werden kann.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Uns muß gemeinsam an der Verhinderung eines Klimas liegen, das Opportunisten oder Angepaßte begünstigt. Uns muß gemeinsam an der Zurückdämmung einer ausufernden Praxis liegen, welche die Dienste des Verfassungsschutzes in übermäßiger Weise in Anspruch nimmt und sie für Zwecke verwendet, für die sie ursprünglich nie konzipiert gewesen sind.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Wir müssen die Verhältnismäßigkeit der Mittel wahren, wenn wir uns vorsehen, auf daß wir bestimmte Menschen bestimmter Auffassungen nicht in den Staatsdienst lassen wollen. Vielleicht wäre es gut, in diesem Gesamtzusammenhang an einen großen Franzosen — ich spreche von de Gaulle — zu erinnern, dem damals in den schweren Auseinandersetzungen um Algerien angetragen wurde, gegen Jean-Paul Sartre vorzugehen. De Gaulle hat das abgelehnt, wenngleich nach französischem Strafrecht vielleicht ein ausreichender Anlaß bestanden hätte. De Gaulle hat es abgelehnt — nicht mit juristischer Spitzfindigkeit, sondern indem er gesagt. hat: „Auch Sartre ist Frankreich." Und so müßten wir sagen, Herr Strauß: Auch die jungen Leute, deren Auffassung Ihnen nicht paßt und mir bisweilen wirklich auch nicht, sind Deutschland und verdienen ganz genauso wie jeder andere Deutsche liberale Handhabung unserer Grundrechte und unseres staatlichen Systems.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Man könnte de Gaulle abwandeln und sagen: Auch Marx ist Deutschland.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Reddemann [CDU/CSU] : Der Beifall ist spärlich!)

    — Der Beifall ist spärlich; es wird offenbar nicht goutiert. Aber man kann nicht nur des Beifalls wegen reden, Herr Kollege.

    (Reddemann [CDU/CSU] : Das müssen Sie gerade sagen!)

    Aber ich möchte auch gern in umgekehrter Richtung den jungen Leuten, für die ich mich hier einsetze, eines sagen. Herr Strauß hat von dem Schlagwort „Berufsverbot" gesprochen. Ich möchte diejenigen, die diese Worte benutzen, bitten, zu prüfen, was es damit auf sich hat, und darauf hinweisen, daß der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in
    diesem Sommer nicht nur die Haftbedingungen von Terroristen in Deutschland, sondern auch die Änderungen der Strafprozeßordnung, auch die Auswirkungen des Kontaktsperregesetzes geprüft hat und daß 14 Richter auf 14 europäischen Nationen einstimmig festgestellt haben, daß hierzulande in keinem Falle gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen worden ist. Ich begrüße diese Feststellung eines hohen internationalen Gerichtshofs, daß wir das Notwendige besonnen und in rechtsstaatlich einwandfreier Weise getan haben. Auch das sollte hierzulande gehört werden. Es bleibt zumindest eine offene Frage — Sie haben von dem Vorhang gesprochen, Herr Strauß, der aufgeht, und die Fragen bleiben alle offen —, wie die Richter in Straßburg zu entscheiden haben würden, wenn alle die Vorschläge ins Bundesgesetzblatt hineingeschrieben worden wären, die Sie uns hier vorgelegt haben.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Die gesamte Rede, die wir heute von Herrn Strauß gehört haben, war die Rede des zukünftigen Vorsitzenden der zukünftigen vierten Partei. Dies ist ein Thema, auf, das man hier nicht verzichten .kann. Ich habe eine Zeitung aus dem Mai 1978 mit den großen Überschriften vor mir: Kohl will von Strauß ultimativ Verzicht auf die vierte Partei fordern.

    (Wehner [SPD] : Hört! Hört!)

    Das Wort „Ultimatum" bedeutet doch auf deutsch: Wenn du das nicht läßt, dann tue ich dir etwas. Das ist ein Ultimatum. Ich kann mir das bildlich schon richtig vorstellen, wie der Herr Kohl dem Strauß etwas tut. Er tut es nicht, sondern er bereitet inzwischen eine eigene Ausbreitung der CDU in Bayern vor. Ich kann davor erneut nur warnen. Das mag uns Sozialdemokraten im ersten Augenblick nutzen. Das mag so sein. Es gibt manche Freunde in meiner Partei, die sagen: Laß sie doch, die zersplittern sich, das nützt uns! Im zweiten und dritten Akt öffnen Sie, meine Damen und Herren von der Union, den Weg für eine Aufspaltung des politischen Spektrums, die wir alle später nicht wieder einfangen können. Das ist für uns alle ein sehr bedenklicher Weg.
    Ebenso ist es bedenklich, wenn immer wieder der öffentliche Ratschlag ertönt, daß die Opposition im Bundestag und die Opposition im Bundesrat eine einheitliche Strategie verfolgen sollen. Es gibt keine Opposition im Bundesrat. Im Bundesrat gibt es ganz bestimmte verfassungsrechtliche Pflichten, und die Länder sind nicht parteipolitisch organisiert.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Was ich hier zitiert habe, hat Herr Dregger vor einem Jahr gesagt. Heute redet er anders. Ich begrüße seinen Gesinnungswandel.

    (Wehner [SPD]: Ein Wandel des Jacketts!) Hoffentlich hält der Wandel über den Wahlsonntag in Hessen hinaus an.

    Herr Dregger hat im Laufe der letzten Monate eine Fülle von Äußerungen getan. Eine Äußerung ist über ihn getan worden, die ich bedauere — ich sehe, daß er heute nicht hier ist, und ich hoffe, daß



    Bundeskanzler Schmidt
    er sich davon in ihm geeignet erscheinender Weise distanzieren kann. Es gibt eine deutsche Zeitung, die unter Inanspruchnahme des Bildes von Männern der Grenzschutzgruppe 9 in einer großen Balkenüberschrift schreibt: „Ist Deutschland erwacht?" und zugibt, daß das ein Reizwort sei. Es ist ja nichts weiter als eine Verfremdung des alten „Stürmer"-Aufrufs: „Deutschland, erwache!" — Also: „Ist Deutschland erwacht?" und dann heißt es, man wolle gleich noch zwei Reizwörter hinterherschikken: „Alfred Dregger". Das Ganze ist eine Reklame, die der „Rheinische Merkur" in anderen Zeitungen für einen Aufsatz macht, den Herr Dregger dort geschrieben hat. Ich möchte ihn darauf aufmerksam machen, daß das nicht geht. So darf man sich nicht mißbrauchen lassen, in diesem Fall von Geschäftemachern. Die Redaktion des „Rheinischen Merkur" ist, wie ich annehme, unbeteiligt.

    (Beifall bei der SPD)

    So darf man sich nicht mißbrauchen lassen. Ich möchte ihn darauf aufmerksam machen, ohne ihn hier anzugreifen oder zu kritisieren. Möglicherweise ist er völlig unbeteiligt.

    (Reddemann [CDU/CSU]:Warum das alles?)

    Aber es geht nicht, daß zum Zwecke der Aufmerksamkeitswerbung Schlagworte des Dritten Reichs in leicht verfremdeter Form in die Debatte geschleudert werden. Das geht nicht!

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Das geht insbesondere nicht, wenn andere gleichzeitig eine Generalamnestie-Debatte in unserem Volk führen.

    (Wehner [SPD] : Sehr richtig!)

    Ich habe jüngst Gelegenheit gehabt, Herrn Golo Mann, der diese Debatte ausgelöst hat, persönlich meine Meinung dazu zu sagen. Ich hatte das Gefühl, wir stimmten darin überein, daß wir verschiedener Meinung blieben.
    Ich habe gelesen — dafür bedanke ich mich, und ich erkenne es an —, daß sich Herr Kohl gegen eine Generalamnestie ausgesprochen hat. Es hat andere Äußerungen gegeben, die nicht so eindeutig waren. Ich bin hier einer Meinung mit meinem Freund Willy Brandt, der vor langer, langer Zeit, vor vielen Jahren das erste Mal und seither wiederholt gesagt hat: wir Deutschen können auf die Dauer nicht als ein der Nazizeit wegen innerlich gespaltenes Volk leben. Deshalb bin auch ich nicht für das Durchsuchen alter Schriften oder Reden oder Dissertationen nach der „bewußten Stelle". Aber ich bin dagegen, daß wir unsere Vergangenheit wegdrängen, die Schuld und das Versagen vergessen machen wollen. In diesem Sinne bin ich dagegen, einen Schlußstrich zu machen.
    Es gab keine Kollektivschuld. Wir haben das alles abgelehnt. Es kann auch keine kollektive Unschuld geben. Wenn Geschichte eine Bedeutung hat — die muß sie haben; da stimme ich Herrn Strauß ausdrücklich zu: Geschichte muß eine Bedeutung für das politische und gesellschaftliche Selbstverständnis eines Volkes und eines Staates haben —, dann kann man nicht Teile der Geschichte auslöschen; denn diese Teile gehören dazu. Herr Strauß würde das selber nie tun wollen. Ich bin dagegen, daß jemand sein Gedächtnis gegen ein individuelles oder kollektives gutes Gewissen austauscht.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    In einem Punkt bin ich nicht ganz der Meinung von Herrn Kohl, dem ich im übrigen vorhin zugestimmt habe. Sie, Herr Abgeordneter Kohl, haben geschrieben, man müsse der jungen Generation verständlich machen, wie leicht damals jemand ohne eigenes Zutun in Schuld geraten konnte. Es war sicherlich leicht, darin verstrickt zu werden; darin stimme ich Ihnen zu. Aber unter Menschen kann man — ich will nicht in theologische Kategorien einsteigen — nur durch eigenes Handeln oder eigenes Nichthandeln schuldig werden. Ohne eigenes Zutun gerät man nicht in Schuld. Der Begriff „Schuld" wäre ohne inneren Sinn, wenn man Schuld zu tragen hätte, ohne daß man selbst etwas getan oder unterlassen hätte.
    Ich stimme Herrn Strauß zu: Kein Volk, keine Zivilisation, keine Literatur, keine Kunst, kein Staat, keine Wissenschaft kann ohne Geschichte existieren. Ich stimme ihm zu, daß in unserer Zeit — übrigens auch schon zu meiner Jugendzeit, als ich zur Schule ging; ich vermute, auch zu der Zeit, als Sie noch zur Schule gegangen sind —, Unzufriedenheit über die Darstellung der Geschichte besteht. Auch wir waren nachträglich mit dem unzufrieden, was uns als jungen Menschen an Geschichte angeboten worden ist. Ich bin auch unzufrieden mit dem, was heute den jungen Menschen an Geschichte auf allen Feldern angeboten wird. Allerdings finde ich, man sollte nicht so weit gehen, zu sagen, der Mangel an Geschichtskenntnis habe schließlich zum Terrorismus geführt. Das haben aber nicht Sie gesagt, das war ein anderer.
    Wir merken in der Bundeswehr ganz deutlich — ich habe das schon 1969, 1970 und 1971 gemerkt —, wie wenig die jungen Menschen, mit 18, 19, 20 Jahren zur Bundeswehr kommend, tatsächlich geschichtliche Vorstellungen haben. Das war schon damals so. Das hat nichts mit Rahmenplänen zu tun; diese kamen später. Es ist eine allgemeine Misere. Entscheidend für diese allgemeine und allgemein beklagte Misere mag sein, daß es einige gibt, die von dieser jüngsten Geschichte soviel nicht wissen wollen, die sich unsicher fühlten, wie sie sie behandeln sollten; daß es in der Aufbauphase nach 1945 oder nach 1948 einen langanhaltenden Prozeß der Verdrängung der jüngsten Geschichte gegeben hat.
    Auf der anderen Seite möchte ich auch dies sagen: Ich empfehle die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte. Ich empfehle sie den politischen Parteien, den einzelnen Disziplinen der Wissenschaft und insbesondere der politischen Wissenschaft. Studium der Politik kann sich nicht auf Soziologie beschränken.

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU — Dr. Kohl [CDU/CSU] : Eine ganz neue Erkenntnis!)

    Ich füge eines hinzu: Die Beschäftigung mit unserer eigenen deutschen Geschichte darf sich auch nicht darin erschöpfen, nun nur die dunklen Jahre



    Bundeskanzler Schmidt
    unserer Vergangenheit auszubreiten. Das geht auch nicht.

    (Reddemann [CDU/CSU] : Einverstanden!)

    Ich erinnere mich an meinen Freund Wolfgang Döring von den Freien Demokraten, der schon lange nicht mehr unter uns ist. Es liegt 20 Jahre zurück, als ich als junger Kreisvorsitzender der SPD in Hamburg-Nord den damals ebenso jungen Wolfgang Döring eingeladen habe, bei uns einmal einen Vortrag über das zu halten, was die FDP denkt und was sie bewegt. Das war, wie ich glaube, noch vor den Jungtürken von Düsseldorf. Er hat damals einen Satz geprägt, den ich mein Leben lang nicht wieder vergessen habe. Er hat gesagt: Wir müssen zusehen, daß wir unseren jungen Menschen das deutsche Geschichtsbuch nicht als ein einziges Verbrecheralbum darstellen. Das geht auch nicht.
    So halte ich es eben deshalb mit Willy Brandt, den ich am Anfang zitiert habe: Wir dürfen uns in der Auseinandersetzung mit der Nazizeit nicht innerlich aufspalten. Weder darf der eine alles verdrängen, was da war, noch darf der andere es zum ausschließlichen Gegenstand der Betrachtung machen. Es gibt viele Freiheitstraditionen im deutschen Volk und in der deutschen Geschichte. Man braucht nicht bei den Bauernkriegen und auch nicht bei 1848 anzufangen. 1848 ist es aber wert, betrachtet zu werden. Das war die Geburtsstunde der schwarz-rot-goldenen Fahne, der demokratischen, republikanischen Tradition in Deutschland.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Man kann auch bei 1918 oder dem 20. Juli 1944, dem Widerstand in vielen Formen, anknüpfen.
    Es fällt mir schwer, hier eine Bemerkung zu unterdrücken. Ich werde sie nicht unterdrücken. Ich habe mich betroffen .gefühlt, daß man einem Mann wie meinem Freunde Wehner es versagen zu sollen glaubte, sich an einer Feier zur Erinnerung an die Opfer des 20. Juli zu beteiligen, während man Herrn Filbinger ein oder zwei Jahre vorher selbstverständlich hatte reden lassen.

    (Anhaltender Beifall bei der SPD und der FDP)

    Dem jungen Kollegen in Ihrer Fraktion, Herr Dr. Kohl, der das ausgelöst hat, möchte ich eines sagen. Ich habe Baron Guttenberg sehr gut gekannt. Ich habe mit ihm hier in diesem Saal zwar auch schrecklich polemische Redegefechte ausgetragen, aber' ich habe ihn auch in den Jahren gut und genau und persönlich gekannt, als er sein Haus und seinen Stuhl nicht mehr verlassen konnte, und auch in den Zeiten, als er kaum noch sprechen konnte, haben wir miteinander geredet. Ich bin ganz sicher: Wenn Guttenberg noch lebte, dieses wäre so nicht passiert. Er hätte sich eingemischt

    (Reddemann [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!)

    und hätte das Wort, das sonst leider keiner laut erhoben hat, dafür erhoben, daß es von jeder Seite — von adliger genauso wie von kommunistischer Seite — ehrenhaft war, Widerstand gegen die Diktatur der Nazis zu leisten.

    (Anhaltender Beifall bei der SPD und der FDP)