Verehrter Herr Kollege, içh halte kein historisches Kolleg, sondern ich kümmere mich um Probleme, die uns alle bedrängen. Ich setze mich mit einem Begriff auseinander, den Sie in höchst unscharfer Weise in unsere gegenwärtige Diskussion eingeführt haben.
— Sie haben durchaus die Möglichkeit, noch einmal zu fragen. Aber ich will Ihnen eine zweite Antwort geben. Ich will eben die Gegensätze zwischen Ost und West nicht nur, wie Sie sagen, auf gesellschaftliche Unterschiede zurückführen, sondern ich will die fundamentale Auseinandersetzung und Gegensätzlichkeit im politischen Wollen, im politischen Spiel, im Menschenbild, im Geschichtsbild sowie im Ziel aller politischen Handlungen darstellen. Das ist weit mehr — das werden Sie sicher zugeben — als
die Frage gesellschaftlicher Spannungen und gesellschaftlicher Unterschiede.
Der Bundesaußenminister hat wie ich glaube,
völlig zutreffend — in seiner Rede, von der ich vorhin sprach, gesagt, daß Ost und West mit entgegengesetzten Erwartungen in den Entspannungsprozeß eingetreten seien. Er stellt also heute fest, daß die Erwartungen damals entgegengesetzt waren. Das haben aber wir immer, auch damals, behauptet. Es gilt heute im Auge zu behalten, Herr Bundesminister, daß es sich unserer Überzeugung nach nicht nur um Erwartungen handelt, sondern auch — das habe ich gerade in meiner Antwort deutlich gemacht — um entgegengesetzte Inhalte, und zwar damals handelte und heute immerfort handelt.
Das alles müssen wir bedenken, wenn wir uns nun einem besonderen, dem deutschen Problem und einer wichtigen Aktualität zuwenden. Seit der Veröffentlichung des Manifests einer unbekannten Gruppe von DDR-Oppositionellen steht die Deutschland- und Ostpolitik der Bundesregierung, das von ihr gezeichnete Bild einer stabilisierten DDR — oder einer DDR, die man durch eigene Politik stabilisieren müsse —, ein Bild von deren Fähigkeiten und Absichten auf dem Prüfstand. Zugleich waren und sind das für uns alle Tage der Bewährung, der Probe: ob nämlich das einst so großartig als Vertragswerk bezeichnete Geflecht von Verträgen, Briefwechseln, Protokollnotizen und Absichtserklärungen ein verläßliches, ein dauerhaftes Instrument der Entspannung und tragfähig wie eine Brücke über dem Abgrund zwischen beiden Teilen Deutschlands sei.