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ID0806705500

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 8/67 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 67. Sitzung Bonn, Dienstag, den 24. Januar 1978 Inhalt: Abwicklung der Tagesordnung . . . . . 5147 A Amtliche Mitteilung ohne Verlesung . . . 5147 A Begrüßung einer Delegation des Landwirtschaftsausschusses der Brasilianischen Abgeordnetenkammer 5164 B Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1978 (Haushaltsgesetz 1978) — Drucksachen 8/950, 8/1285 — Beschlußempfehlungen und Berichte des Haushaltsausschusses Einzelplan 01 Bundespräsident und Bundespräsidialamt — Drucksache 8/1361 - 5147 B Einzelplan 02 Deutscher Bundestag — Drucksache 8/1362 — Collet SPD 5147 D Einzelplan 03 Bundesrat — Drucksache 8/1363 — 5149 C Einzelplan 04 Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und . des Bundeskanzleramtes — Drucksache 8/1364 — Strauß CDU/CSU 5149 D Brandt SPD 5164 C Hoppe FDP 5173 B Dr. Apel, Bundesminister BMF 5179 D Dr. von Weizsäcker CDU/CSU 5183 C, 5184 A Dr. Marx CDU/CSU (zur GO) 5183 D Porzner SPD (zur GO) 5184 A Friedrich (Würzburg) SPD 5190 D Dr. Bangemann FDP 5196 D Schmidt, Bundeskanzler 5202 D Schröder (Lüneburg) CDU/CSU 5209 C Löffler SPD 5214 A Wohlrabe CDU/CSU 5215 C Esters SPD 5218 D Namentliche Abstimmung 5220 A II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. Januar 1978 Einzelplan 05 Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts — Drucksache 8/1365 — Dr. Marx CDU/CSU . . . . . . . . 5222 A Frau Renger SPD 5229 A Picard CDU/CSU 5233 B Genscher, Bundesminister AA 5236 A Einzelplan 27 Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen — Drucksache 8/1380 — Mattick SPD 5239 B Franke, Bundesminister BMB 5241 D Einzelplan 23 Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit — Drucksache 8/1378 — Picard CDU/CSU 5245 C Esters SPD 5247 C Gärtner FDP 5250 B Frau Schlei, Bundesminister BMZ . . . . 5251 A Dr. Hoffacker CDU/CSU . . . . . . . 5253 B Hofmann (Kronach) SPD 5257 C Dr. Vohrer FDP 5259 A Einzelplan 19 Bundesverfassungsgericht — Drucksache 8/1376 — . . . . . . . 5260 A Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 1974 über die Verbreitung der durch Satelliten übertragenen programmtragenden Signale — Drucksache 8/1390 — 5260 A Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 11. Oktober 1977 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Island über die gegenseitige Unterstützung in Zollangelegenheiten — Drucksache 8/1358 — 5260 A Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Altölgesetzes — Drucksache 8/1423 — 5260 B Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem von der Bundesregierung vorgelegten Agrarbericht 1977 — Drucksachen 8/80, 8/81, 8/1350 — . . . 5260 B Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zum Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD, FDP zur Beratung des Agrarberichts 1977 der Bundesregierung — Drucksachen 8/306, 8/1351 — . . . . 5260 C Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft „ehemalige Gallwitz-Kaserne" in Ulm an die Stadt Ulm — Drucksache 8/1352 — . . . . . . . 5260 C Beratung der Sammelübersicht 17 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen - Drucksache 8/1415 — . . . . . . . 5260 D Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Entwurf einer Richtlinie des Rates über bestimmte Erzeugnisse für die Tierernährung Vorschlag einer dritten Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 70/524/EWG über Zusatzstoffe in der Tierernährung Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 74/63/EWG über die Festlegung von Höchstgehalten an unerwünschten Stoffen und Erzeugnissen in Futtermitteln und zur Änderung der Richtlinie 70/373/EWG über die Einführung gemeinschaftlicher Probenahmeverfahren und Analysemethoden für die Untersuchung von Futtermitteln — Drucksachen 8/833, 8/1353 — 5260 D Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag einer Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2772/75 über Vermarktungsnormen für Eier — Drucksachen 8/814, 8/1420 — 5261 A Nächste Sitzung 5261 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 5263* A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. Januar 1978 5147 67. Sitzung Bonn, den 24. Januar 1978 Beginn: 9.00 Uhr
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    Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens ** 24. 1. Alber ** 24. 1. Dr. Bardens ** 24. 1. Böhm (Melsungen) ** 24. 1. Frau von Bothmer ** 24. 1. Büchner (Speyer) ** 24. 1. Dr. Dollinger 24. 1. Dr. Enders ** 24. 1. Flämig * 24. 1. Dr. Geßner ** 24. 1. Handlos ** 24. 1. * für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments ** für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Kreile 27. 1. Frau Krone-Appuhn 27. 1. Lagershausen** 24. 1. Lampersbach 24. 1. Lemmrich** 24. 1. Marquardt ** 24. 1. Dr. Müller ** 24. 1. Müller (Wadern) * 24. 1. Offergeld . 27. 1. Pawelczyk ** 24. 1. Reddemann ** 24. 1. Dr. Schäuble *' 24. 1. Scheffler ** 24. 1. Schmidthuber ** 24. 1. Dr. Schwencke (Nienburg) ** 24. 1. Dr. Todenhöfer 24.2. Dr. Vohrer ** 24. 1. Frau Dr. Walz * 24. 1. Baron von Wrangel 27. 1.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Bruno Friedrich


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Nein, ich möchte gern fortfahren. Es muß doch noch möglich sein, in diesem Hause neben Texten auch noch eine Bewertung vorzunehmen. — Da Sie lachen, freue ich mich, daß endlich in diesem Hause die CDU bei einer außenpolitischen Debatte auch mal wieder eines Lächelns fähig ist.
    Der Bundesaußenminister hat am Donnerstag vier Grundlagen der Außenpolitik genannt. Er sagte: Wir wollen die europäische Einigung vorantreiben, wir wollen das Atlantische Bündnis erhalten, wir wollen durch Entspannung ein geregeltes Nebeneinander mit dem Osten und der DDR, wir wollen gerechten Interessenausgleich und gleichberechtigte Partnerschaft mit der Dritten Welt. Diese Sätze, als Prinzipien gesetzt, könnten von allen Fraktionen akzeptiert werden. Warum ist es also nun nicht möglich, den schablonenartigen Ablauf mit dem verbissenen Streit um die Ostpolitik mit Themen zu durchbrechen, wie ich sie gerade genannt habe?
    Herr von Weizsäcker, ich bin der Meinung, daß z. B. die Frage der europäischen Einigung für dieses Parlament ein gemeinsamer Auftrag wäre, weil wir, wenn ich an die Erweiterung der Gemeinschaft denke, die einzigen sind, die der politischen Bedeutung der Erweiterung den Vorrang geben. Diese europäische Einigung verlangt gemeinsame Anstrengungen aller Parteien freilich auch dann, wenn es um die Kasse geht. In der Tat ist die europäische Frage ins Zwielicht geraten. Wir werden uns eines Tages vielleicht fragen lassen müssen, ob wir nicht zwar gewaltige Europäer der Zunge gewesen sind, aber Europäer der Tat nur als politische Pygmäen. Diese Möglichkeit besteht nach wie vor. Dabei spielt die Europäische Gemeinschaft heute bereits eine höchst konstruktive Rolle in der Weltpolitik, vor allem im Nord-Süd-Dialog. In diesem Zusammenhang bewerten wir sehr hoch den Auftrag, den der Vorsitzende der SPD, Willy Brandt, erhalten hat.

    (Beifall bei der SPD)

    Die Europäische Gemeinschaft ist heute weit mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Sie sollte auch weitaus mehr sein als Europäische Politische Zusammenarbeit. Es geht — ich weiß, daß hier manche schon zurückschrecken — um die Entwicklung einer gemeinsamen politischen und sozialen Kultur, die zugleich fähig ist, die Vielfalt der nationalen Kulturen zu achten und zu bewahren. Nach wie vor stehen wir auch erst am Anfang einer Erfahrung im gemeinsamen europäischen Handeln. Europa muß einen politisch-geistigen Verfassungskonsens entwickeln — auch dies wäre ein Auftrag an dieses Haus —, aber nicht in erneuter ideologischer Spaltung, sondern in der Verbindung von Freiheit und Gerechtigkeit, in der Aussöhnung der unterschiedlichen Strömungen und nicht im Aufeinanderprallen unter der Parole „Freiheit oder Volksfront".

    (Beifall bei der SPD)

    In gemeinsamen demokratischen Wertvorstellungen und im sozialen Ausgleich zwischen den armen und den reichen Regionen Europas sehen wir unsere historische Aufgabe für diesen Kontinent.
    Ich gehe davon aus, Herr von Weizsäcker, daß Ihre Ausführungen in sehr hartem Gegensatz zu dem stehen, was im April des vergangenen Jahres der CSU-Vorsitzende Strauß in einem Interview in der „Welt" erklärt hat, als er sehr deutlich sagte, man werde lieber auf die europäische Einigung verzichten, wenn Europa sozialistisch wäre. Nun, daß er mit „sozialistisch" auch die sozialdemokratischen Parteien meint, wissen wir aus der Erfahrung der letzten Jahre. Deshalb unsere Frage: Sind Sie auch bereit, sich an der europäischen Einigung zu beteiligen, wenn Sie davon ausgehen müssen, daß die Mehrheitsfraktion im Europäischen Parlament vom Bund der sozialdemokratischen Parteien Europas gestellt wird? Wenn Sie dies bejahten, Herr von Weizsäcker, dann wären wir über Strauß hinaus einen großen Schritt weitergekommen.
    Unsere europäischen Bekenntnisse wird man an unserer Bereitschaft messen, den Staaten zu helfen, die als junge oder erneuerte Demokratien nach Europa hineinkommen. Enttäuschen wir die Hoffnungen Spaniens, Portugals, Griechenlands und, ich füge hinzu, auch der Türkei, dann wird sich Europa seine größte Niederlage seit 1945 selbst zufügen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Europäische Solidarität wird aber auch an unserem Willen gemessen werden, die Notwendigkeit der Vollbeschäftigung als ein europäisches Problem zu begreifen. Wie soll ein demokratisches Europa eine Hoffnung der jungen Generationen sein, wenn dieses Europa den jungen Menschen nicht einmal die Aussicht auf einen Arbeitsplatz bieten kann? Dies ist in manchen Staaten ein viel größeres Problem als bei uns. Es wäre an der Zeit, daß sich die europäischen Staaten — und dies ist eine Aufforderung an den Ministerrat — zusammensetzen, um die Jugendarbeitslosigkeit als das wichtigste nicht nur soziale, sondern auch politische Problem der Europäischen Gemeinschaft 711 behandeln.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)




    Friedrich (Würzburg)

    Wir wünschen die europäische Einigung, aber wir wünschen auch, daß die nationale Frage offenbleibt. Im Hearing zur Deutschlandpolitik hat Professor Dahrendorf dieses Problem angesprochen. Es ist ein drängendes Problem. Wir müssen uns diesem Problem stellen. Wenn Hearings den Sinn haben, politische Positionen, politische Entscheidungen vorzubereiten, dann sollten einmal das Problem der europäischen Einigung und die deutsche Frage in ihrem Zusammenhang im Bericht zur Lage der Nation eine breite Darstellung erfahren.
    Der CSU-Vorsitzende Strauß hat im April 1977 in seinem „Welt"-Interview alles abgelehnt, was den Korb II der KSZE-Schlußakte betrifft — ich darf zitieren —:
    Der Westen darf weder wissenschaftlich-technische Erkenntnisse liefern, die mittelbar oder unmittelbar der sowjetischen Rüstung dienen, noch Fabrikanlagen kreditieren, die der KP-Führung erlauben, mit den Schwierigkeiten im eigenen Land leichter fertigzuwerden.
    Dies ist eine klare Absage des wirtschafts- und finanzpolitischen Sprechers der CDU/CSU-Fraktion an Korb II der Schlußakte.

    (Zuruf des Abg. Jäger [Wangen] [CDU/ CSU])

    Ich möchte wissen, wo manche deutschen Betriebe stünden, wenn sie nicht über die Ostpolitik eine gute Sicherung ihrer Arbeitsplätze hätten.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Zurufe von der CDU/CSU)

    Wir freuen uns über jeden neuen Auftrag, den wir dank der Entspannungspolitik durch gute wirtschaftliche Beziehungen für unser Land gewinnen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Vor allem die Textilindustrie! Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Was die Diskussion über die Entspannung, über die Menschenrechte so schwierig macht, ist, daß sie geführt wird, als ob wir noch in den Jahren 1970 bis 1975 stünden. Dabei hat sich seit Unterzeichnung .der KSZE-Schlußakte in Helsinki die internationale Lage auch in Europa qualitativ verändert. Die Ölkrise hat sich zu einer Strukturkrise der Weltwirtschaft ausgeweitet, und die wenig flexiblen Planwirtschaften der kommunistischen Staaten sind nicht minder hart, häufig härter betroffen als die westlichen Staaten. Die Sozialstrukturen aller Gesellschaften — und hier meine ich Ost und West — sind politisch in Bewegung geraten. Herr Strauß spricht ja so gerne von neuen Parteistrukturen, die er gerne haben möchte.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Das können Sie doch gar nicht miteinander vergleichen in Ost und West!)

    Die Oststaaten sind zum erstenmal mit autonomen
    kritischen Strömungen konfrontiert, vor denen der
    bisherige Kontrollmechanismus der Einparteiendiktatur versagt.

    (Jäger [Wangen] [CDU/CSU] : Das ist doch alles nur Provokation! Das sind keine neuen Strömungen!)

    Die Dissidenten sind hier in der Tat nur Symptome.

    (Weiterer Zuruf des Abg. Jäger [Wangen] [CDU/CSU])

    — Ach Gott, wissen Sie, Herr Abgeordneter Jäger, manchmal hat man das Gefühl, daß dieses Haus die Gruft der toten Seelen der kalten Krieger ist,

    (Dr. h. c. Kiesinger [CDU/CSU] : Sie haben ihn ja gar nicht verstanden!)

    aber weiterhelfen wird uns dies nicht.
    Auf der anderen Seite hat die amerikanische Nation, eine vitale Nation, Vietnam und Watergate überwunden, während sich die kommunistischen Staaten insgesamt erstmals seit der Oktoberrevolution einem ideologischen, ökonomischen und sozialen Veränderungsprozeß größter Dimension stellen müssen. Die Frage ist, wie dies von ihnen bewältigt wird. Ich gebe ganz offen zu, daß sich manche bei diesem Thema langweilen, weil man an diese Frage nicht mit den alten Schlagworten herangehen- kann. Dies gebe ich zu. Trotzdem ist dies für uns eine eminent wichtige Frage: ob dieses Problem im Sinne der KSZE-Schlußakte bewältigt wird oder ob wir mit einem neuen Rüstungswettlauf ohnegleichen rechnen müssen. Das ist eine nach wie vor offene Frage. Dies ist es, was ich die qualitative Veränderung der internationalen Politik nenne.
    Ich halte es aber für falsch, aus all diesen Veränderungen heraus ein Scheitern der Entspannungspolitik abzuleiten. Denn dies sind Veränderungen, die aus den nationalen Situationen und nicht aus den internationalen Beziehungen entstanden sind.
    In diesem Zusammenhang haben Sie, Herr Kollege von Weizsäcker, den Bundeskanzler gefragt, ob er da nicht zu optimistisch sei. Darauf darf ich aus einem Dokument antworten. Es ist ein interessantes Dokument, weil mit ihm am vorletzten Tag des letzten Jahres zum erstenmal in einem kommunistischen Staat — in Warschau — die Pressekonferenz des amerikanischen Präsidenten mit internationalen Journalisten in vollem Wortlaut, also ungekürzt, in einer kommunistischen Zeitung veröffentlicht worden ist. Inzwischen ist es auch auf deutsch veröffentlicht. Ich darf hier zitieren. Frage:
    Herr Präsident, was halten Sie von den Vorschlägen von Bundeskanzler Schmidt, dieses Treffen in dieser oder jener Form auf höchster Ebene zu wiederholen?
    Antwort von Präsident Carter_— wenn ich zitieren darf, Herr Präsident —:
    Ich glaube, daß die Beschlüsse von Helsinki, die zur Zusammenarbeit und Sicherheit in Europa aufrufen, die auch den sogenannten dritten Korb enthalten, auf die maximale Festigung und Aufrechterhaltung der Menschenrechte Nachdruck legen, ein wichtiges Dokument für



    Friedrich (Würzburg)

    die Polen, für unser Land und die anderen Signatarstaaten dieses Vertrages sind.
    Wir sind der Meinung, daß die Belgrader Konferenz fruchtbar war. Es ist eine Frage, über die multilateral verhandelt werden muß. Die Bedingungen dieser Übereinkunft sehen eine offene und ehrliche Kritik seitens anderer Signatarstaaten vor. Wir hoffen, daß die Tagung schnell und erfolgreich beendet wird und es in Zukunft zu mehrfachen geplanten Begegnungen, die an die Belgrader Konferenz anschließen, kommen wird.
    Das heißt: Der amerikanische Präsident hat sich in Warschau dem Vorschlag des Bundeskanzlers voll angeschlossen.
    Wenn wir also aus dieser neuen internationalen Situation heraus fragen, wie es mit der Entspannung weitergeht, dann werden uns Augenblicksberichte nicht weiterhelfen. Gültig ist nach wie vor, daß aus der Machtlage in Europa heraus keine Seite der anderen Seite ihre Positionen aufzwingen kann, genauso, wie es unbestritten sein dürfte, daß der Versuch, von außen das politische System der Oststaaten zu sprengen oder zu stürzen, größere Gefahren auslösen würde als nur das Ende des Entspannungsprozesses. Nur wenn wir diese Gefahr des Umschlagens in einen neuen Kalten Krieg vermeiden, können wir in Europa für Wandlungen eintreten, die dem Anliegen der Menschenrechtsbewegungen entgegenkommen.

    (Beifall bei der SPD)

    Als die osteuropäischen Staaten die KSZESchlußakte unterzeichneten, mußten sie sich darüber klar sein, daß der damit verbundene Annäherungsprozeß ihre eigenen politischen und gesellschaftlichen Strukturen verändern würde. Das Ausmaß und das Tempo dieser innenpolitischen Veränderungen hat sie zweifellos überrascht. Gegenwärtige Unsicherheit und Verkrampfungen sind daher eine natürliche Folge. Diese Situation verlangt von uns den Mut zum Weitermachen, noch mehr aber Augenmaß und Geduld. Ich nehme dafür den Vorwurf der Leisetreterei entgegen, weil dies dem Frieden in Europa dient.

    (Beifall bei der SPD)

    Eine Antwort zu dieser Haltung gibt Immanuel Kant im Anhang seiner Schrift „Zum ewigen Frieden", als er, die Fortentwicklung der Diktatur zum gesetzlichen Staat prüfend, feststellt, es könne von einem Staat — und nun Kant wörtlich —
    nicht verlangt werden, daß er seine, obgleich despotische, Verfassung ablegen solle, solange er Gefahr läuft, von anderen Staaten sofort verschlungen zu werden; mithin muß ... auch die Verzögerung bis zu besserer Zeitgelegenheit verlaubt sein.
    Und Kant spricht von „Gleis ins Gleis bringen". In einer Fußnote zu dem zitierten Satz bekräftigt Kant:
    Dies sind Erlaubnisgesetze der Vernunft, den
    Stand eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts noch so lange beharren zu lassen, bis zur völligen Umwälzung alles entweder von selbst gereift, oder durch friedliche Mittel der Reife nahegebracht worden.
    Es scheint uns wichtig, in dieser — wie ich ganz offen sage — höchst komplizierten Phase des Entspannungsprozesses diese Sätze Kantscher Staatsklugheit zu beachten. Können wir es doch tun aus dem Wissen um unsere ungefährdete Stärke, Festigkeit und Sicherheit im Atlantischen Bündnis, die auch Präsident Carter für die USA bekräftigt hat.
    Aber neben der Sicherheit im Atlantischen Bündnis wollen wir nicht vergessen, daß Präsident Carter neben dem Kampf um Menschenrechte auch den Kampf gegen zuviel Rüstung als seine wichtigste Aufgabe bezeichnet hat.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf des Abg. Dr. Barzel [CDU/CSU])

    Ich möchte zum Schluß, weil der Kollege Zimmermann dies am Donnerstag angesprochen hat, zur Reise der Delegation der SPD-Bundestagsfraktion mit Herbert Wehner nach Prag etwas sagen.

    (Dr. Barzel [CDU/CSU]: Was war das denn für ein Durchbruch? Erzählen Sie mal!)

    Sie war mehr als der signalisierte Wille, den Entspannungsprozeß offenzuhalten. Natürlich haben Sie es leicht, darüber zu spotten.
    Für diesen Besuch gab es viele Gründe. Aber ein Grund gilt für alle Fraktionen dieses Hauses, ich meine die Einhaltung des Vertrags von 1973. Die Herstellung friedlicher Beziehungen und ihre Weiterentwicklung sind nach der Ratifizierung des Vertrags, meine ich, eine Aufgabe aller Fraktionen dieses Hauses.

    (Dr. Barzel [CDU/CSU] : Aber was war denn der Durchbruch, Herr Friedrich? — Zuruf von der CDU/CSU: Das steht im „Spiegel" !)

    — Ich werde gleich einiges dazu sagen, Herr Kollege Barzel. Ich habe schon gesagt, ich möchte dazu etwas ausführlicher Stellung nehmen.

    (Dr. Barzel [CDU/CSU]: Gern!)

    Es wäre gut, wenn auch Sie hinüberfahren würden. Es wäre gut für dieses Land, wenn 15 Millionen Menschen zur Kenntnis nehmen könnten, daß Europa die Tschechoslowakei und ihre Menschen nicht vergessen hat.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich möchte die Gründe für diesen Besuch nennen. Das deutsche Reich hat zwar nach dem Ersten Weltkrieg als erster Staat die tschechoslowakische Republik anerkannt. Aber dies war nach 60 Jahren, Herr Kollege Barzel, der erste Besuch einer deutschen Parlamentsdelegation in Prag. Ich meine, dies ist ein Grund. Ich glaube, darin stimmen wir überein.
    Der zweite Grund: Die CSSR ist zwar kommunistisch regiert. Aber sie zählt 15 Millionen Menschen,



    Friedrich (Würzburg)

    die unsere Grenznachbarn sind, mit denen wir friedlich leben wollen. Von diesem guten Willen, Herr Kollege Barzel, haben wir Zeugnis gegeben. Ich bedaure deshalb, daß der Landesgruppenvorsitzende der Christlich-Sozialen Union dieses Thema mit einer solchen Häme angegangen ist. Denn die bayerisch-böhmische Grenze war durch alle Jahr- hunderte hindurch eine friedliche Grenze, und die Menschen beider Seiten haben einander immer geschätzt.

    (Beifall bei der SPD)

    Drittens. Durch unseren Besuch in Lidice haben wir kundgetan, daß wir nicht vergessen haben, daß das Münchener Abkommen und sein Bruch im Jahr 1939 der erste Anlaß zum Zweiten Weltkrieg waren. Auch dies ist ein Grund, in die CSSR zu fahren.
    Wenn Sie nach den Ergebnissen fragen, die Sie erwarten, dann kann ich Ihnen sagen, daß wir mit denen, die wir als Gesprächspartner zu haben die Ehre hatten — denn dies ist ein Land, mit dem wir feierlich Beziehungen aufgenommen haben und das wir respektieren —, alle Themen sehr offen und ungeschminkt angesprochen haben.

    (Schröder [Lüneburg] [CDU/CSU] : Haben Sie auch die Menschenrechte angesprochen?)

    — Ich habe gesagt: Alle Themen sind offen und ungeschminkt angesprochen worden.

    (Dr. Barzel [CDU/CSU] : Kann doch gar nicht sein!)

    Aber ich weiß nicht, welche Vorstellungen Sie inzwischen von internationaler Politik haben. Ob eine Demokratie oder eine Diktatur: es wird keinen Staat geben, der es in Wahrung seiner eigenen Souveränität hinnehmen würde, daß er öffentlich bei einem eingeladenen Besuch Rechenschaft abgeben soll. Das, was wir zu erreichen versuchen, ist ein Klima, aus dem heraus sich die Beziehungen und auch die Menschenrechte so entwickeln, wie sie sich nach der KSZE in vielen Staaten Osteuropas entwickelt haben. Wir sind der Meinung, daß man die CSSR von dieser Entwicklung nicht ausschließen sollte.
    Wir freuen uns, daß ein Kulturabkommen bald möglich ist. Wir freuen uns, daß sich beide Staaten und das Rote Kreuz beider Staaten über die Zahlen der Ausreisewilligen geeinigt haben. Sie werden feststellen, daß es nicht 80 000, nicht 20 00, auch nicht 5 000 sind und daß man auf beiden Seiten in einer Situation ist, auch dieses humanitäre Problem zu lösen. Wir hoffen, daß auch noch andere humanitäre Probleme aus dem Klima einer neuen, besseren Beziehung heraus, wie wir sie seit dem Vertrag anstreben, lösbar sind.
    Ich möchte hinzufügen, daß wir uns davor hüten sollten, dieses kleine Land, das immer unter seiner europäischen Mittellage gelitten hat, wie oft auch die Deutschen, zur Drehscheibe des ideologischen Weltkonflikts zu machen. In der Tat, dies hält es nicht aus.
    Wenn zum erstenmal ein Staatspräsident dieses Landes die Bundesrepublik besucht, dann sollte er
    empfangen werden wie alle Staatspräsidenten, die wir als unsere Gäste hier begrüßen.

    (Beifall bei der SPD)

    Dies alles trugen wir im Gepäck nach Prag, hatten es auch mit dabei bei der Rückfahrt.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Hat der Außenminister davon gewußt?)

    Die SPD-Fraktion wird dem Haushalt des Bundeskanzlers aus der Gewißheit heraus zustimmen, daß sich die Position der Bundesrepublik Deutschland heute von der Rolle des Deutschen Reiches unterscheidet. Denn zum erstenmal, seitdem Deutschland ein weltpolitischer Faktor ist, befindet sich dieser Staat in Übereinstimmung mit den konstruktiven Trends der Weltpolitik. Wer im Herbst gespürt hat, was an Vorurteilen in unseren Nachbarstaaten und in der Welt noch lebendig ist, der weiß, daß dies für uns eine ungeheuer wichtige Aufgabe ist.
    So wie wir den Ausgleich mit Frankreich gesucht haben, so ist es an der Zeit, daß wir — und ich sage das im Sinne des Wortes — auch die slawischen Völker als gleichberechtigte Nachbarn mit einer gleichen gemeinsamen kulturellen Vergangenheit anerkennen und diese Nachbarschaft aktiv praktizieren. Dies ist ein Auftrag, dessen Erfüllung noch aussteht.
    Ich wünschte mir, daß diese neuen Probleme der internationalen Politik in diesem Hause in einem anderen Klima diskutiert werden könnten, damit wir zu den schwierigen Sachfragen vorzustoßen vermögen, die unser Land insgesamt bedrängen und die uns alle betreffen. So wie diese Debatte bis jetzt gelaufen ist, wird es noch ein Stück dauern. Der Bundesregierung hat es in ihrer außenpolitischen Handlungsfähigkeit nicht geschadet. Der Kanzler hat seine Mehrheit, und er wird sie auch heute haben. Aber ich meine, daß das außenpolitische Gewicht des Parlaments gelitten hat. Wenn wir dies ändern könnten, wäre das ein gutes Ergebnis dieser Debatte.

    (Beifall bei der SPD)



Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat der Abgeordnete Bangemann.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Martin Bangemann


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Haushaltsdebatte — im besonderen die zum Etat des Bundeskanzlers — bietet eine sehr gute Gelegenheit, die Situation des Landes, für das man Politik macht, zu prüfen. Sie bietet aber auch eine gute Gelegenheit, sich selbst zu prüfen. Beides scheint mir nicht einfach zu sein, denn Verzerrungen sind in beiden Fällen vielleicht unvermeidbar.
    Daß wir uns beim Etat des Bundeskanzlers bis jetzt vorwiegend mit außenpolitischen Fragen beschäftigt haben, bietet aber vielleicht eine Möglichkeit, die Verzerrungen auszuschließen, die sich ergeben, wenn man selbst die Politik prüft, an der man beteiligt ist. Und diese Verzerrungen sind vielleicht größer als jene, die auftreten können, wenn die Bundesrepublik von außen betrachtet wird.



    Dr. Bangemann
    Meine Fraktion benutzt deswegen gerne die Gelegenheit, das Echo unserer eigenen Politik nach draußen einmal daraufhin zu überprüfen, welches Bild sich das Ausland von unserer Situation, von unserer Politik macht und welche Schlußfolgerungen daraus für uns selbst angemessen sind.
    Dabei muß man zunächst einmal davor warnen, gelegentliche Kommentare ausländischer Zeitungen als das ganze Bild der Meinungen des Auslandes über uns anzusehen. Es ist verständlich, daß solche Kommentare besonders dann, wenn sie sich uns gegenüber sehr bitter und kritisch äußern, große Aufmerksamkeit finden und daß dabei vergessen wird, wer der Urheber solcher Kommentare ist und mit welchen politischen Absichten sie gegeben werden. Ohne jeden Zweifel wird eine kommunistische Zeitung selbst dann, wenn sie eine französische Zeitung ist, in ihre Kommentierung unserer Verhältnisse ihr politisches Urteil mit einfließen lassen. Das zu vergessen und diese Meinung dann als d i e französische Meinung zu nehmen, wäre falsch und würde uns selbst ein völlig falsches Bild dieses Echos liefern.
    Wenn man das ausschließt, stellt man fest, daß die Bundesrepublik ein Land ist, das von den benachbarten und mit ihr befreundeten Ländern wie auch von jenen, die ihr nicht so nahestehen, mit großer Hochachtung beurteilt wird. Das gilt von allen Bereichen der Politik, die heute angesprochen worden sind und an den folgenden Tagen noch angesprochen werden. Das gilt auch von der inneren Situation der Bundesrepublik, was die Bekämpfung des Terrorismus angeht. Wenn man diejenigen Stimmen ausschließt, die aus parteitaktischen Interessen heraus uns angreifen wollen, uns also subjektiv und verzerrt sehen, klingt bei allen Kommentaren die Hochachtung vor der Art und Weise durch, wie wir bisher mit diesem Phänomen, vor dem durch andere Länder stehen, fertig geworden sind.
    Es ist sicher auch richtig, daß bei der Bekämpfung des Terrorismus in der Vergangenheit durch die Einigkeit der Fraktionen in diesem Hause sehr viel dazu beigetragen worden ist, daß ein richtiges Bild von der Lebenskraft der Demokratie in unserem Lande entstanden ist, und wir sollten versuchen, dies beizubehalten. Das schließt nicht aus, daß man sich diesem Problem unterschiedlich nähert, und ich habe durchaus Verständnis dafür, wenn der Kollege Strauß beispielsweise auf dem Problemfeld Gesetzgebung den Terrorismus in anderer Weise bekämpfen will, als ein Liberaler sich das vorstellt. Wenn ich davor gewarnt habe, daß auch in diesem Zusammenhang Gesetze mit Hast und heißer Nadel gemacht werden, war das die Warnung eines Liberalen vor den unvermeidlichen Fehlern, die entstehen, wenn man bei der Gesetzgebung mit Hast und Eile vorgeht. Wenn Herr Strauß diesen Fehler machen will, habe ich Verständnis dafür, denn ich habe ihn noch nie als Liberalen eingeschätzt.

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

    Daß solche Grundsätze aber auch allgemein zum Gesetz des Handelns gemacht werden sollten, meine ich, sollte ungeteilte Meinung aller Fraktionen sein. Gerade die Oppositionsfraktion warnt immer davor — allerdings in anderen Zusammenhängen —, daß eine Flut von Gesetzen den Willen des Bürgers zur Zusammenarbeit in diesem Staate erstickt.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Richtig!)

    Das ist richtig, wie Sie sagen. Warum soll das falsch sein, wenn es um die Bekämpfung des Terrorismus geht? Warum soll, was auf der einen Seite von Ihnen mit Recht als Gefahr für das Rechtsbewußtsein gebrandmarkt wird, auf der anderen Seite richtig sein? Ich sage Ihnen: Ein Ausweis für die Stärke des Rechtsstaats liegt nicht in der Zahl, in der Menge von Gesetzen und auch gerade nicht in der Hast, mit der solche Gesetze beschlossen werden.

    (Beifall bei der FDP — Kroll-Schlüter [CDU/CSU] : Das habt ihr doch dauernd gemacht!)

    Wir haben versucht, bei dem einzigen Gesetz, bei dem Eile nötig war, weil der Schutz eines Menschenlebens zur Debatte stand, beim Kontaktsperregesetz, trotz der Eile, die wir in diesem Fall anerkannt haben, einen Rechtsgrundsatz durch einen Änderungsantrag zu verankern, der — nicht zuletzt durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs — für uns unzweifelhaft eine Leitlinie unseres Rechtsstaatsbewußtseins war, nämlich die Tatsache einer Verteidigung auch in einem solchen Fall. Sie sind uns nicht gefolgt. Wir beklagen uns nicht darüber; Sie waren anderer Meinung. Aber Sie können uns nicht zum Vorwurf machen, daß wir unseren eigenen Grundsätzen untreu werden, wenn es darum geht, Gesetzgebung auch auf diesem Gebiet vorzubringen und zu einem vernünftigen Ende zu bringen.
    Wenn wir uns über die Frage der Zuverlässigkeit bei der praktischen Bekämpfung des Terrorismus unterhalten, dann wollen wir gar nicht in eine Detaildiskussion eintreten; denn die wäre sehr peinlich für Sie. Ich nenne nur ein paar Namen: Mogadischu und Wiesbaden stehen für Erfolg und Tatkraft bei der Bekämpfung des Terrorismus, Stammheim steht für etwas anderes.

    (Beifall bei der FDP und der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU)

    Auch wenn es darum geht, das Institut der Sicherungsverwahrung auszuweiten, müssen wir uns doch fragen, und zwar alle, ob das Institut der Sicherungsverwahrung, das mit Recht eine Ausnahme im Rechtssystem der Bundesrepublik geblieben ist — die zudem an ganz enge Voraussetzungen geknüpft ist —, nicht in einem direkten Widerspruch zu einem anderen tragenden Grundsatz unseres Rechtssystems steht, nämlich dem, daß Strafen auf das Ziel der Resozialisierung hin angelegt sein müssen. Nun weiß ich sehr wohl, daß das Ziel der Resozialisierung in einigen Fällen — deswegen kennen wir ja auch das Institut der Sicherungsverwahrung — eine Unmöglichkeit darstellen kann. Was wir befürchten, ist aber, daß dieses Institut,
    5198,

    Dr. Bangemann
    das auf diese Fälle der Unmöglichkeit angelegt ist, so erweitert wird, so zur Regel wird, daß der Grundsatz der Resozialisierung in unserem Rechtssystem zur Ausnahme wird und der Grundsatz einer Sicherungsverwahrung zur Regel werden kann. Das wollen wir nicht.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Dafür besteht keine Gefahr!)

    Wir wollen daran festhalten, daß Strafrecht dazu da ist, den Straftäter in die Gesellschaft und zu ihren Grundsätzen zurückzuführen und den Straftäter nicht auf Dauer aus dieser Gesellschaft auszuschließen. Das ist ein liberaler Grundsatz.

    (Beifall bei der FDP und der SPD — Franke [CDU/CSU] : Er will die Buback-Mörder resozialisieren!)

    Das gilt auch von dem wichtigeren Bereich der geistigen Auseinandersetzung mit dem Terrorismus; denn man kann auf dem Gebiet des Polizeirechts und der Gesetzgebung versuchen, noch so wirkungsvolle Riegel vor eine Entwicklung vorzuschieben, die bereits eingetreten ist. Die sicherste Methode, eine solche Entwicklung zu vermeiden, ist eine geistige Auseinandersetzung mit dem Terrorismus. Gerade dann, wenn Sie von dem Gedanken ausgehen, daß solche Täter nicht resozialisiert werden können, werden Sie gezwungen sein, die Quellen zu verstopfen, aus denen sich der Terrorismus ständig speisen kann. Das ist allein möglich mit einer geistigen Auseinandersetzung mit dem Terrorismus.
    Meiner Meinung nach ist die einzige wichtige Frage in diesem Zusammenhang die nach dem Urteil über Gewalt. Wir dürfen dieses Problem nicht zu leicht nehmen; denn das Phänomen der Gewalt in einer modernen Gesellschaft stellt uns vor sehr schwierige Fragen.
    Man kann das Problem der Gewalt und ihrer Bekämpfung nicht einzig und allein auf den Zusammenhang beschränken, den dieses Problem mit dem Terrorismus hat; man muß es auch im Zusammenhang sehen mit den übrigen Auffassungen, die in einer Gesellschaft gelten. Eine Gesellschaft, die Gewalt relativiert, wird die Gewalt beim Terrorismus nicht bekämpfen können.

    (Zuruf von der CDU/CSU)

    Wir müssen deswegen die Gewalt in dieser Gesellschaft bekämpfen. Wir müssen dort, wo diese Gesellschaft Gewalt zuläßt, diese Erscheinungen und Tendenzen von vornherein eindämmen, wenn wir das Ergebnis dieser Tendenzen nicht akzeptieren wollen, nämlich den Terrorismus.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Gilt das auch für Gewalt gegen Sachen?)

    — Das gilt auch für die unzulässigen Differenzierungen zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen. Auch diese Differenzierung ist nicht zulässig, denn Gewalt ist Gewalt.

    (Beifall bei der FDP)

    Das gilt, Herr Kollege, auch für die meiner Meinung nach unzulässige Differenzierung zwischen
    reaktionärer und progressiver Gewalt. Es gibt auch keine progressive Gewalt; Gewalt ist immer reaktionär. Gewalt wird niemals zu friedlichen Verhältnissen führen.
    Deswegen sage ich Ihnen auch ganz klar: Ich werde mich auch in außenpolitischen Zusammenhängen immer dagegen wehren, daß wir revolutionären Bewegungen unter dem Signum einer Freiheitsbewegung eine Lizenz für sogenannte revolutionäre oder progressive Gewalt geben. Dies halte ich nicht für möglich.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Nun müssen wir uns in diesem Zusammenhang sicher fragen: Welche Rolle soll die Bundesrepublik in ihren internationalen Beziehungen spielen? Was soll sie als ihr eigenes Gewicht definieren? Dabei finde ich es sehr gut, daß der Kollege Friedrich, zunächst einmal bezogen auf den Besuch seiner Fraktion in Prag, gesagt hat, man könne die internationalen Beziehungen zu anderen Ländern nicht definieren nach der Übereinstimmung dieser Länder mit den politischen Grundauffassungen, die wir selber haben.
    Wir wissen alle — Herr Friedrich hat mit Recht darauf hingewiesen —, daß es in der Welt eine ganze Reihe von Ländern gibt, mit denen wir Beziehungen unterhalten müssen; obwohl diese Länder andere politische Grundauffassungen haben, als wir selber verteidigen wollen. Daraus nun den Schluß abzuleiten, daß Beziehungen zu diesen Ländern nicht möglich sind, ist das Ende einer internationalen Rolle der Bundesrepublik.
    -Das gilt von all diesen Ländern. Das möchte ich hier unterstreichen. Das gilt nicht nur für die Tschechoslowakei. Ich kenne eine ganze Reihe von Ländern, die man in diesem Zusammenhang nennen muß, zu denen internationale Beziehungen auch dann aufrechterhalten werden müssen, wenn ihre Auffassungen mit unseren moralischen Standpunkten nicht übereinstimmen.
    Herr von Weizsäcker hat von der Moral in der Politik gesprochen. Man kann darüber lange philosophieren, aber eines ist sicher richtig: Wenn sich Politik auf Moral gründet, dann darf sie nicht einäugig sein, dann muß sie diese moralischen Überzeugungen überall und immer da anwenden, wo sie danach gefragt wird, und kann keine willkürlichen Unterscheidungen machen.
    Das gilt im besonderen von unserer Beteiligung bei Konflikten, an denen wir vordergründig nicht beteiligt sind. Es ist wahr: Es scheint so zu sein, als ob wir am Nahostkonflikt nicht beteiligt sind. Daß dies nicht wahr ist, darüber waren wir uns eigentlich alle klar. Bis vor kurzem war es noch eine von allen geteilte Meinung, daß wir in diesem Konflikt gefragt waren, weil mit diesem Konflikt der Weltfrieden in Gefahr geraten konnte und wir dann selbst davon betroffen wären.
    Ich habe Verständnis dafür, daß Herr von Weizsäcker sagt: Nun laßt die Leute doch erst einmal ihre Regelung selbst zustande bringen. — Nur: Den Satz, den Sie in diesem Zusammenhang gesagt ha-



    Dr. Bangemann
    ben, nämlich wir könnten zu einer Friedensregelung nichts beitragen, halte ich für falsch. Ich halte ihn deswegen für falsch, weil das Gewicht der Bundesrepublik in der Europäischen Gemeinschaft —entgegen Ihrer zurückhaltenden Schilderung der Position, die wir dabei erlangt haben — so groß ist, daß wir die Haltung der Europäischen Gemeinschaft beeinflussen müssen. Ich halte auch das Gewicht der Europäischen Gemeinschaft in diesem Konflikt nicht nur für vorhanden, sondern sogar für notwendig. Ich bin davon überzeugt: Wenn die Europäische Gemeinschaft — und damit auch die Bundesrepublik — in diesem Konflikt nicht deutlich macht, daß eine dauerhafte Friedensregelung voraussetzt, daß niemand auf dem Wege zu einer solchen Friedensregelung territoriale Ansprüche durchsetzen will, werden wir die dauerhafte Friedensregelung nicht bekommen. Wir müssen Verständnis dafür haben, daß ein Land in Sicherheit leben will; wir können aber kein Verständnis dafür haben, daß ein Frieden erst dann erreicht wird, wenn territoriale Ansprüche durchgesetzt sind. Dies ist nach meiner Meinung der falsche Beginn einer solchen Regelung und wird ganz sicher nicht zu einem dauerhaften Frieden führen.

    (Dr. von Weizsäcker [CDU/CSU] : Ich habe nur gesagt: Wir können jetzt sehr viel weniger als später beitragen!)

    Herr von Weizsäcker, dasselbe gilt auch für die Frage, die Sie aufgeworfen haben, welches Verhältnis zwischen der Erweiterung und der Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft besteht. Ich gebe zu, daß zunächst einmal der Gedanke, daß man eine solche Gemeinschaft zahlenmäßig vergrößert, dazu führen könnte, daß die Vertiefung erschwert wird. Nur muß das nicht so sein; denn es kommt sehr darauf an, mit welchem Willen diese drei neuen Länder in die Gemeinschaft eintreten. Nebenbei gesagt hat es mich immer stutzig gemacht, daß das Argument, das Sie hier angeführt haben, beispielsweise von Gaullisten am laufenden Band verwendet wird. Sie können nicht durch die Flure des Europäischen Parlaments gehen, ohne daß ein Gaullist Sie in eine Ecke zieht und Ihnen sagt: Passen Sie auf: Wenn wir jetzt um drei Länder größer werden, wird die Integration viel schwieriger. Ich frage dann immer zurück: Was hast du eigentlich bisher zur Integration beigetragen, das dich berechtigt, ein solches Argument vorzubringen? Das ist aber nicht entscheidend. Auch in diesem Zusammenhang ist für mich entscheidend, daß alle drei Länder unter ganz anderen Voraussetzungen als Großbritannien die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft anstreben, daß alle drei Linder von einer verstärkten Integration eigenen Vorteil haben werden und das auch wissen. Das führt dazu, daß sie mit einer sehr viel größeren Bereitschaft an dieser Integration mitwirken werden, als das vielleicht von dem einen oder anderen neuen Mitglied zu sagen ist, das der Gemeinschaft beigetreten ist.
    Das gilt auch hinsichtlich unserer eigenen Fragen nach Berlin, der DDR und der Entspannungspolitik. Ich weiß, daß Europa, die europäische Einigung, keine Garantie für eine Lösung der deutschen Fra-
    ge ist. Wir haben uns kürzlich in Berlin darüber unterhalten, ob das in diesem Zusammenhang möglich ist. Ich weiß aber auch, daß die Lösung der deutschen Frage ohne eine Integration Europas sehr viel schwieriger sein wird, wenn sie sich in unserem Sinne vollziehen soll. Deswegen meine ich, wir sollten diese Integration auch wegen des Beistandes vorantreiben, den wir dabei gewinnen können.
    Die Europäische Kommission hat zu der Auseinandersetzung, ob das Europäische Parlament in Berlin tagen kann, in diesen Tagen unmißverständlich erklärt, daß das Europäische Parlament selbstverständlich das Recht hat, überall dort in der Europäischen Gemeinschaft zu tagen, wo die Europäische Gemeinschaft politische Auswirkungen hat, wo sie politisch existent ist. Das ist sie in Berlin. Das ist eine Unterstützung unseres Standpunktes, den wir, glaube ich, nicht geringschätzen sollten.
    In diesem Zusammenhang wird die Diskussion immer wieder auf die „Spiegel"-Veröffentlichung gebracht. Dazu möchte ich sagen, daß es für die Beurteilung der politischen Wirkung dieser Veröffentlichung gar nicht so sehr entscheidend ist, ob alles in dieser Veröffentlichung authentisch ist. Darüber kann man lange philosophieren, man kann Textanalysen anstellen oder persönliche Erfahrungen beitragen, wie das der Kollege Friedrich gemacht hat. Wir wissen alle, daß Zeitungen von Zeit zu Zeit über Personen und Sachverhalte auch einmal Unrichtiges berichten. Daraus kann man aber nicht den Schluß ziehen, daß alles, was Zeitungen berichten, unrichtig ist. Es gibt auch Richtiges, das in Zeitungen steht.
    Die Frage ist: Wer macht was mit dieser Veröffentlichung? Dazu muß ich Ihnen von meiner Fraktion aus sagen: Wir werden alle diejenigen bekämpfen, die diese Veröffentlichung — unabhängig davon, ob sie wahr oder falsch ist — benutzen, um die Entspannungspolitik zu erschweren oder gar unmöglich zu machen. Das ist der einzige politisch relevante Gesichtspunkt.

    (Beifall bei der FDP)

    Nehmen Sie einmal an, die Veröffentlichung ist von A bis Z falsch. Wer damit die Entspannungspolitik sabotieren will, tut etwas, das wir nicht zulassen werden. Nehmen Sie an, die Veröffentlichung ist von A bis Z wahr. Wer sie benutzen will, um die Entspannungspolitik zu sabotieren, wird uns ebenfalls zum Gegner haben.
    Jetzt prüfen Sie doch einmal Ihre eigene Position. Sie gehen bei der Zurückweisung von Mitgliedern Ihrer Fraktion durch DDR-Behörden davon aus, daß diese DDR-Regierung den Grundsätzen der Entspannungspolitik zuwidergehandelt hat. Wir unterstreichen das und haben gesagt: die DDR muß sich wegen dieser eklatanten Verletzung der Grundsätze entschuldigen.

    (Dr. Kohl [CDU/CSU] : Herr Hoppe hat das gesagt!)

    Die Frage ist ja aber nun nicht, warum sie das getan
    hat, warum sie sich nicht entschuldigt, sondern die



    Dr. Bangemann
    Frage ist, warum sie offenbar gezwungen ist, so zu handeln. Wenn wir das einmal untersuchen, werden wir feststellen — das hat ja eigentlich jeder in dieser Entspannungspolitik von vornherein gewußt —: eine demokratische Gesellschaftsordnung ist flexibler, ist entwicklungsfähiger und ist deswegen menschlicher. Sie kann sich auf die Notwendigkeiten eines solchen komplizierten Entspannungsprozesses einstellen. Eine bürokratische kommunistische Gesellschaftsordnung ist starr, verkrustet, unbeweglich, unmenschlich und wird sehr viel größere Schwierigkeiten haben, sich mit den Notwendigkeiten eines solchen Entspannungsprozesses vertraut zu machen und sich darauf einzustellen. Da wir das alle wissen — das ist ja ihre eigene Einschätzung dieser Gesellschaftsordnung —, bleibt uns doch nichts anderes übrig, als die Entspannungspolitik trotz der Unbeweglichkeit, trotz der Unmenschlichkeit dieser Systeme fortzusetzen. Denn sie ist die einzige Möglichkeit, zu menschlicheren Ergebnissen zu kommen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.

    (Beifall bei der SPD)

    Das ist ein so klarer und einfacher Gedankengang, daß es in der Tat erstaunlich ist, daß wir immer wieder auf diese Frage zurückkommen müssen.
    Die nationale Frage und ihre Verbindung zur Demokratie! Ich weiß, Herr von Weizsäcker, daß Sie — und ich bewundere das — die Neigung und auch die Fähigkeit haben, politische Probleme in einen größeren Zusammenhang zu stellen, wiewohl Ihre Rede sicherlich schon konzipiert war zur Regierungserklärung der vergangenen Woche; aber das macht sie ja nicht schlechter, wenn Sie sie heute hier gehalten haben.
    Die Verbindung des nationalen Gedankens mit dem demokratischen Gedanken war in der Zeit der Entstehung des Nationalstaates ein Weg der Nationen zu sich selbst. Heute würde ich die Verbindung beider Gedanken, der Nation und der Demokratie, als einen Weg der Nationen zu anderen Nationen interpretieren. Für mich ist die nationale Frage heute die Frage: wie kann ich in meiner kulturellen, nationalen Eigenständigkeit den Weg zur kulturellen und nationalen Eigenständigkeit anderer Nationen finden?
    Ich werde Ihnen gleich sagen, was das in der Europapolitik für mich praktisch bedeutet. Wenn es uns nicht gelingt, die Europäische Gemeinschaft demokratischer zu machen, dann werden wir den Weg der Nationen in dieser Gemeinschaft zu anderen Nationen nicht bahnen können. Die Frage der Demokratisierung der Gemeinschaft ist ja nicht nur eine Machtauseinandersetzung zwischen dem Europäischen Parlament und dem Ministerrat. Es ist die Frage, ob es der Demokratie in Europa gelingt, den Weg der Nationen zueinander zu eröffnen oder nicht. Deswegen sind wir für die Direktwahl und für die Aufhebung des demokratischen Defizits in der Europäischen Gemeinschaft. Das ist die Aufgabe der Demokratie und der Nationen heute, nicht
    mehr wie im 19. Jahrhundert eine Frage des Weges zu sich, sondern des Weges zu anderen.

    (Dr. Kohl [CDU/CSU] : Herr Bangemann, was Sie hier definieren, ist weniger unser Problem als das Problem Ihres Koalitionspartners!)

    — Herr Kohl, ich bin der Meinung, an dem Beginn dieser Auseinandersetzung um Europa sollten wir alle einige Regeln akzeptieren, die für jedermann in diesem Hause und bei diesem Wahlkampf gelten.
    Erstens. Wir sollten die Auseinandersetzung um die unterschiedlichen Vorstellungen von Europa gar nicht scheuen. Ich empfinde es als einen Vor- teil, daß wir vom Europa der Sonntagsreden loskommen und daß wir zu einer Auseinandersetzung um die sozialistische Vorstellung von Europa, die christdemokratische und die liberale Vorstellung kommen. Denn damit wird dem Bürger ja auch deutlich, daß es sich lohnt, sich für Europa einzusetzen, wenn die Parteien ihre unterschiedlichen Vorstellungen davon entwickeln.
    Zweitens. Ich glaube, daß wir uns vor jeglichem Monopolanspruch hüten sollten, was Europa angeht.

    (Beifall bei der FDP)

    Niemand in diesem Hause oder im europäischen Wahlkampf sollte sagen: Europa wird nur entstehen, wenn es sozialistisch ist, oder: es wird nicht entstehen, wenn es sozialistisch ist. Niemand sollte sagen: Wenn sich das konservative Europa nicht entwickelt, dann werden die Konservativen Europa ablehnen. Und das gilt für Liberale in gleicher Weise. In diesem Europa muß für Konservative, Sozialisten und Liberale in gleicher Weise Platz sein; sonst wird es nicht entstehen.
    Nun, brauchen wir einen Quantensprung, wie Herr von Weizsäcker gesagt hat, brauchen wir also eine völlige Veränderung der Qualität dieser Europäischen Gemeinschaft? Ich glaube nicht, daß das notwendig ist. Ich bin wie Herr von Weizsäcker der Auffassung, daß es falsch wäre, in einen unbegründeten Optimismus zu verfallen, und sicherlich wäre es völlig falsch, den Pessimismus nachzubeten, den man gewöhnlich antrifft, wenn man heute über Europa spricht. Es ist ja nicht mehr die Regel wie nach 1945, daß man unbegründeten Optimismus antrifft, Leute, die Grenzpfähle verbrennen und auf diese Weise Europa schaffen wollen, sondern in der Regel finden Sie eher Pessimismus, Skeptizismus, Zurückhaltung, wenn Sie sich mit diesen Fragen beschäftigen. Deswegen sollte unser Realismus, den wir hier anwenden, vielleicht doch ein bißchen optimistisch eingefärbt sein, um das zu konterkarieren.
    Daß wir aber keinen Quantensprung brauchen, um zu diesem Integrationsprozeß zu kommen, erkennt man, wenn man die Realitäten prüft. Ich bin der Überzeugung, daß Europa heute schon sehr viel mehr Wirklichkeit geworden ist, als die meisten von uns anzuerkennen bereit sind. Das liegt nicht nur in der Unkenntnis über diesen Prozeß, sondern das liegt natürlich auch daran, daß man sich wei-



    Dr. Bangemann
    gert, diese Realitäten zur Kenntnis zu nehmen, weil man lieber in den alten, überholten Traditionen und Vorstellungen leben möchte.
    Ich will Ihnen ein ganz praktisches Beispiel dafür geben. Auf dem Höhepunkt der Debatte über die Folgen der Direktwahl im französischen Parlament, als Debré und seine Freunde das gesamte französische Parlament dazu gebracht haben, in einer Präambel zu dem Direktwahlgesetz darzulegen, daß sie mit dieser Direktwahl keine Folgen zu akzeptieren bereit sind, die die nationale Souveränität verletzen könnten und die eine Kompetenzerweiterung des Europäischen Parlaments bedeuten würden, hat die Assemblée Nationale das Gesetz ratifiziert, durch das das Europäische Parlament das letzte Wort beim Haushalt erhalten hat.
    Sie sehen daran, wie stark und wie sehr Wirklichkeiten sich unterscheiden können von dem, was politisch als leere Hülle weitergetragen wird. Deswegen dürfen wir uns nicht täuschen. Wir haben zwar nicht das Europa des Alltags, es gibt Grenzkontrollen, wir haben nicht den gemeinsamen Paß — noch nicht —, wir haben alle diese Symbole unterbewertet, die für den Bürger Europa zu einer alltäglich erfahrbaren Realität machen. Das heißt aber nicht, daß dieses Europa nicht bereits Wirklichkeit ist. Diese Wirklichkeit ist vorhanden. Deswegen müssen wir davon ausgehen und dürfen bei unseren politischen Überlegungen nicht zu kleinmütig sein.
    Nebenbei gesagt, ich will jetzt hier nicht die Regierung verteidigen; sie kann das selber tun und wird das sicher auch noch machen; aber, Herr von Weizsäcker, wenn es einen Bereich in der Politik gibt, in dem diese Regierung, unbezweifelt von allen Partnern, die mit uns diese Politik betreiben, als Motor angesehen wird, dann den der europäischen Einigung.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Wer hat denn, als die Verhandlungen über die Direktwahl zum Stocken kamen und man vor lauter Sitzverteilung nicht mehr wußte, ob das große Ziel noch allen vor Augen stand, dafür gesorgt, daß dieses große Ziel wieder in den Mittelpunkt der politischen Entscheidungen gerückt wurde? Das war doch der Außenminister dieser Regierung. Diese Regierung, meine Damen und Herren, hat überhaupt keine Unklarheit darüber gelassen,. daß wir im Integrationsprozeß diejenigen Partner in Europa sein werden, die die Verpflichtung haben, den anderen zu helfen. Das ist für eine Regierung, die ja darauf angelegt ist, ihren Bürgern manchmal auch unangenehme Dinge sagen zu müssen, eine dieser Handlungen gewesen, die Sie selbst, Herr von Weizsäcker, verlangt haben. Wir haben darüber nicht geschwiegen.
    Ich will Ihnen am Schluß meiner Ausführungen sagen, wie sich Liberale dieses Europa vorstellen, wobei ich nicht die Forderung erhebe, daß Sie alle diese Meinung teilen sollten. Aber Sie sollten wissen, mit welchen Vorstellungen wir diesen Wahlkampf beginnen.
    Erstens. Wir wollen ein demokratisches Europa, das heißt, ein stärkeres Parlament in diesem Europa und einen schwächeren Ministerrat. Das heißt auch Bürgerrechte für den Bürger der Gemeinschaft. Er muß Grundrechtsschutz in dieser Gemeinschaft vorfinden und bei Verletzung seiner Grundrechte sich an den Europäischen Gerichtshof wenden können.
    Zweitens. Dieses Europa muß ein friedliches Europa sein. Es darf nicht in den Fehler verfallen, überholte Großmachtvorstellungen zu den Leitlinien seiner Politik zu machen, sondern muß der Partner gerade auch der unterentwickelten Welt werden, und die Ansätze in der Entwicklungspolitik der Europäischen Gemeinschaft sind ermutigend.
    Drittens. Wir brauchen ein europäisches Europa. Dieses Europa soll kein Schmelztiegel nationaler Eigenheiten werden, sondern soll in der Einheit der vielfältigen nationalen und regionalen Kulturen dieses Kontinents seine Stärke finden.
    Viertens und letztens, meine Damen und Herren, wir müssen eine offene Gemeinschaft bleiben. Wenn wir uns als den Closed shop der glücklichen Besitzenden in dieser Gemeinschaft empfinden, dann werden wir den Gedanken der Demokratie, der hier entschieden wird, nicht stärken. Diese drei Länder, die den Weg zurück von der Diktatur zur Demokratie gefunden haben — und das allein ist schon bemerkenswert —, können auf die Unterstützung der Liberalen in Europa vertrauen. Wir werden uns für dieses Europa einsetzen als für die einzige Alternative, die heute einem Demokraten auf diesem Kontinent bleibt. Wer nämlich Demokrat ist und es bleiben will, der hat keine Alternative, der ist Europäer und muß es bleiben.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)