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ID0806704300

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    Plenarprotokoll 8/67 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 67. Sitzung Bonn, Dienstag, den 24. Januar 1978 Inhalt: Abwicklung der Tagesordnung . . . . . 5147 A Amtliche Mitteilung ohne Verlesung . . . 5147 A Begrüßung einer Delegation des Landwirtschaftsausschusses der Brasilianischen Abgeordnetenkammer 5164 B Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1978 (Haushaltsgesetz 1978) — Drucksachen 8/950, 8/1285 — Beschlußempfehlungen und Berichte des Haushaltsausschusses Einzelplan 01 Bundespräsident und Bundespräsidialamt — Drucksache 8/1361 - 5147 B Einzelplan 02 Deutscher Bundestag — Drucksache 8/1362 — Collet SPD 5147 D Einzelplan 03 Bundesrat — Drucksache 8/1363 — 5149 C Einzelplan 04 Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und . des Bundeskanzleramtes — Drucksache 8/1364 — Strauß CDU/CSU 5149 D Brandt SPD 5164 C Hoppe FDP 5173 B Dr. Apel, Bundesminister BMF 5179 D Dr. von Weizsäcker CDU/CSU 5183 C, 5184 A Dr. Marx CDU/CSU (zur GO) 5183 D Porzner SPD (zur GO) 5184 A Friedrich (Würzburg) SPD 5190 D Dr. Bangemann FDP 5196 D Schmidt, Bundeskanzler 5202 D Schröder (Lüneburg) CDU/CSU 5209 C Löffler SPD 5214 A Wohlrabe CDU/CSU 5215 C Esters SPD 5218 D Namentliche Abstimmung 5220 A II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. Januar 1978 Einzelplan 05 Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts — Drucksache 8/1365 — Dr. Marx CDU/CSU . . . . . . . . 5222 A Frau Renger SPD 5229 A Picard CDU/CSU 5233 B Genscher, Bundesminister AA 5236 A Einzelplan 27 Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen — Drucksache 8/1380 — Mattick SPD 5239 B Franke, Bundesminister BMB 5241 D Einzelplan 23 Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit — Drucksache 8/1378 — Picard CDU/CSU 5245 C Esters SPD 5247 C Gärtner FDP 5250 B Frau Schlei, Bundesminister BMZ . . . . 5251 A Dr. Hoffacker CDU/CSU . . . . . . . 5253 B Hofmann (Kronach) SPD 5257 C Dr. Vohrer FDP 5259 A Einzelplan 19 Bundesverfassungsgericht — Drucksache 8/1376 — . . . . . . . 5260 A Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 21. Mai 1974 über die Verbreitung der durch Satelliten übertragenen programmtragenden Signale — Drucksache 8/1390 — 5260 A Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 11. Oktober 1977 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Island über die gegenseitige Unterstützung in Zollangelegenheiten — Drucksache 8/1358 — 5260 A Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Altölgesetzes — Drucksache 8/1423 — 5260 B Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem von der Bundesregierung vorgelegten Agrarbericht 1977 — Drucksachen 8/80, 8/81, 8/1350 — . . . 5260 B Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zum Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD, FDP zur Beratung des Agrarberichts 1977 der Bundesregierung — Drucksachen 8/306, 8/1351 — . . . . 5260 C Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft „ehemalige Gallwitz-Kaserne" in Ulm an die Stadt Ulm — Drucksache 8/1352 — . . . . . . . 5260 C Beratung der Sammelübersicht 17 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen - Drucksache 8/1415 — . . . . . . . 5260 D Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Entwurf einer Richtlinie des Rates über bestimmte Erzeugnisse für die Tierernährung Vorschlag einer dritten Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 70/524/EWG über Zusatzstoffe in der Tierernährung Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 74/63/EWG über die Festlegung von Höchstgehalten an unerwünschten Stoffen und Erzeugnissen in Futtermitteln und zur Änderung der Richtlinie 70/373/EWG über die Einführung gemeinschaftlicher Probenahmeverfahren und Analysemethoden für die Untersuchung von Futtermitteln — Drucksachen 8/833, 8/1353 — 5260 D Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag einer Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2772/75 über Vermarktungsnormen für Eier — Drucksachen 8/814, 8/1420 — 5261 A Nächste Sitzung 5261 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 5263* A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 67. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. Januar 1978 5147 67. Sitzung Bonn, den 24. Januar 1978 Beginn: 9.00 Uhr
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    Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens ** 24. 1. Alber ** 24. 1. Dr. Bardens ** 24. 1. Böhm (Melsungen) ** 24. 1. Frau von Bothmer ** 24. 1. Büchner (Speyer) ** 24. 1. Dr. Dollinger 24. 1. Dr. Enders ** 24. 1. Flämig * 24. 1. Dr. Geßner ** 24. 1. Handlos ** 24. 1. * für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments ** für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Kreile 27. 1. Frau Krone-Appuhn 27. 1. Lagershausen** 24. 1. Lampersbach 24. 1. Lemmrich** 24. 1. Marquardt ** 24. 1. Dr. Müller ** 24. 1. Müller (Wadern) * 24. 1. Offergeld . 27. 1. Pawelczyk ** 24. 1. Reddemann ** 24. 1. Dr. Schäuble *' 24. 1. Scheffler ** 24. 1. Schmidthuber ** 24. 1. Dr. Schwencke (Nienburg) ** 24. 1. Dr. Todenhöfer 24.2. Dr. Vohrer ** 24. 1. Frau Dr. Walz * 24. 1. Baron von Wrangel 27. 1.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Richard von Weizsäcker


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident, meine Damen und Herren! Auf die Ausführungen, die kurz vor der Mittagspause von den letzten beiden Rednern gemacht wurden, wird unsere Fraktion morgen ausführlich zurückkommen. Ich möchte jetzt zum Einzelplan 04, das heißt zur vom Bundeskanzler zu vertretenden Politik im engeren Sinne, zurückkommen. Wir sind darüber informiert worden, daß der Herr Bundeskanzler in Kürze hier sein wird, weil er zur Zeit noch mit dem Staatsbesuch spricht.
    Bei der Diskussion des Kanzlerhaushaltes wird die Opposition der Linie treu bleiben, die sie auch im Herbst des letzten Jahres bewiesen hat. Sie wird, Herr Kollege Brandt, unterscheiden zwischen dem notwendigen Streit auf der einen Seite und der gemeinsamen Verantwortung aller Fraktionen dieses Hauses für unseren Staat. Im Zeitpunkt der schärfsten Herausforderung unseres Gemeinwesens im September und Oktober 1977 standen wir zusammen. Ich meine, wir sollten die Bundestagssitzung vom 20. Oktober nicht so schnell vergessen, wo jeder hier im Hause durch seinen Respekt vor den Vertretern der jeweils anderen Seite bekräftigte, daß die notwendige demokratische Auseinandersetzung zwischen uns ihren Sinn hat, ihn aber nur dann erfüllt, wenn sie im Hinblick auf die gemeinsame Verpflichtung gegenüber unserem freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat erfolgt. Ich komme darauf zurück.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Manche Punkte der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers vom vergangenen Donnerstag verdienen besondere Beachtung. Ich denke zum Beispiel an die deutsche Mitverantwortung für die Entwicklung in der Welt, um das Nord-Süd-Gefälle verringern zu helfen. Mit Recht hat der Bundeskanzler darauf hingewiesen, daß sich audi der Osten von einer Beteiligung an dieser weltweiten Aufgabe nicht freizeichnen könne.
    Erwähnen möchte ich ferner als Beispiel die Aufgabe, unsere Beziehungen mit Polen in Richtung auf Aussöhnung unter den Menschen zu vertiefen. Bei aller Schärfe unserer frühen Auseinandersetzungen über die Verträge sind wir uns in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gerade dieser Aussöhnungsaufgabe stets bewußt gewesen, und zwar unter führender Mitwirkung der besonders betroffenen Kollegen, also derer, die dort ihre Heimat verloren haben.
    Oder um einen ganz anderen Bereich zu nennen, möchte ich die Sorge des Bundeskanzlers aufgreifen, daß sich Hochschule und Bevölkerung im ganzen entfremden könnten. Es ist — da können wir durchaus übereinstimmen — die Aufgabe der Vertreter aller Parteien, der Professoren und Studenten, miteinander zu sprechen und aufeinander zu hören. Von seiten der Parteien freilich geschieht dies praktisch zur Zeit fast ausschließlich durch Vertreter der Unionsparteien.

    (Widerspruch bei der SPD)

    Ich würde mir in diesem Zusammenhang zweierlei wünschen, meine verehrten Kollegen von der SPD. Erstens daß gemäß dem Appell des Bundeskanzlers vor allem mehr führende Mitglieder Ihrer Partei sich dem Gespräch in den Universitäten selbst öffentlich stellen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Zweitens würde ich mir wünschen, daß der Herr Bundeskanzler sich von den jüngsten Äußerungen des SPD-Wissenschaftssenators aus Berlin, unseres ehemaligen Kollegen Glotz, deutlich distanziere. Herr Glotz hat ja in der „Zeit" der letzten Woche die schlechthin groteske Behauptung aufgestellt, beim Besuch führender Politiker der Union an den Hochschulen seien die gewaltsamen Störungen der eigentliche Zweck der ganzen Übung.

    (Dr. h. c. Kiesinger [CDU/CSU] : Hört! Hört!)

    Auf • diesem Wege suche man Märtyrerlegenden. Man fragt sich bei der Lektüre solcher Äußerungen wirklich, was dabei schwerer wiegt, die Informationsarmut oder die Verantwortungslosigkeit. Die Wahrheit ist — das gilt überdies auch für den Verantwortungsbereich des Herrn Glotz -, daß sich die Lage an den Universitäten in Fluß befindet. Neben massiven Verstößen gegen die Rechtsordnung, neben Akten eines brutalen Wandalismus vor allem durch linksradikale Gruppen nimmt zugleich auch die Chance zu, in den Hörsälen politisch zu diskutieren.
    Uns, den Unionsparteien, geht es darum, eine schweigende Mehrheit an den Universitäten für das zu aktivieren, was sie ja doch selber will, aber was sie als bloßer Trittbrettfahrer der Freiheit nicht sichern kann, nämlich Freiheit für Forschung und Lehre und eine tolerante, eine gegenseitig respektvolle Diskussion über strittige Punkte. Wir wollen die Entfremdung überwinden helfen, wir wollen insbesondere die Hochschulen nicht alleinlassen. Das ist eine gemeinsame Aufgabe von uns, und



    Dr. von Weizsäcker
    4 das ist ein für parteipolitische Tiefschläge gänzlich ungeeignetes Terrain.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Nun hat der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung in der letzten Woche ganz am Anfang über den Nahen Osten gesprochen, ich meine, mit Recht. Im Feld der internationalen Politik begleiten wir alle mit bewegtester Anteilnahme die dortigen Bemühungen um Frieden. Unsere Hoffnung ist es, daß der persönliche Mut der benachbarten Staatsmänner, die jahrzehntelange Barriere der Feindschaft zu durchbrechen, begleitet sein möge von der Kraft der Beharrlichkeit, auch die unvermeidlichen Durststrecken und Gegensätze der jetzigen Phase durchzustehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Als Deutsche und als Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft müssen wir uns natürlich dessen bewußt sein, daß wir zwar Wichtiges zur späteren Sicherung einer Friedensregelung werden tun können; aber zu ihrem Zustandekommen können wir nur sehr viel weniger beitragen. Notwendig ist es jetzt vor allem, falsche Töne zu vermeiden und durch sie nicht die Lage zu erschweren.
    Ich will jetzt nicht im einzelnen auf die umstrittenen Punkte der verschiedenen Erklärungen der Europäischen Gemeinschaft zum Nahost-Problem zurückkommen, auch nicht auf die vom Herrn Bundeskanzler erwähnte Erklärung vom Juni 1977. Ebenso möchte ich nur am Rande in Ihre Erinnerung zurückrufen, daß sich die Europäische Gemeinschaft im vergangenen November allzu auffällig schwergetan hat, die Friedensinitiative des Präsidenten Sadat mit einer öffentlichen Erklärung zu begrüßen.
    Aber ein Punkt bedarf, wie mir scheint, der Klärung. Das Großartige und Hoffnungsvolle an der neuen Entwicklung ist doch der direkte Zugang, den die benachbarten Staatsmänner zueinander gefunden haben. Das ist noch nicht der Friede, noch keine Gesamtlösung; aber es ist eine entscheidende psychologische und sachliche Voraussetzung für das Gelingen des Ganzen, und zwar eine Voraussetzung, die keine der Supermächte und keine der großen multilateralen Konferenzen zustande zu bringen vermochte. Es war ja ein Fortschritt, die Nahost-Frage schrittweise aus der Verflechtung in die Belange der Supermächte herauszuführen, sie davon zu entlasten. Oder, deutlicher gesagt: ohne die Sowjetunion war es für Ägypten und Israel eben leichter, zueinander zu finden.
    Um so größer war der Schock, und zwar nicht nur in Jerusalem, sondern vor allem auch in Kairo, als die amerikanische Regierung im Herbst 1977 durch ihr gemeinsames Nahost-Kommuniqué mit der Sowjetunion Moskau wieder ins Spiel zurückbrachte.

    (Strauß [CDU/CSU] : Sehr richtig!)

    Es gibt genügend Anhaltspunkte dafür, daß dieser Schritt der beiden Supermächte seine Motive ganz woanders als im Nahen Osten hatte. Man kann geradezu sagen: die Reaktion auf diesen Schock in
    Kairo und in Jerusalem beflügelte die Schritte, im direkten Kontakt aufeinander zuzugehen.
    Nun erwarten wir hier keine Kommentare unserer Regierung zu diesen Schritten der Großmächte. Was wir aber erwarten, ist, daß unsere Regierung auf die vorhandenen Empfindlichkeiten Rücksicht nimmt. Warum hat der Herr Bundeskanzler — das hätte ich ihn schon gerne selbst gefragt — während seiner Ägypten-Reise, wie berichtet wurde, mehrfach darauf hingewiesen, daß beide Supermächte, also auch die Sowjetunion, an einer Lösung im Nahn Osten 'beteiligt werden müßten? Warum unterstreicht er in seiner Regierungserklärung der letzten Woche die besondere Verantwortung der beiden Vorsitzmächte der Genfer Konferenz, also wiederum auch der Sowjetunion? Natürlich, letzten Endes sollten beide Supermächte einer Gesamtlösung zustimmen können. Aber erst einmal muß sie doch erarbeitet werden, und dazu sind nun einmal die Kairoer Erfahrungen mit Moskau wahrlich nicht die besten. Deshalb halte ich es im jetzigen Stadium nicht für glücklich, solche Äußerungen in Ägypten oder hier im Deutschen Bundestag zu tun.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich freue mich, daß dieser Ton in der Darstellung der Nahostfrage durch den Herrn Bundesaußenminister, der leider gleichfalls nicht da ist, sich nicht wiederholt hat.
    Nun zur Europäischen Gemeinschaft. Hier rückt eine entscheidungsvolle Phase heran. Es ist ein zentraler Punkt, der Anlaß zur Sorge und zur Chance zugleich bietet. Ich meine einerseits die Erweiterung der Gemeinschaft durch neue Mitglieder und andererseits ihre Vertiefung, also den inneren Ausbau. Wir stehen vor der Erweiterung von neun auf zwölf Mitglieder. Wir sind uns — das ist aus den bisherigen Äußerungen zu entnehmen — darin einig: Unter Abwägung des ganzen Für und Wider entspricht es unserer freiheitlich-demokratischen Überzeugung und damit unseren eigenen langfristigen Interessen, die Beitrittsverhandlungen mit Griechenland, mit Portugal und Spanien in einem positiven Geist zu führen.
    Nun hatte aber schon die Erweiterung von sechs auf neun Mitglieder die große Gefahr gezeigt, die darin besteht, daß eine Erweiterung ohne Vertiefung langfristig zur Auflösung zu führen droht. Mit anderen Worten, die zunehmenden Gefahren, die schon der Gemeinschaft der Neun drohen, wenn sie zur Vertiefung unfähig bleibt, zwingen uns jetzt dazu, den -großen Schritt zur Erweiterung mit einem entscheidenden Schritt zur Vertiefung zu verbinden. Die Erweiterung müssen wir als Zwang zu einer Vertiefung verstehen, zu der wir im Kreis der Neun bisher ohne diesen Zwang nicht in der Lage waren.
    Ich meine, wir sollten uns gerade in die Fragen der Europäischen Gemeinschaft von einer pessimistischen Resignation ebenso fernhalten wie von einer Schönfärberei. Jeder weiß, in welcher ausweglosen Lage wir ohne die Europäische Gemeinschaft wären, trotz aller ihrer Mängel. Andererseits hat auch jeder von uns auf allen Seiten des Hauses seine Freunde in Mitgliedsländern der Europäischen



    Dr. von Weizsäcker
    Gemeinschaft, die der europäischen Einigung nicht immer gerade den Weg ebnen.
    Die Schwierigkeiten auf dem Weg zur Vertiefung liegen im übrigen ja nicht nur in politischen Willensmängeln, sondern sind auch einfach objektiv groß; denn was zur Zusammenarbeit im einzelnen geschehen kann, das erfolgt ja recht und schlecht. Die Vertiefung aber erfordert gewissermaßen einen neuen Quantensprung: Wenn z. B. entscheidende Schritte im Währungsbereich erfolgen sollen, dann hat dies eindeutig Folgen wirtschaftlicher, politischer und institutioneller Art. Mit anderen Worten, die Aufgabe ist immens. Niemand verlangt von der Bundesregierung Patentrezepte oder Wunder. Aber eine realistische Lagebeschreibung und vor allem eine Angabe ihres eigenen Kurses in dieser zentralen Frage, das wird von der Bundesregierung erwartet, und beides fehlte in ihrer Regierungserklärung.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Der Präsident der Europäischen Gemeinschaft, Roy Jenkins, hat vor wenigen Wochen hier in Bonn erklärt, in der deutschen Politik gebe es einerseits Abneigung gegen die sogenannte Lokomotivtheorie, also die Theorie, wonach die Bundesrepublik Deutschland andere Staaten aus der Rezession herausziehen könnte. Sie, Herr Bundeskanzler, sind ja in Ihrer Regierungserklärung darauf eingegangen, und, wie ich meine, mit Recht in einem negativen Sinn. Andererseits aber, so fuhr Roy Jenkins fort, gebe es in der Bundesrepublik auch Bedenken gegen eine energische neue Gemeinschaftsinitiative aus Bonn. Einzeln, so sagte Jenkins, habe er für jeden dieser beiden Standpunkte Verständnis, aber eben nicht für beide zugleich.
    Es gibt in der Europäischen Gemeinschaft genug Partner, auch Franzosen, auch Engländer, auch Labour-Politiker, die fragen, welchen Kurs die Bundesregierung in bezug auf die Vertiefungsaufgaben in zeitlichem und sachlichem Zusammenhang mit der Erweiterung einzuschlagen gedenke. Dies ist die zur Zeit entscheidende Lebensfrage der Europäischen Gemeinschaft. In Ihrer Regierungserklärung aber ist sie überhaupt nicht aufgeworfen, geschweige denn behandelt oder beantwortet.
    Mein nächster Punkt befaßt sich mit der Rüstungskontrolle. Der Rüstungskontrolle und -beschränkung kommt in den derzeitigen Ost-West-Beziehungen — darin stimmen wir wohl überein — eine- Schlüsselrolle zu. Um der Verantwortung willen, die wir für den Frieden und die Sicherheit in unserem Teil der Welt tragen, sind Bemühungen langfristig lebenswichtig, die sich um das Gleichgewicht und die Begrenzung der Rüstung kümmern. Unsere Auffassung ist, daß die verschiedenen Ebenen, in denen im Ost-West-Verhältnis über die Rüstungsbeschränkungen verhandelt wird, der Sache nach untrennbar sind. Ich denkë einerseits an die nuklearstrategische Ebene der beiden Supermächte, also SALT, andererseits an die regionale Ebene, die MBFR-Ebene in Wien. Dort geht es, wie wir wissen, um die konventionellen Rüstungen und die atomaren Gefechtsfeldwaffen.
    Wir hoffen, daß es den Amerikanern gelingt, mit der Sowjetunion zu einem befriedigendem SALT-II-
    Abkommen zu gelangen. „Befriedigend" heißt freilich, daß der sachliche Zusammenhang mit der regionale, Ebene gewahrt bleibt. Wenn mit SALT II nur das Gleichgewicht der nuklearstrategischen Waffen der Supermächte stabilisiert wird, dann wird das bestehende Ungleichgewicht bei den atomaren Gefechtsfeldwaffen und den konventionellen Waffen hier in der Region Europa nur um so bedrohlicher und um so fühlbarer.

    (Dr. h. c. Kiesinger [CDU/CSU] : Sehr richtig!)

    Das entscheidende deutsche Interesse liegt in der
    gegenwärtigen Phase, also in der Beseitigung dieses
    Ungleichgewichts.
    Nun haben Sie, Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungserklärung lediglich auf die intensivierten Kontakte mit der führenden Bündnismacht Amerika hingewiesen, die wir natürlich begrüßen. Vom regionalen Ungleichgewicht der Rüstungen in Europa aber haben Sie gar nicht gesprochen, wiederum im Gegensatz zum Bundesaußenminister, der es getan hat.

    (Dr. Wörner [CDU/CSU] : Sehr richtig!)

    Dafür aber hat nur Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Bundeskanzler, also Herr Kollege Wehner, am Donnerstag in der Debatte sehr eingehend die. MBFRGespräche in Wien berührt. Er hat dies eindeutig kritisch gegenüber der Bundesregierung getan. Er -erklärte, der Bundeskanzler hätte an diesem Punkt, wie er sich ausdrückte, eine Antwort bekommen müssen. Herr Wehner gab sie selbst, indem er Ihre Sprache korrigierte und Inhalt und Tempo der MBFR-Gespräche kritisch kommentierte. Dann berief sich Herr Wehner auf den Einklang in dieser Sache mit vielen anderen — er sagte nicht, wen er meinte und wo sie sitzen —, die sein Interesse daran teilten.
    Hier wiederholt sich also in kaum subtilerer Form, was wir aus Ihrer Koalition, Herr Bundeskanzler, schon kennen, daß nämlich die Politik der Rüstungsbeschränkung, wie sie beim Auswärtigen Amt und im Verteidigungsministerium erkennbar wird, immer wieder von führenden Politikern Ihrer Fraktion öffentlich kritisiert wird.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Früher war es Brandt, heute ist es Wehner. Die Unterschiede der Aussagen zwischen dem Bundesaußenminister und dem Fraktionsvorsitzenden der SPD am vergangenen Donnerstag in diesem Hause zu dieser so überaus bedeutungsvollen Frage bedürfen dringend der Klärung durch Sie im Rahmen Ihrer Richtlinienkompetenz bei der Bundesregierung.
    Ein Hauptgewicht in unserer Debatte haben zu Recht Berlin und die innerdeutschen Beziehungen.
    Zunächst zur „Spiegel"-Veröffentlichung, zum sogenannten Manifest. Die Bundesregierung hat dazu bisher geschwiegen. Sie habe, so sagten Sie, nichts mit dem Papier zu tun. Die zuständigen Sprecher Ihrer Partei, Herr Bundeskanzler, boten als Deutung zunächst an: „Neujahrscocktail", „Papierspiel aus der rechten Unionsecke" und zuletzt, so Herr Wehner am vergangenen Donnerstag, „komischer Findling". Herr Wehner fügte hinzu, man müsse es nehmen,

    Dr. von Weizsäcker
    wie es ist, dürfe aber in der Entspannungspolitik nicht darüber stolpern.
    Im Zusammenhang mit allen außenpolitischen Belastungen der jüngsten Zeit sprachen Sie, Herr Wehner, dann vom „nostalgischen Verhältnis der Opposition -zum Kalten Krieg". Und Sie, Herr Bundeskanzler, erklärten mit Nachdruck, Sie wollten sich durch „Scharfmacher von jenseits oder von diesseits der innerdeutschen Grenze"

    (Zurufe von der CDU/CSU: Unerhört!)

    nicht von der Entspannungspolitik abbringen lassen. Dies alles ist ein gänzlich unverantwortlicher Umgang Ihrer Seite mit einem sehr ernsten Vorgang.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Das Manifest ist weder als Beitrag geschrieben noch als Anlaß geeignet für eine Fortsetzung früherer Debatten dieses Hauses über die Vertragsverhandlungen der Jahre 1970 bis 1972. Ich unterstreiche auch in diesem Zusammenhang, was — wie ich finde, ganz zutreffend — der Bundesaußenminister dazu gesagt hat. Und es wäre natürlich nützlich, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, als Regierungschef mit gutem Beispiel vorangehen würden, anstatt gemeinsam mit Herrn Wehner Ost-Berlin oder Moskau Stichworte zur publizistischen Ablenkung zu liefern — siehe die „Prawda" von gestern, die die Worte von Herrn Wehner bereits aufgegriffen hat.

    (Dr. Marx [CDU/CSU] : Kein Wunder!)

    Nicht wir in Bonn sind die Adressaten oder die Hauptpersonen bei dem Vorgang des Manifests, sondern es sind die Zustände in der DDR.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Über Autoren, Motive und Folgen des Manifests gibt es mehr Spekulationen als Kenntnisse. Eines freilich ist sicher: Das Manifest ist das ziemlich genaue Gegenteil eines „komischen Findlings". Es ist nicht komisch, sondern sehr ernst zu nehmen — was Sie, Herr Wehner, ja wohl auch wissen und tun. Und es ist auch nicht ein Zufallsprodukt, welches überraschend in eine fremde Landschaft geraten ist, in die es gar nicht paßt. Sondern es ist ernster Ausdruck einer Situation, deren Symptome wir alle ken-, nen. Sie betreffen den wechselseitigen Vertrauensschwund zwischen Bevölkerung und Machthabern, die Desorientierung und Unruhe der Kader, die Widersprüche von Abgrenzung und Intershop-Sozialismus, das Mißtrauen der Sowjetunion und anderes mehr.
    Es ist nicht unsere Sache, öffentlich darüber zu spekulieren, welche Folgen dies haben mag oder wie fest die Parteiführung der SED und vor allem der Staatsratsvorsitzende im Ost-Berliner Sattel sitzen. Aber eben deshalb ist es auch wahrlich nicht Sache des Leiters unserer Ständigen Vertretung in Ost-Berlin, bei Publizisten und anderswo den Eindruck zu erwecken, die innerdeutschen Verhandlungen seien ganz auf Herrn Honecker zugeschnitten. Denn entweder stimmt dies nicht; dann ist es töricht, auf ihn zu bauen. Oder es stimmt; dann ist es erst recht töricht, daß unser Ständiger Vertreter in Ost-Berlin dies ausspricht. Sonst wären wir es doch selbst, die sich zum Stolpern bringen.
    Besonders bedeutungsvoll und nun wirklich an die Bonner Adresse gerichtet, Herr Bundeskanzler, sind die flagranten Vorkommnisse an der Berliner Sektorengrenze. Sie sagen dazu: Dies sei ein Rückschlag; Sie hätten in Ost-Berlin protestiert; von der Entspannung ließen Sie sich nicht abbringen; es gebe zu ihr keine Alternative.
    Was ist denn geschehen? Leider etwas ganz Einfaches: Der Status von Berlin wurde verletzt, und zwar dann, als z. B. FDP-Landtagsabgeordnete vor Weihnachten und als jetzt der Vorsitzende und Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die sich alle eindeutig rechtmäßig in Berlin aufhielten, an der Sektorengrenze zurückgewiesen wurden. Rechtlich und tatsächlich liegt die Verantwortung für das, was da geschehen ist, bei der Sowjetunion. Die „Prawda" bestätigte in diesen Tagen mit ihren neuen Berlin-Attacken, was seit längerer Zeit an zahlreichen Kennzeichen schon zu beobachten war. Es mag sich jeder über Ursachen und Ziele seinen eigenen Vers machen; aber niemand kann die Anzeichen der zur Zeit negativen Berlin-Einstellung der Sowjetunion übersehen, mit der sie dem vereinbarten Status von Berlin zu nahe tritt. Aus Ihrer langen Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler, erfährt die Öffentlichkeit darüber kein Wort. Sie beschränken sich auf die Schilderung Ihres Protestes bei der DDR. Über die Beziehungen zur zuständigen Sowjetunion aber sagen Sie, das Verhältnis entwickle sich in Richtung auf Normalisierung weiter.
    Ich möchte ausdrücklich feststellen: Es kann wirklich jedermann davon ausgehen, daß niemand hier im Hause ein Interesse daran haben kann, in einer schwierigen Phase der Beziehungen zu einer Eskalation von Fehlgriffen beizutragen. Wir können nichts erzwingen, auch nichts mit Vertragstexten. Uns liegt an normalen Beziehungen mit der Sowjetunion. Wir wollen bestehendes Recht achten. Wir wollen unseren Beitrag zur Sicherung des Friedens leisten. Wir wünschen, daß Entspannung möglich wird und daß sie sich durchsetzt.
    Von Ihnen, Herr Bundeskanzler, verlangen wir keine öffentliche Darlegung aller Ihrer diplomatischen Schritte, die ja wohl alle Signatarstaaten des Berlin-Abkommens einbeziehen müssen. Auch sind wir für Ihr Gesprächsangebot zur Deutschlandpolitik vom vergangenen Donnerstag dankbar. Dennoch müssen Sie von hier aus allen Beteiligten, d. h. auch der Sowjetunion, verständlich machen, was wir, d. h. was unsere Bevölkerung unter Entspannung versteht, nämlich eine Besserung der Beziehungen durch Menschen und für Menschen in ihren Lebensverhältnissen und in ihren Menschenrechten. Deshalb wird die Entspannung durch das Unrecht an den Sektorengrenzen Berlins empfindlich gestört.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Dies hier namens der Bundesregierung zu sagen, ist Ihre Aufgabe, und zwar im Interesse der Entspannung. Sonst stiften Sie doch nur Verwirrung und Mißtrauen. Was sollen die Menschen bei uns denn denken, wenn Sie einerseits feierlich erklären: Was in Berlin geschieht, hat Folgen für die



    Dr. von Weizsäcker
    Beziehungen zwischen Ost und West, Berlin bleibt ein Prüfstein in unserem Verhältnis zum Osten, während Sie dann zu den eindeutigen Verletzungen dieses Status von Berlin durch die Sowjetunion und ihre Helfer in Ost-Berlin sagen: Nicht anstecken lassen von Scharfmachern hüben und drüben; keine Alternative zur Entspannung; das Verhältnis zur Sowjetunion entwickelt sich in Richtung auf Normalisierung weiter.
    Herr Bundeskanzler, das ist nicht politische Klugheit, von der Sie sprechen, sondern das ist zunächst einmal ein Schaden für die Entspannung; denn unter solchen Darlegungen beginnen die Menschen an der Ernsthaftigkeit dieses doch ernsthaften Vorganges zu zweifeln. Die Partner der Entspannungspolitik werden zu Fehlschlüssen verführt.
    Im Zusammenhang mit der Deutschlandpolitik noch eine Bemerkung zur Nation, diesem auch in der aktuellen Deutschlandpolitik immer wieder unterschätzten politischen Begriff. Herr Kollege Wehner, Sie haben am Donnerstag erklärt, es gehe darum, den Zusammenhalt der Deutschen im geteilten Deutschland zu fördern. Damit bestätigen Sie unsere nie veränderte Überzeugung.
    Aber die Bemerkung von Helmut Kohl, daß es unverrückbar darauf ankomme, unser Nationalbewußtsein mit der freiheitlich demokratischen Lebensform auszusöhnen und zu verbinden, bezeichneten Sie als „Schmonzette". Eine Schmonzette ist, wie ich mir von erfahreneren Kollegen habe sagen lassen, nicht etwa ein rheinisches Hustenbonbon, sondern die von Herrn Brandt eingeführte Verniedlichungsform für das Wort Schmonzes, das soviel heißt wie „leeres Gewäsch" oder „Gerede". Ich denke, Herr Wehner, Sie werden Gelegenheit haben, das zu korrigieren. Denn die Nation als politische Idee gehört nun einmal zu den wesentlichen Überzeugungen liberaler und demokratischer Verfassungsbewegungen. Sie ist lebendiger Teil der Wirklichkeit in einer demokratischen Republik. Es wäre schon erstaunlich und schwerwiegend, wenn der Vorsitzende der SPD-Fraktion von einer Auffassung Abschied nehmen wollte, die gerade auch die deutsche Sozialdemokratie immer wieder eindrucksvoll mit vertreten hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Nun eine Bemerkung zur Wehrdienstnovelle. Sie, Herr Bundeskanzler, haben in Ihrer Regierungserklärung in der vergangenen Woche die einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts zur Wehrdienstnovelle bedauert, und zwar deshalb, weil es infolge dieser Anordnung nicht möglich sei, die Auswirkungen der Novelle länger zu beobachten. Ich fürchte, damit setzen Sie in der Bundesregierung nur die Fehler fort, die Ihre Regierung im Jahre 1977 in dieser staatspolitisch so hochbedeutsamen Frage gemacht hat und die Sie persönlich hier mit vertreten haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Was aber die einstweilige Anordnung betrifft, so stellen Sie die Kausalität förmlich auf den Kopf.

    (Dr. Wörner [CDU/CSU] : Und ob!)

    Nicht das Bundesverfassungsgericht hat Sie gehindert, die Auswirkungen Ihrer Novelle zu beobachten, sondern es sind die Auswirkungen Ihrer Novelle, die das Verfassungsgericht dazu gezwungen haben, einzugreifen,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    um der sich ausbreitenden Unruhe und Unsicherheit zu wehren. Das Verfassungsgericht hat ja extra mit seiner Entscheidung gewartet, um sich dieser Auswirkungen erst einmal ernsthaft anzunehmen.
    Wir haben die allgemeine Wehrpflicht, wir haben das verfassungsmäßige Recht der Verweigerung der Wehrpflicht aus Gewissensgründen, und wir haben die Pflicht zur Wehrgerechtigkeit. Sie aber haben ein Gesetz gemacht, welches im praktischen Ergebnis die Wehrpflicht durch ein Wahlrecht ersetzt, welches die Verweigerung aus Gewissensgründen, die unbedingt zu schützen ist, durch eine Verweigerung aus Lust und Laune ersetzt

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    und welches die Pflicht zur Gerechtigkeit bis auf weiteres unmöglich macht. Ich bin davon überzeugt, daß die überwiegende Mehrheit der deutschen Jugend sehr wohl weiß, worum es geht, und bereit ist, ihren Teil dazu beizutragen, daß verantwortlich beschlossene Gesetze von ihr auch in einer verantwortlichen Weise umgesetzt werden. Aber Sie dürfen sie nicht mit einer Umkehrung dessen, was die Grundlage unserer Bundeswehr ist, in solche Schwierigkeiten bringen.
    Fragen Sie doch einmal die Praktiker im Verteidigungsministerium oder bei den Wehrersatzämtern, ob es noch an der Gelegenheit zur Beobachtung der Auswirkungen Ihres Gesetzes gefehlt habe!

    (Zustimmung des Abg. Dr. Wörner [CDU/ CSU])

    Nein, die Auswirkungen liegen offen zutage. Das Verfassungsgericht mußte eingreifen. Es hat dies getan, und zwar einstimmig. Ihre Regierung sollte lieber die Vorbereitungen für eine Neuregelung treffen, als über das Verfassungsgericht zu lamentieren. Das wäre ihre staatspolitische Aufgabe.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Im Mittelpunkt dieser Debatte steht ferner — und mit Recht das Thema Terrorismus. Im Gegensatz zu den Wochenendkommentaren von Ihnen, Herr Wehner, stelle ich dazu zunächst fest, daß die Aussprache zwischen dem Führer der Opposition und Ihnen, Herr Bundeskanzler, am vergangenen Donnerstag notwendig war. Es war das erste Mal, daß die Hauptverantwortlichen des Krisenstabes über diese so tief erregenden Vorgänge des letzten Herbstes öffentlich miteinander gesprochen und Rechenschaft abgelegt haben von den Konflikten, in denen sie standen, und von den sehr unterschiedlichen Folgen, die jeder aus seiner Sicht für die Zeit danach zieht.
    Sie, Herr Bundeskanzler, haben in Ihrer Erwiderung auf Helmut Kohl von den Opfern gesprochen, die unvermeidlich wurden — so drückten Sie sich aus —, damit wir nicht die rechtsstaatliche Ordnung



    Dr. von Weizsäcker
    opfern müssen; dies sei in dem Fall der höhere Wert. Ich glaube, daß wir hier, als Sie die Abwägung zu schildern sich bemühten, um die es damals im September und Oktober ging, nicht gegeneinander stehen in dem, was wir denken; aber wir müssen aufpassen, wie wir es ausdrücken, denn das hat Folgen.
    Es geht ja nicht um den Rechtsstaat an sich. Das ist ein abstrakter Begriff, und der' ist kein höherer Wert als das Leben. Es geht vielmehr um den Staat, dessen erste Aufgabe und wichtigste Fähigkeit es ist, Leben zu schützen. Daß die Erfüllung der erpresserischen Forderung der Terroristen durch den Staat diese Fähigkeit zerstören würde, daß also bei Nachgiebigkeit neue Mordtaten heraufbeschworen würden, das war es doch, was es zu würdigen galt. Nicht Leben gegen Rechtsstaat, sondern gegen weitere Leben standen sich gegenüber. Hier ging es, wie gesagt wurde, um letzte Gewissensentscheidungen der Verantwortlichen, auf die es keine prinzipiell richtige oder falsche Antwort gibt. Aber wir haben die Hauptbeteiligten wissen lassen, daß wir ihre Entscheidung mit Respekt und mit Vertrauen aufnehmen wollen.
    Freilich geschah das auch im Hinblick auf die Verpflichtung, die Folgen gesetzgeberischer und administrativer Art in diese Verantwortung einzubeziehen. Bei diesen Folgen, vor allem bei den anstehenden Gesetzesvorhaben, müssen wir nun, so gut wir können, die Erfahrungen des vergangenen Herbstes umsetzen. Wiederum geht es nicht um abstrakte Begriffe, wieder geht es nicht um prinzipielle Richtigkeiten, sondern um die ganz konkrete Fähigkeit, bedrohtes Leben so gut wie menschenmöglich zu schützen.
    Für einen liberalen Rechtsstaat und gegen seine totalitäre Aushöhlung sind wir alle. Aber mit solchen Begriffen lassen sich eben nur prinzipiell richtige Antworten, aber noch keine hinreichend konkreten Gesetze finden. Zu fragen und zu beantworten ist vielmehr — um es nur an einem Beispiel aufzuzeigen —, ob etwa die Sicherungsverwahrung schon nach der ersten Verurteilung eine Hilfe ist, um das Leben von Mitbürgern konkret ein Stück besser schützen zu können. Selbstverständlich geht es um eine Sicherungsverwahrung in einem verfassungsrechtlich zugelassenen Rahmen. Herr Brandt, Sie müssen sich da noch einmal bei Ihren Kollegen genauer informieren.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf des Abg. Löffler [SPD])

    Die Zusammenarbeit unter den verantwortlichen Politikern im vergangenen Herbst war nichts anderes als eine staatspolitische Pflicht. Die Bevölkerung hat es so angesehen und so verstanden. Nicht verständlich aber wäre es, wenn man über sechs Wochen lang unter so schweren Belastungen beinahe Tag und Nacht zusammen ist, Erfahrungen und Entscheidungen miteinander teilt und danach alles einfach wieder abschüttelt, als sei nichts gewesen. Gewiß, die notwendige demokratische Auseinandersetzung geht weiter. Natürlich kann und muß um den besten Weg auch für die Folgerungen aus gemeinsamen Erfahrungen gerungen werden.
    Was Sie aber aus der Koalition bisher getan haben, ist etwas anderes: Sie haben sich durch einige Ihrer Freunde Schritt für Schritt fällige Konsequenzen sachlich abbauen und zeitlich verschleppen lassen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Das ist es, was die überwiegende Mehrheit unserer Bürger nicht versteht. Die Bundesregierung ist bisher den Beweis dafür schuldig geblieben, daß sie gewillt und daß sie in der Lage ist, die notwendigen Maßnahmen aus den Erfahrungen des vergangenen Jahres mit dem Terrorismus verantwortlich zu ziehen.
    Am wenigsten, Herr Bundeskanzler, ist es Ihnen seit der Neubildung Ihrer Regierung gelungen, die Bevölkerung davon zu überzeugen, daß Sie in der Lage sind, die Probleme der sozialen Sicherung, insbesondere der Rentenversicherung zu lösen. Selbst Ihre Regierungserklärung aus der vergangenen Woche, so vage sie bei diesem Thema blieb, ließ den Ernst der Situation durchschimmern, von dem die Zeitungen ja täglich voll sind. Dieses Thema wird den Kernpunkt, wie ich meine, der ganzen Haushaltsdebatte darstellen und übermorgen im einzelnen erörtert werden. Wie sehr Sie selbst, Herr Bundeskanzler, dieses Problem belastet, haben Sie ja am Sonnabend in München bei der schon erwähnten Preisverleihung an Sie angesprochen. Ich meine, es ehrt Sie, daß Sie das angesprochen haben.
    Wir brauchen hier nicht über den subjektiven Tatbestand des Vorsatzes beim Betrug zu streiten. Es handelt sich ja nicht um einen Straftatbestand, über den wir hier reden, sondern um eine Frage der öffentlichen Moral oder, genauer gesagt: um die Glaubwürdigkeit des Politikers.

    (Dr. Waffenschmidt [CDU/CSU] : Sehr richtig!)

    Das ist das eine, was er aufs äußerste ernst nehmen muß.
    Gewiß, niemand von uns kann immer und in vollem umfang alle seine Ankündigungen wahr machen. Deshalb sind dort, wo es zu Diskrepanzen kommt, öffentliche Eingeständnisse und Begründungen durchaus hilfreich; denn wenn der Politiker mit seinen Handlungen immer wieder schweigend über seine eigenen Versprechungen hinweggeht, nimmt am Ende keiner mehr von ihm ein Stück Brot.
    Allerdings möchte ich empfehlen, Herr Bundeskanzler, die Schuld für den Abstand zwischen Wort und Tat nun nicht allzu sehr auf die wissenschaftlichen Prognosen zu schieben, vor allem dann nicht, wenn man sich bei anderer, günstigerer Gelegenheit ja recht gerne der Wissenschaft und ihrer Vorhersagen politisch bedient.
    Freilich — und darauf kommt es mir jetzt in erster Linie an —: Es gibt auch noch eine andere, eine nicht weniger ersthafte Aufgabe für den Politiker. Wer verantwortlich die Richtlinien der Politik bestimmt, muß dies auf Grund seiner Erkenntnisse von den Tatsachen, auf Grund seines Wissens von der wahren Lage tun. Er darf nicht sagen: Weil ich die wahre Lage vorher anders geschildert habe, muß ich sie



    Dr. von Weizsäcker
    jetzt meinen eigenen früheren Ankündigungen anpassen. Wenn ich damit den Tatsachen zu nahe trete — um so schlimmer für die Tatsachen. Genau das darf er nicht.

    (Dr. Wörner [CDU/CSU]: So ist es!)

    In dieser Lage befanden Sie sich nach der Bundestagswahl und vor Ihrer Wahl zum Kanzler. Das ha- ben Sie offenbar ja auch ganz deutlich gespürt, denn es war ja in dieser Situation, daß Sie in den Verhandlungen der beiden Koalitionsparteien eine andere Rentenpolitik nicht erwogen, sondern beschlossen haben, und zwar eine andere Rentenpolitik als die, die Sie im Wahlkampf angekündigt hatten.
    Sie waren sich des Widerspruchs zum Wahlversprechen voll bewußt. Dennoch fühlten Sie sich auf Grund der wahren Lage zu einer Änderung verpflichtet. Daß Sie, um eine solche Änderung durchzusetzen, eine große Kraft brauchen, das wußten Sie auch. Sie haben es nämlich selber in Ihrer Regierungserklärung im Dezember 1976 so angesprochen. Aber dann sickerten die Nachrichten von diesem Ihrem Koalitionsbeschluß durch in Ihre Fraktion, Herr Bundeskanzler. Dort wurden Sie, unüberhörbar verknüpft mit der Frage nach Ihrer eigenen bevorstehenden Wahl zum Kanzler, aufgefordert, beim Wahlversprechen, also insoweit glaubwürdig zu bleiben.
    Mit anderen Worten: Sie standen vor der Wahl, sich für die von Ihnen selbst erkannte Wahrheit oder für die von Ihnen geforderte sogenannte Glaubwürdigkeit zu entscheiden, und dann haben Sie das letztere gewählt.
    Ich achte die Glaubwürdigkeit wahrlich nicht gering. Aber es gibt Momente, da ist es wichtiger, daß einer abrückt von dem, was er früher gesagt hat, und zwar deshalb, weil die Wahrheit es von ihm erfordert.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

    Die Kraft zu dieser Haltung ist es, an der sich letzten Endes sogar entscheiden wird, ob unser demokratisches Regierungssystem auf die Dauer befähigt bleibt, mit wachsenden Problemen fertig zu werden. Wir können eben nicht immer nur Wünsche einsammeln und ihre Erfüllung versprechen.

    (Zuruf des Abg. Glombig [SPD])

    — Herr Glombig, Sie wissen genau, wovon ich rede. Ich sage vor allem auch an Ihre Adresse: Es wird eine Überlebensfrage der Demokratie sein, ob wir den Mut haben und Manns genug sind, zu einer neuen Erkenntnis der wahren Lage zu stehen, auch wenn wir vorher etwas anderes gesagt haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wir haben darüber, Herr Bundeskanzler, ja schon vor drei Jahren einmal in der Haushaltsdebatte miteinander diskutiert. Ich wiederhole den Gedankengang aus der damaligen Debatte. Wir müssen, wenn wir erkennen, daß wir in die Gefahr geraten sind, über unsere Verhältnisse zu leben, und wenn wir weiter erkennen, daß es ja auch wir Politiker waren, die wesentlich mit dazu beigetragen haben, bereit
    und in der Lage sein, einen unbequemen, einen von Widerständen begleiteten Weg der Gesundung und Einschränkung unsererseits voranzugehen, und zwar ohne Rücksicht darauf, was für Folgen das für unsere eigenen politischen Ämter hat.
    Wenn wir unsere Glaubwürdigkeit mehr nach unseren eigenen Ankündigungen als nach der wahren Lage messen, was ist das dann für ein dürftiger Schutz? Die Glaubwürdigkeit, für die sich der Politiker zu Lasten der Wahrheit entscheidet, wird ihn nicht lange tragen. Sie, Herr Bundeskanzler, haben Ihre jetzige Regierungszeit mit dieser Erfahrung eingeleitet; aber nicht nur das: Sie müssen sie seither laufend wiederholen. Unter dem Druck Ihrer Fraktion haben Sie sich vor einem Jahr zur Abkehr von der von Ihnen für nötig befundenen Kurskorrektur bereit gefunden. Sie haben dann ein kurzfristiges Projekt vorgelegt, mit dem Sie die Probleme überbrücken und verlagern. Sie haben behauptet, es sei eine langfristig tragfähige Sanierung. Gleichzeitig haben Sie sich erneut durch Ankündigungen, nämlich durch die rentenpolitischen Grundsätze Ihrer Regierungserklärung vom Dezember 1976, gebunden.
    Heute zeigt sich, daß es keine Sanierung war. Wieder müssen neue tiefgreifende Beschlüsse gefaßt werden. Wieder sind Sie im Konflikt zwischen dem, was die wahre Lage und die Sachverständigen von Ihnen fordern, und dem, was Ihre eigenen früheren Erklärungen beinhalten, an denen Sie um Ihrer Glaubwürdigkeit willen festhalten wollen. Seit der letzten Bundestagswahl bemühen Sie sich vergeblich, diesen Konflikt zwischen sogenannter Glaubwürdigkeit und der wahren Lage zu lösen. Es gelingt Ihnen nicht. Das ist der entscheidende Knick in Ihrer Regierung, der Sie von Anfang an begleitet, und von dem Sie sich nicht zu befreien wissen. Das ist unter allen einzelnen Gründen der wichtigste Grund dafür, daß wir Ihrem Etat nicht zustimmen können.

    (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Friedrich.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Bruno Friedrich


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es hat seit Donnerstag in diesem Hause zur Außenpolitik, zur Deutschlandpolitik ein recht interessantes Spektrum gegeben, wenn wir vergleichen, was der Oppositionsführer Dr. Kohl, was Dr. Zimmermann ausgeführt hat. Der CSU-Abgeordnete Dr. Strauß hat heute neu aufgewärmt, was er schon öfter hier gesagt hat, indem er eine Interessenidentität von Egon Bahr und Breschnew herstellte,

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    was ich die Deformation des politischen Denkens zum Primitiven nennen möchte.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir haben gerade Herrn von Weizsäcker gehört, und für heute nachmittag ist Herr Dr. Marx angekündigt. Wer dies vergleicht, einschließlich der Rede, die wir noch erwarten, wird feststellen können, welch ungeheure Leistung die Opposition von Donnerstag bis heute hier vollbringen muß.

    • 5191

    Friedrich (Würzburg)

    Heute auf den Tag genau vor fünf Jahren hat hier von diesem Platz aus der CDU-Abgeordnete Dr. Marx am 24. Januar 1973 zum Thema der KSZE gesprochen. Er hat damals, wie das Protokoll ausweist, folgende Behauptungen aufgestellt: Durch die KSZE gerate die Bundesrepublik Deutschland in den Sog sowjetischer Politik; die KSZE bedeute die multilaterale Bestätigung sowjetischer Eroberung, die Störung des europäischen Einigungswerkes, das Hinausdrängen der Amerikaner aus Europa, die Errichtung einer hegemonialen Stellung der Sowjetunion über Europa. Dies alles — so Dr. Marx vor fünf Jahren — werde die KSZE bewirken.
    Am 25. Juni 1975, unmittelbar vor der Unterzeichnung der Schlußakte, erklärte der gleiche CDU-Abgeordnete Dr. Marx zum Korb III, der die humanitären Fragen umfaßt, im Bundestag: „Meine Damen und Herren, es handelt sich um einen wahren Supermarkt von Attrappen." Heute beruft sich die Opposition in ihrer Argumentation gegen die Ostpolitik der Bundesregierung auf den gleichen Korb III der Schlußakte von Helsinki. Der Oppositionsführer hat sich dieserhalb sogar in einer der letzten Sitzungen des letzten Jahres hier zur Geschäftsordnung gemeldet. Ich habe nur, Herr Kollege von Weizsäcker, in Anlehnung an das, was Sie gerade gesagt haben, die Hoffnung, daß nachher der Kollege Dr. Marx die Kraft hat, zu sagen „ich habe mich geirrt", die Kraft, die Sie gerade vom Bundeskanzler gefordert haben. Wenn Sie sich in der Beurteilung der Tatbestände der internationalen Politik getäuscht haben
    — gut, das ist möglich —, bräuchten Sie es nur zu sagen, und es gäbe in diesem Hause endlich den Ansatz einer gemeinsamen Außenpolitik. Wenn Sie aber 1975, und zwar einstimmig, die KSZE-Schlußakte ablehnten, sich jedoch heute darauf berufen, um mit den jeweils gleichen Begründungen die Politik der Bundesregierung zu bekämpfen, dann geht es Ihnen eben nicht um die Sache, um die deutsche Sache, sondern um den Mißbrauch für eine vordergründige parteipolitische Polemik.

    (Beifall bei der SPD)

    In der Tat ist dies das schlimmste Übel aller außenpolitischen Debatten der letzten Jahre. Der Oppositionsführer Dr. Kohl hat sich entgegen seinen Ankündigungen diesem Trend nicht entgegengestellt. So gilt, was die „Neue Zürcher Zeitung" an diesem Wochenende über Dr. Kohl festgestellt hat
    — wenn ich zitieren darf, Herr Präsident —: „Die Opposition hat die in den ersten Monaten unter dem neuen Fraktionsvorsitzenden Kohl noch beachtete Offerte zur bedingten teilweisen Zusammenarbeit praktisch überall aufgegeben." Dies ein Jahr, nachdem Herr Dr. Kohl hier angeboten hat, von Fall zu Fall zusammenzuarbeiten.
    Statt der vor einem Jahr angekündigten Gemeinsamkeit in nationalen Fragen hat Dr. Kohl am letzten Donnerstag so makabre Sätze wie den produziert: wir, diese Regierung, ihre Fraktion, hätten
    — wörtlich — „die Sprengkraft der nationalen Frage" in die Müllgrube der Geschichte verbannen wollen. Ja, Sie verwenden in einem Atemzug die Wörter „Geschichte", „Müllgrube" und „Sprengkraft der nationalen Frage". Daß Sie unsere Bemühungen um friedliche Beziehungen als „hysterisches Lamentieren"; als „Leisetreterei" bezeichnen, was ist dies anders als innenpolitische Polemik? Muß Dr. Kohl unbedingt zu Dr. Strauß aufschließen? Wenn es aber das Ziel des Oppositionsführers ist — wenn dies der Oppositionsführer ernst meint —. die nationale Frage als Sprengkraft zu gebrauchen — und anders ist der Satz nicht zu verstehen, so wie er steht —, wenn diese nationale Frage in der internationalen Politik dieser Bundesrepublik Deutschland zum Kalkül werden soll, Herr von Weizsäcker, dann ist dies lebensgefährlich für den Frieden in Europa und in der Welt. Wissen Sie eigentlich, mit welchem Feuer Sie spielen, wenn Sie die Sprengkraft der nationalen deutschen Frage ganz bewußt ins politische Spiel bringen?

    (Zuruf von der CDU/CSU: Da drüben klatscht ja keiner!)

    Die Welt weiß, dies ist eine ernste Frage. — Daß Sie beim Wort genommen werden bei dem, was Sie hier sehr leichtfertig ausführen, tut Ihnen weh:

    (Kroll-Schlüter [CDU/CSU] : Ihre Kollegen hören Ihnen nicht einmal zu!)

    Herr von Weizsäcker hat gerade in dieser nationalen Frage den Fraktionsvorsitzenden der SPD kritisiert. Ich erinnere mich, daß der Oppositionsführer hier sehr gerne in die pathetischen Worte ausbricht: „Ich bin ein deutscher Patriot!" Sie haben kritisiert, daß dazu etwas gesagt worden ist. Herr von Weizsäcker, nicht daß wir Sozialdemokraten das deutsche Nationalgefühl gering einschätzen, aber es gibt im Bundestag keine patriotisch privilegierten Parteien, sollte sie zumindest seit Hitler in diesem Parlament nicht mehr geben.

    (Beifall bei der SPD)

    Nationalgefühl ist für mich in diesem Hause die stillschweigende Voraussetzung der Gesinnung eines jeden Abgeordneten. Wir Sozialdemokraten haben Deutschland so viel gegeben, daß für uns Patriotismus nicht eine täglich hochgezogene Fahne, sondern die Selbstverständlichkeit unserer Empfindungen und unserer Handlungen ist.

    (Beifall bei der SPD)

    Deshalb müssen wir uns in diesem Hause nicht gegen den Vorwurf verteidigen, wir hätten die deutsche Frage in die Müllgrube der Geschichte abgeschoben. Wenn ein Abgeordneter dieses Deutschen Bundestages seit 1949 leidenschaftlich für die Einheit und für die deutsche Frage, für die Menschen in beiden Ländern gekämpft hat, dann ist es der Abgeordnete Herbert Wehner.

    (Beifall bei der SPD)

    Deshalb muß ich zurückweisen, Herr Abgeordneter von Weizsäcker, was Sie eben ausgeführt haben.