Rede:
ID0800701800

insert_comment

Metadaten
  • insert_drive_fileAus Protokoll: 8007

  • date_rangeDatum: 19. Januar 1977

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 20:47 Uhr

  • fingerprintRedner ID: Nicht erkannt

  • perm_identityRednertyp: Präsident

  • short_textOriginal String: Präsident Carstens: info_outline

  • record_voice_overUnterbrechungen/Zurufe: 0

  • subjectLänge: 8 Wörter
  • sort_by_alphaVokabular
    Vokabeln: 8
    1. Das: 1
    2. Wort: 1
    3. hat: 1
    4. der: 1
    5. Herr: 1
    6. Bundesminister: 1
    7. des: 1
    8. Auswärtigen.: 1
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 8/7 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 7. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 19. Januar 1977 Inhalt: Begrüßung von Mitgliedern der türkischen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates . . . . . . 152 D Nachricht vom Tode des früheren Abg. Freiherr von Kühlmann-Stumm 201 C Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen im Ältestenrat — Drucksache 8/32 — . . . . . . . . 127 A Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Dr. von Weizsäcker CDU/CSU 127 B Dr. Ehmke SPD 133 B Dr. Bangemann FDP 140 C Genscher, Bundesminister AA 145 A Dr. Marx CDU/CSU 149 B Friedrich (Würzburg) SPD . . . . . . 159 D Hoppe FDP 167 D Graf Stauffenberg CDU/CSU 171 C Schmidt, Bundeskanzler . . . . . . 176 A Dr. Kohl CDU/CSU 186 C Leber, Bundesminister BMVg 191 B Dr. Wörner CDU/CSU . . . . 195 D, 197 A Spitzmüller FDP 196 D Möllemann FDP 197 B Dr. Mertes (Gerolstein) CDU/CSU . . . 201 D Pawelczyk SPD 206 D Jung FDP 212 B Lorenz CDU/CSU 214 D Mattick SPD 218 C Dr. Czaja CDU/CSU 221 B Dr. Kreutzmann SPD . . . . . . . 225 C Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen — Drucksache 8/35 — . . . . . . . . 166 C Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP Einsetzung von Ausschüssen — Drucksache 8/36 — 166 C Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland im Europäischen Parlament — Drucksache 8/47 — 166 D II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Januar 1977 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats — Drucksache 8/48 — 167 A Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP Mitglieder des Gremiums gemäß § 9 Abs. 1 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses — Drucksache 8/49 — 167 A Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 141 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 23. Juni 1975 über die Verbände ländlicher Arbeitskräfte und ihre Rolle in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung — Drucksache 8/10 — 167 B Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. Mai 1974 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Zypern zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen — Drucksache 8/11 — 167 C Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 30. August 1961 zur Verminderung der Staatenlosigkeit und zu dem Übereinkommen vom 13. September 1973 zur Verringerung der Fälle von Staatenlosigkeit — Drucksache 8/12 — 167 C Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes zu dem Übereinkommen vom 30. August 1961 zur Verminderung der Staatenlosigkeit und zu dem Übereinkommen vom 13. September 1973 zur Verringerung der Fälle von Staatenlosigkeit (Gesetz zur Verminderung der Staatenlosigkeit) — Drucksache 8/13 — 167 C Nächste Sitzung 227 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 229* A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Januar 1977 127 7. Sitzung Bonn, den 19. Januar 1977 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Januar 1977 229* Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Adams * 20.1. Dr. Aigner * 21. 1. Arendt 21. 1. von Hassel* 19. 1. Dr. Jahn (Braunschweig) 21. 1. Lücker * 21. 1. Lange * 19. 1. Müller (Mülheim) * 21. t. Richter *** 21. 1. Schulte (Unna) 19. 1. Dr. Schwencke ** 21. 1. Dr. Schwörer * 21. 1. Dr. Staudt 21. 1. * für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates *** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Martin Bangemann


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Fraktion begrüßt es, daß sich das Haus in der Fortsetzung der Debatte zur Regierungserklärung bis jetzt im wesentlichen mit europäischen Problemen befaßt hat. Denn wir sind der Meinung, daß das der Bedeutung dieser Politik entspricht. Wir sind auch nicht traurig darüber, daß die Opposition durch ihren Sprecher selber diesen Beginn der Fortsetzung gewählt hat. Denn sie hat ausgerechnet einen Teilbereich der Politik ausgewählt, in dem ernsthaft nichts an der Regierungserklärung auszusetzen ist.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Selbst wenn man sehr selbstkritisch der eigenen Arbeit gegenübersteht — und natürlich steht der Opposition mehr noch zu als bloße Selbstkritik, weil sie ja die Politik der Regierung zu kritisieren hat —, kann man doch nun eine Tatsache wirklich nicht übersehen, und das ist die Tatsache, daß es in ganz Europa nicht eine einzige Regierung gibt, die in den vergangenen vier Jahren sich so intensiv, so eindrucksvoll und ohne jeden Zweifel für den Bau Europas und der Europäischen Union eingesetzt hat wie unsere Bundesregierung.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Daß das nicht jeden Tag wieder von dieser Bundesregierung durch Worte wiederholt wird, daß nicht jede Selbstverständlichkeit wie z. B. ein Bekenntnis zur Europäischen Union in jeder Erklärung dieser Regierung auftauchen muß, meine Damen und Herren, das ist solange überhaupt nicht schädlich, solange diese Regierung mit Taten täglich unter Beweis stellt, daß sie europäisch gesinnt ist.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Dafür gibt es wirklich Beispiele im Überfluß. Deswegen ist es nicht notwendig, daß die Gemeinschaft aus der Regierungserklärung erfährt, ob wir die Europäische Union wollen oder nicht. Sie erfährt es jeden Tag aus dem, was diese Regierung tut.

    (Dr. Lenz [Bergstraße] [CDU/CSU] : Aber nützlich wäre es gewesen!)

    Ich bin auch der Meinung, meine Damen und Herren von der Opposition, daß Herr von Weizsäcker in der Betonung der Tatsache, daß man Politik nicht machen kann, ohne moralische Grundsätze zu verwirklichen oder verwirklichen zu wollen, etwas Richtiges gesagt hat. Nur: der Gegensatz zwischen dem, was immer dazu erklärt wird von der Union, und dem, was Sie uns an praktischen Beispielen in Ihrer eigenen Politik bieten, ist erstaunlich. Ich denke nur daran, welch eindrucksvolles Beispiel die Union in ihrer Auseinandersetzung um die gemeinsame Fraktion für die Identität von moralischen Grundsätzen und politischem Handeln und für christliche Bruderliebe gegeben hat.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Ärgerlich allerdings, Herr von Weizsäcker, wird das, wenn Sie in Ihrem eigenen politischen Han-



    Dr. Bangemann
    dein in einem Wahlkampf so diametral den Grundsätzen zuwidergehandelt haben, die Sie in aller
    christlichen Unschuld hier dann wieder darstellen.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Sie sagen — und das ist richtig —: Freiheit gehört nicht einer Partei allein. Das stimmt. Aber wie haben Sie sich denn, gemessen an diesem Grundsatz, in Ihrem zurückliegenden Wahlkampf verhalten?

    (Beifall bei der FDP und der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Das haben wir immer gesagt!)

    Haben Sie sich so verhalten? Haben Sie diesen Pluralismus in der Tat bewiesen? Dort im Wahlkampf vergessen Sie dann diese Identität von moralischen Grundsätzen und politischem Handeln,

    (Zustimmung bei der FDP)

    und das ist, nach moralischen Grundsätzen geurteilt, schlicht Heuchelei und nichts anderes.

    (Beifall bei der FDP und der SPD — Dr. Lenz [Bergstraße] [CDU/CSU] : Was haben wir denn anderes gesagt, als was Herr Genscher in Stuttgart gesagt hat? Das war doch genau dasselbe!)

    Meine Damen und Herren, wenn man Europapolitik in den nächsten Jahren voranbringen will und wenn man zu Resultaten kommen will, dann gilt es, eine Reihe von Grundsätzen zu beachten, die in diesem Zusammenhang nicht immer beachtet werden. Ich bin zunächst einmal der Meinung, daß es schädlich ist, falsche Gegensätze aufzubauen. Ich habe in zurückliegenden Debatten zur Europapolitik davor gewarnt, z. B. einen Gegensatz zwischen der Westpolitik, der Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten, und einer Europapolitik zu sehen, und habe für meine Fraktion unsere Meinung zum Ausdruck gebracht, daß solche falschen Prioritäten den Fortgang einer vernünftigen Europapolitik sehr behindern können, weil man nämlich nicht nur — aus zeitlichen Überlegungen heraus — nicht einen Monat lang Europapolitik und in einem anderen Monat partnerschaftliche Politik mit Amerika betreiben kann, sondern weil auch ein Sachzusammenhang zwischen diesen einzelnen Bereichen der Politik besteht.
    Und ein ebensolcher Sachzusammenhang besteht zwischen der Entspannungspolitik und der Europapolitik — nicht nur ein zeitlicher Zusammenhang. Wir werden — wenn wir überhaupt eines bekommen — ein ganz anderes Europa in dem Augenblick bekommen, in dem wir die Entspannungspolitik aufgeben. Nur mit der Entspannungspolitik werden wir zu einem Europa kommen, das seine Kräfte auf die Entwicklung einer demokratischen Struktur, auf die Entwicklung von mehr Wohlstand für die Menschen in Europa verwenden kann und sich nicht in einem unsinnigen Rüstungskampf mit anderen Teilen der Welt verzettelt.

    (Zustimmung bei der FDP — Dr. Lenz [Bergstraße] [CDU/CSU] : Wovon reden sie eigentlich? Von Ost-Berlin, von Prag, von Moskau?)

    Ich warne deswegen davor, weil Herr von Weizsäcker den Eindruck zu machen schien, daß er einen Gegensatz zwischen einer Priorität Entspannungspolitik und einer Priorität Europapolitik sieht.
    Er hat bemängelt, daß die Bundesregierung in ihrer Erklärung eine Priorität Entspannungspolitik gesetzt hat, und meinte, daraus, was die Europafreundlichkeit der Bundesregierung angeht, einen Vorwurf ableiten zu können. Das genau ist der falsche Gegensatz, vor dem ich jetzt warne.

    (Dr. von Weizsäcker [CDU/CSU]: Ich stelle nur fest, daß Herr Brandt und Herr Genscher die Prioritäten unterschiedlich gesetzt haben! — Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Ja, Unterschiede zwischen Genscher und Brandt!)

    Zweitens bin ich der Meinung, daß wir — und zwar die Politiker in erster Linie — zunächst einmal den Pessimismus bekämpfen müssen, der weitgehend die europapolitische Szenerie zu beherrschen scheint. Zwar verstehe ich natürlich, daß viele Menschen auf Grund der Vorstellungen, die sie selber von einem Europa haben und die eine gewisse Ungeduld vermitteln, den Fortschritt als zu langsam empfinden. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir in vielen Bereichen bereits erhebliche Gemeinsamkeiten erreicht haben. Dafür gibt es eine ganze Reihe auch jüngster, auch aktueller Beispiele. Auch die angebliche Niederlage, was den Standort von JET angeht, ist doch, meine Damen und Herren, im Grunde genommen ein Beweis dafür, daß Europa zusammengewachsen ist. Denn wir werden eine "solche Entscheidung treffen, und wir können sie treffen, und daß sie noch nicht getroffen worden ist, ist ein Ergebnis der Tatsache, daß hier eben ganz normale nationale Interessen eine Rolle spielen, nicht aber eine Unfähigkeit der Europäer, zu einer solchen Entscheidung zu gelangen.
    Ein zweiter, meiner Meinung nach zu Recht auch von Herrn von Weizsäcker angeführter Grundsatz ist der, daß es nicht ein Europa einer politischen Richtung geben kann. Wir müssen vielmehr ein pluralistisches Europa aufbauen, und das gilt für Sozialisten wie für Konservative wie für Liberale, das gilt für jedermann in diesem Europa. Wer glaubt, daß allein seine politische Meinung den zukünftigen Kurs Europas bestimmen kann und bestimmen muß, der verhindert in Wahrheit Europa.

    (Dr. Marx [CDU/CSU] : Sie sprechen zur SPD hinüber!)

    — Ich spreche jetzt auch — das sage ich hier ganz deutlich — von einem Sozialisten, nämlich von dem französischen Sozialistenführer François Mitterrand, der in der Tat gesagt hat, für ihn sei Europa dann Europa, wenn es ein sozialistisches Europa sei.

    (Zuruf des Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU])

    Meine Damen und Herren, das gilt aber für Konservative oder Liberale in gleicher Weise, es gilt für jedermann. Dieses Europa muß ein pluralistisches Europa sein, wenn es lebendig und wünschenswert sein soll.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)




    Dr. Bangemann
    Sie müssen auch einem Sozialisten das Recht zubilligen, etwas zu sagen, was seiner Meinung entspricht, auch wenn es der Meinung von anderen nicht entspricht. Darüber kann man sich ja auseinandersetzen.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Das tun wir ja!)

    Ich bin auch der Meinung, daß das pluralistische Europa mehr noch, als es für die Nationalstaaten gilt, den Grundsatz zu respektieren hat, daß ein demokratischer Staat dann existiert, wenn Minderheiten in ihm leben können;

    (Dr. Marx [CDU/CSU] : Natürlich! Das ist ein wesentliches Element der Demokratie!)

    denn das zukünftige Europa wird kein Europa von Mehrheiten sein. Die Parteien, die Völker, die politischen Auffassungen, die jetzt in einem nationalstaatlichen Rahmen noch Mehrheiten sind, werden in Europa alle zu Minderheiten. Deswegen wird die zukünftige Europäische Union sehr viel stärker den Gedanken des Minderheitenschutzes in jeder Form zu verwirklichen haben, weil sie erst dann in Wahrheit eine Europäische Union sein wird.

    (Zustimmung des Abg. Dr. Marx [CDU/CSU])

    Das muß man auch einmal unseren britischen Freunden bei ihrer Auseinandersetzung um ein zukünftiges Wahlrecht sagen. Wer im Hinblick auf dieses zukünftige Europa schon im Wahlrecht verhindert, daß solche Minderheiten angemessen beteiligt werden, führt einen Angriff gegen dieses zukünftige Europa.

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

    In der Tat haben wir uns — auch das zählt für mich zu den Grundsätzen — in diesem Zusammenhang mit dem Eurokommunismus auseinanderzusetzen.

    (Dr. Marx [CDU/CSU] : Das Wort ist nicht sehr gut!)

    Ich sage hier für meine Fraktion, daß die Grundsätze, die für uns in der Entspannungspolitik gelten — ein friedliches Nebeneinander zwischen Staaten unterschiedlicher gesellschaftlicher Ordnung, der Versuch, menschliche Erleichterungen auf allen Gebieten zu schaffen, in denen der Mensch täglich leben muß —, für uns in gleicher Weise auch in der Auseinandersetzung mit anderen politischen Auffassungen gelten. Wir wollen keine gewaltsame Auseinandersetzung, auch nicht mit Kommunisten. Wir lehnen auch eine blinde Auseinandersetzung ab, die in dem anderen nur noch den Feind sieht und sich mit seinen Argumenten nicht auseinandersetzt.
    Wir lehnen aber, meine Damen und Herren, genauso jede ideologische Partnerschaft oder Nähe mit jedwedem Kommunismus ab, gleich, ob er nun „Eurokommunismus" genannt wird oder einen anderen Namen trägt.

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD — Dr. Marx [CDU/CSU] : Sehr gut!)

    Hier muß ich für meine Fraktion ganz klar sagen: Es gibt für uns keinen Unterschied zwischen den
    Kommunisten in Westeuropa und den Kommunisten in Osteuropa. Einen einzigen Unterschied will ich gelten lassen: Die Kommunisten in Osteuropa sind an der Macht, und die Kommunisten in Westeuropa sind nicht an der Macht.

    (Dr. Marx [CDU/CSU] : Sie wollen an die Macht!)

    Das erklärt vieles von dem, was die Kommunisten in Westeuropa nach außen zu sein vorgeben.

    (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU — Dr. Ritz [CDU/CSU] : Völlig einig!)

    Es gibt, meine Damen und Herren, im Grunde auch keinen Unterschied zwischen Kommunisten und Faschisten, jedenfalls gibt es für einen Demokraten keinen Unterschied zwischen Kommunisten und Faschisten;

    (Dr. Ritz [CDU/CSU] : Auch richtig!)

    denn ein Demokrat wird in beiden Fällen damit rechnen müssen, daß er sich einem Regime ausgesetzt sieht, das Menschenrechte nicht achtet, das Minderheiten nicht schützt, das freie Wahlen nicht zuläßt.

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Deswegen gibt es für Liberale in dieser Auseinandersetzung überhaupt keinen Zweifel daran, daß wir dafür sorgen müssen, und zwar alle gemeinsam, daß dieses zukünftige Europa denselben Grundsätzen und denselben demokratischen Freiheiten gerecht wird, denen wir in unseren Nationalstaaten selbst gerecht zu werden uns bemühen. Das wird ein Teil der Auseinandersetzung um Europa sein.

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Lassen Sie mich noch einiges zu den Zielen und Inhalten dieser Politik sagen; denn wichtig ist natürlich auch, daß man bei dem, was man für diejenigen, die Europa in den Direktwahlen zu wählen haben, anzubieten hat, die Überzeugung vermitteln kann, daß es sich lohnt, für dieses Europa einzustehen, daß es sich lohnt, auch als Wähler sich darum zu bemühen, daß dieses Europa entsteht.
    Erstens. Für uns, für die Liberalen, steht dabei im Vordergrund, daß die Europäische Union die Bürgerrechte in der gleichen Weise, wenn nicht besser, schützen muß, wie das bisher die nationalen Mitgliedsländer in ihren Verfassungen tun. Deswegen ist es ganz wichtig, daß das Europäische Parlament und die politischen Öffentlichkeit den ersten Schritt zu einer europäischen Verfassung in den nächsten Jahren darin sehen, diese Bürger- und Verfassungsrechte in der Weise zu garantieren, wie wir das gewohnt sind, d. h.: mit individuellem Rechtsschutz. Wir begrüßen es ganz ausdrücklich, daß inzwischen alle Mitgliedsländer der Europäischen Konvention der Menschenrechte beigetreten sind. Aber das, meine Damen und Herren, ist noch nicht ausreichend. Unser Verfassungsgericht hat in einem in der Europäischen Gemeinschaft viel kritisierten Urteil klar dargelegt, daß wir nicht akzeptieren können, daß eine zukünftige europäische Verfassung einen



    Dr. Bangemann
    minderen Schutz für Grundrechte gewährt, als unsere eigene Verfassung dies heute tut.
    Zweitens. Eines der ganz wichtigen Gebiete, auf denen Europa für die Menschen in der Gemeinschaft glaubhaft werden kann, ist die Wirtschaftspolitik. Viele der Probleme, mit denen wir uns heute in diesem Bereich auseinandersetzen, sind ein Ausdruck der Unfähigkeit der Nationalstaaten, mit dieser Problematik fertig zu werden. Ich behaupte nicht, daß das Problem der Unterbeschäftigung, daß die Probleme der Energie- und Rohstoffversorgung, daß die Probleme, die bei der Verteidigung der Grundsätze der freien Marktwirtschaft entstehen, in dem Augenblick verschwinden, in dem wir zur Europäischen Union gekommen sind. Aber auf dem Weg dahin müssen wir unseren Bürgern sagen, daß Europa hinsichtlich des Problems der Unterbeschäftigung, hinsichtlich der Probleme der Energie- und Rohstoffversorgung, auch hinsichtlich der Verteidigung der Grundsätze der freien Marktwirtschaft eine größere Unterstützung sein wird, als jeder Mitgliedstaat sie heute seinen Bürgern anbieten kann. Das muß bezüglich der Direktwahl, die vor uns steht, in das Bewußtsein der Wähler eindringen. Dann werden sie auch erkennen, daß dieses Europa unmittelbare Vorteile für sie hat.
    Drittens. Wir müssen mit den Problemen der Agrarpolitik in Europa fertig werden. Das ist ein Problem der europäischen Politiker, aber nicht nur derjenigen, die Agrarpolitik machen.

    (Dr. Ritz [CDU/CSU] : Sehr gut!)

    Denn auch hier gilt oft das, was in der Politik generell gilt: Es werden Lasten und Probleme auf Leute abgeladen, die dafür gar nicht können. Und die werden dann nachher noch dafür beschimpft, daß. diese Lasten auf sie abgeladen worden sind.

    (Beifall bei der FDP — Dr. Ritz [CDU/CSU] : Genau das!)

    — Das ist, meine Damen und Herren, ein allgemeiner Grundsatz, der selbst, Herr Kohl, auf die Auseinandersetzungen angewendet werden kann, in denen Sie vor kurzer Zeit standen. Auch auf Sie sind einige Lasten abgewälzt worden, für die Sie wirklich nichts konnten.

    (Heiterkeit und Beifall bei der FDP — Dr. Kohl [CDU/CSU] : Herr Bangemann, die allerletzten Lasten hatten ja Sie am Dreikönigstag zu tragen!)

    — Das sind die normalen Lasten eines Vorsitzenden einer liberalen Partei.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU)

    Es gehört zum Liberalismus, daß der Vorsitzende, der auch in einer liberalen Partei ein bißchen Macht ausübt, immer am schärfsten kritisiert wird. Das ist ein Ausweis für Liberalität

    (Dr. Kohl [CDU/CSU] : Da haben wir doch Gemeinsamkeiten!)

    in meiner Partei.

    (Beifall bei der FDP — Zurufe von der CDU/CSU)

    — Das gilt selbstverständlich auch von unserem Bundesvorsitzenden.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU)

    Im Verhältnis zu ihm befinde ich mich in der angenehmen Situation, daß ich auf der Seite derjenigen stehen kann, die Kritik üben. Ich bedaure nur, daß er uns so wenig Gelegenheit gibt, Kritik an ihm zu üben.

    (Beifall bei der FDP — Heiterkeit bei der CDU/CSU)

    In der Agrarpolitik sollten wir von den Belastungen der Währungspolitik wegkommen. Diese Agrarpolitik muß auch den Grundsatz verwirklichen, daß es einen Ausgleich zwischen Verbrauchern und Produzenten geben muß. Wir müssen von der Überschußproduktion wegkommen, die auch nicht damit gerechtfertigt werden kann, daß man sagt: Überall in der Welt herrscht Mangel, und nun laßt doch wenigstens uns — die Industriestaaten — dafür sorgen, daß wir mit unserer eigenen Produktion diesen Mangel beheben. Das wäre ein völlig falsches Konzept. Dieser Mangel kann dort, wo er entstanden ist, nur dadurch beseitigt werden, daß wir den Menschen, die dort leben, und den Ländern, die mit diesen Problemen zu kämpfen haben, die Möglichkeit geben, diesen Mangel durch ihre eigene Nahrungsmittelproduktion zu beseitigen.

    (Dr. Ritz [CDU/CSU] : Wobei wir in der langen Phase beides tun müssen!)

    — Sicherlich gibt es Übergangslösungen. Ich meine nur, daß wir nicht zweierlei gleichzeitig machen können. Wir können nicht auf der einen Seite eine Gemeinschaft von Industrieländern sein, deren Lebensstandard und Existenz ganz wesentlich auf dem Export von Industriegütern beruhen, und auf der anderen Seite auch noch ein 120 %iger Selbstversorger in agrarischen Produkten sein. Das ist eine Gleichung, die nicht aufgehen wird. Deswegen müssen wir in Europa weiter an diesem Problem arbeiten.
    Wir müssen auch dafür sorgen, daß die regionalen und strukturellen Unterschiede in Europa weniger scharf werden.

    (Dr. Ritz [CDU/CSU] : Sehr gut!)

    Dies ist eines der Hauptprobleme des Zusammenwachsens der Europäischen Union. Wir müssen unseren Wählern und den Bürgern in der Bundesrepublik klar und deutlich sagen, daß dieses Zusammenwachsen nicht möglich sein wird, ohne daß wir dafür selber Opfer bringen, ohne daß wir selber unsere Leistungen dafür bringen. Dies muß in unserem Lande verstanden werden, denn dieses Verständnis ist auch ein Zeichen für eine beginnende und wachsende Solidarität in Europa.
    Meine Damen und Herren, Solidarität in Europa im Blick auf die zukünftige Europäische Union bedeutet eben auch Solidarität der finanziell Starken mit denjenigen, die sich unverschuldet in einer Situation befinden, die weniger günstig als die unsrige ist. Solidarität bedeutet Solidarität mit Schottland und Solidarität mit Sizilien, bedeutet allerdings nicht Solidarität mit wirtschaftspolitischem Unsinn.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)




    Dr. Bangemann
    Deswegen dürfen wir uns auch nicht scheuen, offen zu kritisieren. Wenn man offene Kritik aussprechen darf, wenn offene Kritik als ein Ausweis von Solidarität auch akzeptiert wird, so ist dies seinerseits ein Zeichen dafür, daß wir uns im Prozeß eines Zusammenwachsens befinden. Kritik kann dann ausgesprochen werden und wird dann akzeptiert, wenn man sich der Basis der gemeinsamen Solidarität sicher weiß. Sie wird nur dann als Einmischung von außen empfunden, wenn man nationalstaatliche Grenzen noch nicht überschritten hat.
    Viertens. Ich glaube, daß eine wichtige Rolle der Europäischen Gemeinschaft heute schon darin besteht, daß wir in einem Gemeinschaftsrahmen mit dem Problem der Dritten Welt leichter fertig werden als im Rahmen der nationalstaatlichen Zuständigkeiten. Das beweist sich jeden Tag in der Entwicklungspolitik. Das, was die Gemeinschaft mit dem Abkommen von Lomé zur Bewältigung des Nord-Süd-Konflikts geleistet hat, hätte von keinem nationalen Mitgliedsland geleistet werden können. Das, was man bei den Entwicklungsländern an Bereitschaft vorfindet, sich in sachlichen Fragen gegenüber der Gemeinschaft zu öffnen, findet man nicht im Verhältnis der Entwicklungsländer zu den klassischen Nationalstaaten, was natürlich auch eine Reihe von geschichtlichen Gründen hat.
    Das Beispiel, das mit dem Abkommen von Lomé gegeben worden ist, was die Prinzipien der NordSüd-Politik angeht, ist ebenfalls wegweisend. Wir sind auf die Schwierigkeiten der Entwicklungsländer eingegangen, ohne die eigenen Prinzipien wirtschaftlichen Handelns, die wir für richtig halten, aufzugeben, ohne also in eine zentralistische Planwirtschaft zu geraten, die, wenn sie global ausgeübt würde, dieselben Fehler hätte wie jede zentrale Planwirtschaft, die aber viel katastrophalere Auswirkungen hätte, weil sie in der ganzen Welt Geltung hätte. Dies den Entwicklungsländern klarzumachen, ohne in den Fehler zu verfallen, uns als diejenigen zu empfinden, die dem Kapitän eines im Sturm befindlichen Schiffes vom sicheren Port aus gutgemeinte Ratschläge geben, ist die eigentliche Aufgabe der Entwicklungspolitik der Gemeinschaft. Ich glaube, daß die Gemeinschaft hier sehr viel, mehr als jedes einzelne Land wird leisten können.
    Bevor ich zu dem Weg und zu der Frage der Instrumente, die angewandt werden sollten, einiges sage, möchte ich noch auf einen letzten Punkt zu sprechen kommen. Ich glaube, daß die Gemeinschaft sehr viel politischer werden muß, daß sie sich von der Zurückhaltung freimachen muß, es handle sich bei ihr um ein Gebilde, das in erster Linie für bestimmte Sachbereiche — für Wirtschaftspolitik, für Agrarpolitik oder für anderes — zuständig ist. Meine Damen und Herren, diese Gemeinschaft wird von außen ja sehr viel stärker als politisch handelnde Einheit angesehen, als wir selber bereit sind, es zuzugestehen und danach zu handeln. Deswegen glaube ich auch, daß die Mittelmeerpolitik der Gemeinschaft sehr viel stärker die politischen Komponenten aufnehmen muß, die im Mittelmeerraum vorgefunden werden, und zwar auch dann, wenn jene politischen Elemente kontrovers zu der Haltung der Gemeinschaft sind. Im Dialog mit arabischen Ländern kann man z. B. nicht nur über Wirtschaft, über joint enterprises oder irgend so etwas sprechen, sondern in diesen Dialog muß der Nahost-Konflikt einbezogen werden. Wir müssen unsere politische Kraft als Gemeinschaft politisch einsetzen, um zur Lösung dieser Konflikte beizutragen. Diese Aufgabe erfordert zunächst, die Scheu loszuwerden, die Europäische Gemeinschaft und ihre Kraft so einzusetzen, wie sie heute von anderen gesehen wird.
    Lassen Sie mich in einer letzten Bemerkung etwas zu der Frage sagen, wie man angesichts der vor uns stehenden Direktwahl zu dieser Europäischen Union kommen kann, wie die Instrumente aussehen und welche Wege man beschreiten muß. Es wäre völlig falsch, wenn wir uns in eine Auseinandersetzung über Modelle einlassen würden, die wir vorfinden und die weitgehend theoretischen Charakter haben. Ich halte zum Beispiel nichts von einer Diskussion darüber, ob die Europäische Union ein Bundesstaat oder ein Staatenbund sein soll und welche Elemente dieser Strukturen man akzeptieren kann. Denn diese Diskussion führt uns in eine große theoretische Auseinandersetzung, die dann politisch aufgebauscht wird und bei der jedermann fixierte Positionen bezieht.

    (Dr. Marx [CDU/CSU] : Aber zwischen Bundesstaat und Staatenbund ist ein fundamentaler Unterschied!)

    — Wir sind uns ja über den Charakter dieser Europäischen Union einig. Es geht jetzt nur um den Weg dahin. Daß die Europäische Union, Herr Marx, eine politische Einheit sein soll, die in ihrer politischen Kompetenz und in ihrer institutionellen Struktur nicht nur eine Addition von nationalstaatlichen Kompetenzen sein darf, darüber sind wir uns ja einig. Es geht nur um die Instrumente dazu.
    Diese Diskussion halte ich also nicht für richtig. Ich bin der Meinung, man sollte die bestehenden Institutionen weiterentwickeln und von dem vorhandenen institutionellen Instrumentarium ausgehen, allerdings mit klaren Prioritäten, zum Beispiel mit der klaren Priorität der Stärkung der parlamentarischen Rechte in der Europäischen Union.

    (Dr. Marx [CDU/CSU] : Jawohl; sehr gut!)

    Denn es kann ja nicht ein Ziel eines Demokraten in Europa sein, ein Gebilde zu schaffen, das von Bürokratie und Regierungsbürokratie beherrscht wird und in dem der Bürger nichts zu sagen hat. Das ist für mich und für meine Fraktion ein Grund, warum wir so sehr begrüßen, daß wir im Vorfeld des ersten europäischen Wahlkampfes stehen. Wir Liberalen sind auch ein bißchen stolz darauf, daß wir es als erste geschafft haben — wir freuen uns, daß die Christdemokraten und auch die Sozialisten auf diesem Weg ebenfalls vorangekommen sind —, eine europäische Föderation zu bilden, die in der klaren Absicht daran arbeitet, diesen Wahlkampf mit einem gemeinsamen Programm zu bestreiten. Es wird nicht so sein, daß wir ein FDP-Programm in der Bundesrepublik vertreten und die dänischen Liberalen ein dänisches Programm in Dänemark und die italienischen Liberalen ein italienisches Programm in Italien usw., sondern wir werden mit



    Dr. Bangemann
    einem gemeinsamen liberalen Programm von Schottland bis Sizilien einen gemeinsamen Wahlkampf bestreiten.

    (Beifall bei der FDP)

    Entsprechendes wünsche ich allen Parteien in Europa, weil in dieser Gemeinsamkeit und auch in der Auseinandersetzung, in die wir dann geraten, zum Ausdruck kommt, daß dieses Europa eine Wirklichkeit ist, die wir heute schon vorfinden und die wir nur noch entdecken müssen.
    Geben wir doch endlich den Pessimismus auf, der so viele Menschen beherrscht, wenn sie von Europa sprechen! Werden wir Realisten und erkennen wir die Wirklichkeit, die Europa heute schon bedeutet! Damit garantieren wir am besten seine Zukunft.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Hans-Dietrich Genscher


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege von Weizsäcker hat heute morgen an die Verantwortung der Parteien als Träger der politischen Meinungsbildung und als Vertreter des Volkes in den Parlamenten erinnert und auch auf die Probleme des Vertrauens hingewiesen. Ich denke, dieser Hinweis war notwendig. Allerdings befinden wir uns in einer Situation, in der keine Partei Anlaß hat, mit dem Finger auf die anderen zu zeigen. Die Herstellung und Sicherung der Glaubwürdigkeit unserer parlamentarischen Demokratie muß unser gemeinsames Anliegen sein. Zu dieser Herstellung der Glaubwürdigkeit gehört der Respekt vor der Pluralität der Meinungen. Deshalb meine ich, daß zur Selbsterkenntnis der Opposition auch ein Überdenken ihres Wahlspruchs aus der letzten Legislaturperiode und im Wahlkampf gehört.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Ich denke deshalb, daß sich dieser Spruch auch nicht für die vor uns liegenden europäischen Wahlen eignen würde; denn dieses Europa soll ja auch ein Europa der Pluralität sein.
    Aber mir scheint besonders wichtig ein Satz zu sein, den Herr Kollege von Weizsäcker gebraucht hat. Er sagte, unsere Debatte solle für eine ganze Legislaturperiode richtungsweisend sein, sie müsse bei der Bevölkerung Vertrauen bilden für die Art, wie wir als ihre gewählten Vertreter mit unserer Verantwortung umgehen. Ich denke, an diesem hohen Anspruch müssen wir uns alle messen lassen, der Redner, der ihn ausgesprochen hat, selbst. Hier muß ich fragen, Herr Kollege von Weizsäcker, ob Sie wirklich den Satz in Ihrer Rede stehenlassen wollen, in dem sie gesagt haben — gerichtet an den Bundeskanzler und die Bundesregierung —: Um so dringlicher sei es, daß sie hier und heute dem Verdacht entgegentrete, sie wollte der Europäischen Union in Wahrheit lieber aus dem Wege gehen, als sich ihren damit verbundenen Mühen zu unterziehen.
    Die Position der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien zur Europäischen Gemeinschaft und zur Europäischen Union sind unbestreitbar klar und eindeutig.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Ich darf für die Regierung noch einmal feststellen, damit kein Zweifel bleibt: Die Europäische Gemeinschaft bleibt für uns lebenswichtige Voraussetzung für die Sicherung von Frieden und Freiheit. Wir halten am Ziel der Europäischen Union fest. Das sage ich nicht nur heute, sondern das steht in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers, von der behauptet wird, sie habe sich zur Europäischen Union positiv nicht geäußert.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Natürlich hat der Bundeskanzler — das ist ganz unbestreitbar — in der Regierungserklärung auf den Tindemans-Bericht keinen Bezug geonmmen. Aber ist es nicht in Wahrheit so, daß diese Bundesregierung — wenn ich richtig informiert bin — die einzige in der ganzen Europäischen Gemeinschaft ist, die den Tindemans-Bericht und ihre — und ich unterstreiche — positive Stellungnahme zum Gegenstand einer Vorlage an Bundestag und Bundesrat gemacht hat?

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Die Bundesregierung gab den Anstoß, daß der Deutsche Bundestag und der Bundesrat unsere Stellungnahme und Haltung zum Tindemans-Bericht diskutiert haben. Dabei sind wir zu dem Ergebnis gekommen, daß diese positive Haltung zu den Vorschlägen von Leo Tindemans unser gemeinsames Wollen im Deutschen Bundestag ist. Wenn das so ist und wenn wir Europa als eine Priorität unserer Politik ansehen, gehört es zunächst einmal dazu, daß das Stück Gemeinsamkeit, das in dieser Überzeugung vorhanden ist, in einer Debatte nicht gleichzeitig von einer Seite in Frage gestellt wird.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Ich meine, daß gerade wir für die Europäische Union eine ganz besondere Verantwortung haben. Die Kollegen Bangemann und von Weizsäcker haben mit Recht auf die Bedeutung der europäischen Wahlen hingewiesen. Ich empfehle jedoch allen Kollegen, einmal den Prozeß der Meinungsbildung in den einzelnen europäischen Ländern im Zusammenhang mit den europäischen Wahlen zu beobachten. Es ist ganz unbestreitbar, daß der Weg dahin neben einigen anderen Ländern bei uns am leichtesten ist. Wir spüren, wie andere Regierungen, die sich zusammen mit uns verpflichtet haben, die Wahlen 1978 durchzuführen, ganz erhebliche innenpolitische Schwierigkeiten zu überwinden haben. Das zeigt, daß diese Fragen in den einzelnen Ländern unterschiedlich betrachtet, beurteilt und behandelt werden. Das mag im übrigen deutlich machen, warum auch andere Fortschritte, die im Tindemans-Bericht erwähnt sind, nicht schon jene Konkretisierung erfahren haben, die wir uns alle gewünscht hätten.
    Wenn wir draußen in den Versammlungen sind und gefragt werden: bekommt dieses Europäische Parlament 1978, wenn es gewählt wird, dann auch neue Kompetenzen, was hat die Bundesregierung vorgeschlagen, um die Kompetenzen des dann direkt



    Bundesminister Genscher
    gewählten Parlaments auszuweiten, dann können wir immer nur sagen: nach unserem Wunsch, nach unserem Wollen hätte dieses Parlament vom ersten Tage seiner Amtszeit an starke, eindeutige Kompetenzen. Aber wir wissen doch, daß schon die Beschlußfassung über die europäische Wahl in manchen Ländern erhebliche Probleme aufwirft. Daher denke ich: tun wir zuerst den ersten Schritt, führen wir die Wahl durch und haben wir das Vertrauen in dieses Europäische Parlament, daß es sich dann auch die Kompetenzen nehmen wird, die einem solchen Parlament zukommen! Aber überlasten wir das Parlament und diese Parlamentswahl heute nicht mit zusätzlichen Forderungen, die am Ende ein Scheitern der Beschlußfassung über die europäische Wahl in anderen Staaten bewirken können!

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als vor 20 Jahren — wir nähern uns diesem Jahrestag — die Römischen Verträge geschaffen wurden, hat man in der Präambel festgelegt:
    Entschlossen, durch diesen Zusammenschluß ihrer Wirtschaftskräfte Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen, und mit der Aufforderung an die anderen Völker Europas, die sich zu dem gleichen hohen Ziel bekennen, sich diesen Bestrebungen anzuschließen . . .
    Diese Perspektive des Friedens und der Freiheit ist unsere europäische Perspektive, Herr Kollege von Weizsäcker.

    (V o r sitz : Vizepräsident Stücklen)

    Sie haben eine Reihe von Fragen gestellt, auf die ich eingehen will, weil sie mir berechtigt erscheinen. Aber wenn auch für Sie Europa Priorität hat, finden Sie dann nicht, daß Fragen stellen ausreichen mag für Opposition, daß aber Antworten geben für Alternativen erforderlich ist?
    Meine Damen und Herren, wir haben im Augenblick das Problem unterschiedlicher wirtschaftlicher Situationen in den europäischen Staaten. Es konnte nicht wundernehmen, daß dieses Thema auch Gegenstand der Unterhaltungen war, die in den letzten Tagen von der Bundesregierung und Vertretern des Parlaments mit dem italienischen Ministerpräsidenten geführt worden sind. Wenn diese Debatte wirklich etwas ergeben soll, wenn sie uns künftig vor Fehlern bewahren soll, dann lohnt es sich, 20 Jahre nach Beginn unserer Arbeit auf Grund der Römischen Verträge einmal der Frage nachzugehen, ob es eigentlich richtig war, mit der Harmonisierung der Wirtschaftspolitik, der Konjunkturpolitik, der Finanzpolitik, der Währungspolitik erst in den siebziger Jahren zu beginnen, ob es nicht leichter gewesen wäre in einer Zeit, in der die wirtschaftliche Entwicklung der damals sechs Partnerstaaten wesentlich paralleler verlaufen ist als heute.

    (Beifall bei der FDP)

    Das sage ich jetzt gar nicht allein an die Adresse der Christlich-Demokratischen Union, die damals die Bundeskanzler gestellt hat; wir haben ja während eines wesentlichen Teils dieser Zeit mit Ihnen zusammen Regierungsverantwortung getragen. Ich frage vielmehr uns alle, ob wir nicht das Gebot der Römischen Verträge, zu einer Harmonisierung in diesen Bereichen zu kommen, am Anfang in seiner Bedeutung unterschätzt haben, ob der Glaube an die Kraft der Kommission nicht zu stark war, ob nicht ein zu starkes technokratisches Verständnis in der Europäischen Gemeinschaft vorgeherrscht hat.
    Wenn man die europäische Haltung der Bundesregierung und des Bundeskanzlers einer kritischen Betrachtung unterzieht, dann mögen Sie sich in vielen Punkten mit dem Bundeskanzler kritisch auseinandersetzen: Fest steht, daß er es gewesen ist, der innerhalb der Europäischen Gemeinschaft und innerhalb der westlichen Welt die Initiative für eine Abstimmung in der Wirtschaftspolitik ergriffen hat.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Ich behaupte, daß die weltwirtschaftliche Lage heute wesentlich schlechter wäre, wenn wir damit nicht begonnen hätten. Wenn wir heute dabei sind, unseren Partnern zu helfen, so aus europäischer Solidarität und keinesfalls als Zahlmeister. Hier bin ich ganz der Meinung derjenigen, die sich gegen Zeitungsartikel auch der letzten Tage aussprechen, wo so sehr davon die Rede ist, daß wir jetzt wieder so viel nach Europa zahlen müssen. Wir zahlen das am Ende natürlich wieder in die eigene Tasche, weil uns nur ein funktionsfähiger Markt auch die eigene Entwicklung sichert.
    Meine Damen und Herren, in dem Streit um die Priorität der Europapolitik gibt es doch gar keine Meinungsverschiedenheiten. Europa ist das Haus, in dem wir uns einrichten, um in Frieden und Freiheit leben zu können, und die NATO ist das Bündnis, das uns die Sicherheit dieses Hauses gewährleisten soll. Wir brauchen die Entspannungspolitik, um in Frieden leben zu können. In diesem komfortablen Haus Europa wird sich niemand, wie ich denke, wohlfühlen können, wenn er weiß, daß in anderen Teilen der Welt Not und Hunger herrschen. Deshalb unser Engagement für die Politik gegenüber der Dritten Welt! Das zusammengenommen sind die Grundentscheidungen unserer Außenpolitik, die voneinander abhängig sind. Die Schaffung dieser Gemeinschaft hat aber den Vorrang, und darum ringen wir.
    Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist nicht allein damit getan, daß wir zu einer Abstimmung in der Wirtschafts-, Währungs- und Finanzpolitik kommen, sondern ich halte es für eine ganz wesentliche Bewährungsprobe der europäischen Politik, ob es uns gelingt, das Gebot der europäischen Verträge zu verwirklichen, nämlich die Gleichheit der Lebensverhältnisse in diesem Europa herzustellen. Nur wenn uns das gelingt, werden wir schwere soziale Spannungen in diesem unserem Europa überwinden können.
    Das ist dann zugleich auch ein Beitrag zur Kommunismus- und Eurokommunismusdebatte. Es kann doch gar keinen Zweifel geben, daß wir den Kommunismus jedweder Form ablehnen. Diese Feststellung allein reicht aber nicht aus, wenn wir nicht auch die Frage stellen, wie wir ihm den Boden ent-



    Bundesminister Genscher
    ziehen können, wo er durch Wählerunterstützung maßgeblichen Einfluß errungen hat. Hier muß es unser gemeinsames Ziel sein, das zu erreichen, indem wir gesunde Lebensbedingungen in allen Teilen dieses unseres Europas schaffen werden.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, im übrigen ist ganz unverkennbar, daß viele Probleme, die wir heute haben, die uns auf Grund der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft im Zusammenhang mit der Gastarbeiterfrage belasten, auch ein Ergebnis der Tatsache sind, daß wir in den frühen Jahren der Europäischen Gemeinschaft die Notwendigkeit der Herstellung einheitlicher Lebensbedingungen nicht mit jenem Nachdruck verfolgt haben, der geboten gewesen wäre; denn natürlich ist das Wohlstandsgefälle hin zur Bundesrepublik, Herr Kollege Lenz, auch ein Anziehungspunkt und schafft uns auch auf diesem Gebiet Probleme. Überall gesunde Lebensverhältnisse herzustellen, muß unser gemeinsames Ziel sein.
    Nun haben Sie als Opposition das Recht zu fragen: Was hat diese Bundesregierung getan, wenn sie das Problem der Herstellung gesunder sozialer Verhältnisse in allen Teilen Europas erkannt hat? Hier muß ich Ihnen sagen, daß in unserer Regierungszeit durch einen Ausbau des Sozialfonds zum erstenmal der Schritt zu einer Sozialpolitik in der Europäischen Gemeinschaft getan worden ist. In unserer Regierungszeit, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist der Regionalfonds geschaffen worden, mit dem wir regionale Unterschiede in dieser Gemeinschaft überwinden wollen.

    (Beifall bei der FDP und der SPD — Dr. Lenz [Bergstraße] [CDU/CSU] : Keines dieser Worte kann verdecken, daß die FDP gegen die Römischen Verträge gestimmt hat!)

    Schließlich ist es gelungen, durch die gemeinsame Konferenz von Regierungen, Gewerkschaften und Arbeitgebern unter Übernahme eines ähnlichen Modells, wie wir es mit der Konzertierten Aktion in der Bundesrepublik Deutschland geschaffen haben, einen Beitrag zu leisten, einen Ansatz für die Sicherung des sozialen Friedens in Europa zu finden. Diese Anregung ging von der Bundesregierung aus. Die Bundesregierung hätte diese Anregung aber allein nicht verwirklichen können, wenn nicht die deutschen Gewerkschaften bei ihren Kollegen in den anderen europäischen Staaten und die deutschen Arbeitgeberverbände bei ihren Kollegen in den anderen Mitgliedstaaten, aus den guten Erfahrungen unseres Landes lernend, dazu beigetragen hätten, daß dort Verständnis für das Anliegen entstand und daß diese Konferenz zusammentrat. Das, meine Damen und Herren, sind Beiträge zur Überwindung schwerwiegender sozialer, wirtschaftlicher Probleme, und in dieser Perspektive werden wir weiter handeln.
    Nun ist hier auch über die gemeinsame Außenpolitik, über die Europäische Politische Zusammenarbeit, gesprochen worden. Es ist ganz offenkundig, daß dieses wirtschaftlich so bedeutsame und gewichtige Europa seine eigenen Interessen, aber auch seine Verantwortung in der Welt nicht wahrnehmen würde, wenn sich seine Mitgliedstaaten nicht zunehmend zu einer gemeinsamen Außenpolitik zusammenfinden könnten. Deshalb ist die Entscheidung des Jahres 1970 über die Einführung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit ein geradezu historisches Datum in dem europäischen Entwicklungsprozeß. Wenn man weiß, daß auch hier die Bundesregierung nicht zu den Zögernden, sondern zu den Aktiven gehörte, dann ist es einfach nicht richtig, wenn in Reden behauptet wird, über die Ostpolitik habe man Europa vergessen.
    Nein, meine Damen und Herren, es ist umgekehrt: Die Wahrnehmung unserer Belange auch im Bereich der Entspannungspolitik wäre gar nicht möglich gewesen, wenn wir nicht diese Europäische Politische Zusammenarbeit geschaffen hätten. Herr Kollege Ehmke hat schon auf die enge Zusammenarbeit der Staaten der Europäischen Gemeinschaft bei der Vorbereitung der Konferenz von Helsinki hingewiesen. Hier hätten wir unsere ganz spezifischen Belange nicht durchsetzen können, wenn nicht in der EPZ und, von ihr ausgehend, sich übertragend auf andere Staaten Europas großes Verständnis für unsere besonderen Probleme vorhanden gewesen wäre.
    Aber es wäre eine Verengung, wenn wir die EPZ nur im Zusanmmenhang mit der KSZE sähen. Es ist hier die Politik gegenüber der Dritten Welt erwähnt worden. Ich erwähne die Mittelmeerpolitik, ich erwähne die Nahostpolitik. So erschließen sich die Staaten der Europäischen Gemeinschaft Feld für Feld zu einer übereinstimmenden Politik und erhöhen damit das Gewicht ihrer Anschauungen.
    Ich denke, daß diese Europäische Politische Zusammenarbeit die Unterstützung aller Fraktionen des Deutschen Bundestages verdient. Es wird allerdings — erlauben Sie, daß ich hier eine Frage stelle; Herr Kollege Marx wird ja, wie ich höre, nach mir sprechen — für die Opposition die Frage sein, wie sie diese Europäische Politische Zusammenarbeit nicht nur der Form, sondern auch der Sache nach bejahen will, wenn sie in wichtigen Feldern abweichende Auffassungen von der dort gemeinsam gefundenen Politik vertritt.

    (Zustimmung bei der SPD)

    Im Rahmen der EPZ wurde z. B. die Unterzeichnung der Schlußdokumente von Helsinki vorgeschlagen; Sie hatten uns empfohlen, sie abzulehnen. In der EPZ wurde für die Nahostfrage im November 1973, noch vor meiner Amtszeit, eine Position der Europäischen Gemeinschaft entwickelt, die in Ihren Reihen auf heftige Kritik gestoßen ist, obwohl sie sich zunehmend als eine richtige, international anerkannte Position erweist. Ich denke also, daß es nicht ausreicht, zu dieser Politik der Form nach ja zu sagen, sondern daß es notwendig ist, zu erkennen, daß diese Politik auch in der Sache richtig ist und von den Staaten der Europäischen Gemeinschaft auch gemeinsam getragen werden kann. Ich meine, daß wir mit unseren ganz besonderen Problemen ein ganz erhebliches Interesse daran haben, daß sich diese Europäische Politische Zusammenarbeit



    Bundesminister Genscher
    etwa im Vorfeld der Konferenz von Belgrad bewährt.
    Ich habe von der Mittelmeerpolitik gesprochen, und ich erwähne auch dieses Gebiet in Form einer europapolitischen Bilanz. Denn ich kann mir die Auffassung des Herrn Kollegen von Weizsäcker nicht zu eigen machen, daß eigentlich der europäische Weg in den letzten Jahren mit Mißerfolgen gepflastert sei. Meine Damen und Herren, wenn man das nicht gelten läßt, was erreicht wurde, dann führt das zu Resignation. Man darf nur die Ziele, die weitergehend sind, nicht vergessen. Diese vergessen wir nicht, indem wir uns uneingeschränkt zum Tindemans-Bericht bekennen.
    Aber ist es nicht ein großer Erfolg der Europäischen Gemeinschaft, daß wir eine gemeinsame Mittelmeerpolitik finden konnten? Gestern haben wir mit der Unterzeichnung der Maschrek-Abkommen für die Staaten des östlichen Teils des Mittelmeeres einen weiteren erheblichen Schritt getan. Wenn für unsere Sicherheit und Fortentwicklung auch die Rahmenbedingungen um das Gebiet der Europäischen Gemeinschaft herum von Bedeutung sind, dann gehört dazu eben, daß wir auch den Staaten des Mittelmeerraums helfen, ihre Probleme zu lösen, daß wir mit ihnen in eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit eintreten, daß wir mit ihnen aber auch einen Dialog führen. Diese Funktion hat der europäisch-arabische Dialog.
    Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Nahostkrise ist auch eine Gefahr für den Frieden des benachbarten Europa. Dieses benachbarte Europa hat sich hier seiner Verpflichtung nicht entzogen, sondern durch den europäisch-arabischen Dialog, durch die Abkommen mit den Maghreb- und Maschrek-Staaten durch das am 8. Februar zu unterzeichnende Abkommen mit Israel leisten wir unseren Beitrag zur Stabilität in dieser Region und begünstigen damit auch die Aussichten auf eine friedliche Lösung der dort vorhandenen Probleme. Daß sich die arabischen Staaten stärker auf Europa hin orientieren und z. B. nicht auf die Sowjetunion, wie es noch vor zehn Jahren zu befürchten war, ist ganz gewiß eine positive, nicht von selbst kommende, durch eine aktive Politik der Europäischen Gemeinschaft geförderte Entwicklung, die ich nicht zu den Mißerfolgen, sondern zu den eindeutigen Pluspunkten unserer gemeinsamen Politik in der Europäischen Gemeinschaft rechne.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, deshalb sollten wir alle der Versuchung widerstehen, in das allgemeine Unbehagen über noch nicht Erreichtes einzustimmen, sondern das Erreichte gelten lassen und um das, was zu tun ist, ringen.
    Ich bin dem Herrn Kollegen von Weizsäcker sehr dankbar dafür, daß er die Beitrittsproblematik aufgeworfen hat. Hier stehen wir alle als überzeugte Anhänger der Europäischen Gemeinschaft vor außerordentlich schwierigen Entscheidungen. Eine Reihe von Ländern Europas — ich habe darauf in der ersten Debatte nach der Regierungserklärung schon hingewiesen — erfüllen heute durch eine Veränderung ihrer politischen Verhältnisse die politischen Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft. Ich nenne Griechenland, ich nenne Portugal, ich nenne Spanien. Wir alle wissen, daß diese Länder durch die Präambel, durch den Sinn der Römischen Verträge eine Beitrittsperspektive eröffnet bekommen haben. Ja, sie haben, soweit sie assoziiert sind, sogar einen Anspruch auf Beitritt.
    Deshalb war es richtig, daß sich die Bundesregierung zu den Befürwortern der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Griechenland gemacht hat, weil wir Griechenland helfen wollen, seine sozialen Probleme zu lösen und damit seine politischen Strukturen — damit sind die demokratischen gemeint — zu festigen.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Nun wissen wir, daß sich Portugal in einer außerordentlich schwierigen wirtschaftlichen Lage befindet. Wir alle haben mit großer Anteilnahme das Ringen der Demokraten in Portugal um eine freiheitliche Gestaltung dieses uns verbündeten Staates erlebt. Ich denke, wir haben Anlaß, bei dieser Betrachtung davon Kenntnis zu nehmen, daß alle politischen Gruppierungen in diesem Ringen ihren Beitrag geleistet haben.
    Meine Damen und Herren, unser Interesse, unsere Aufmerksamkeit für Portugal darf aber nicht erlahmen, wenn wir feststellen, daß die Demokraten das Heft nunmehr fest in der Hand haben und die kommunistische Gefahr dort vorderhand gebannt ist. Vielmehr geht es jetzt eigentlich erst um die Frage: Findet dieses Portugal, daß unser Bündnispartner in der NATO ist, in der Europäischen Gemeinschaft auch seine politische Heimat?

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Nun wären wir Illusionisten und würden unserer Öffentlichkeit und der Öffentlichkeit Portugals Sand in die Augen streuen, wenn wir nicht auf die großen Entwicklungsunterschiede zwischen Portugal und den Staaten der Gemeinschaft verweisen würden, auf die großen Fortschritte, die Portugal machen muß, um ein vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft, ökonomisch gesehen, werden zu können. Es wird unsere Aufgabe als Deutsche in der Europäischen Gemeinschaft sein, daß wir auf der einen Seite dieses Problem erkennen, daß wir Portugal helfen, dieses Problem zu lösen, daß wir aber auf der anderen Seite gleichzeitig das europäische Engagement der Regierung Portugals nicht enttäuschen, sondern daß wir Portugal eine verläßliche, einklagbare europäische Perspektive eröffnen.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Denn wir wollen dieses Portugal in der Gemeinschaft haben, und wir werden uns alle gemeinsam Gedanken machen müssen, wie wir Ländern dieser Art helfen können, wie wir ihnen schon ein gewisses Maß an Mitwirkung sichern können, das mehr als eine Assoziierung ist, auch wenn heute die Aufnahme noch nicht möglich ist, wenn möglicherweise lange Verhandlungen erforderlich sind. Wir sind gestern in Brüssel übereingekommen, dafür eine gemeinsame Position zu erarbeiten. Das ist übrigens



    Bundesminister Genscher
    auch eine Initiative, die auf uns zurückgeht. Ähnliches wird mit Spanien geschehen, das in dieser Europäischen Gemeinschaft genauso willkommen ist, wo aber auch eine Reihe ökonomischer Probleme, wenngleich anderer Art, zu lösen sind.
    Ich will damit sagen, daß diese Europäische Gemeinschaft eine Fülle von Problemen gleichzeitig lösen muß. Die in den Mitgliedstaaten vorhandenen eigenen wirtschaftlichen Probleme sind zu überwinden — das erfordert europäische Solidarität — und zugleich muß sie für die europäischen Demokratien offen sein, die Mitglied werden wollen. Denn diese Europäische Gemeinschaft wird mehr und mehr zu einer Kernzelle der Freiheit in Europa, an die sich auch andere Staaten, die aus innerem Verständnis, durch vertragliche Bindungen oder auch aus anderen Gründen nicht Mitglied der Gemeinschaft werden können, anlehnen wollen. Wir messen dem Europarat eine so außerordentlich wichtige Funktion bei, weil er Begegnungsstelle mit diesen Staaten ist. Deshalb ist das Ministerkomitee des Europarates geradezu eine Clearingstelle, eine Aussprachestelle für die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft mit ihren anderen Partnern des Europarates, denen wir nicht das Gefühl geben dürfen, sie seien draußen vor den Toren der Gemeinschaft und von geringerem Interesse.
    Das macht deutlich, daß die europäischen Perspektiven, die hier mit Recht diskutiert werden, sich aus dem Ziel eines freien, in Frieden lebenden Europas ergeben und daß dieses freie, in Frieden lebende Europa gesunde wirtschaftliche und damit auch politische Verhältnisse braucht, daß dieses freie Europa seine Verteidigungskraft im Atlantischen Bündnis suchen und finden muß und daß dieses freie Europa wissen muß, daß es viele Staaten mit gleichen Wertvorstellungen in Europa gibt, die ihm nicht angehören, aber mit denen eng zusammenzuarbeiten eine dringende Notwendigkeit ist.
    All diesen Aufgaben stellt sich die Bundesregierung mit ihrer Europapolitik. Diese Aufgaben sind in dem Tindemans-Bericht enthalten, zu dem wir ja sagen. Ich denke, daß unsere Stimme in Europa, weil wir so überzeugt für diese Europäische Gemeinschaft, für die Europäische Union eintreten, nicht geschwächt werden sollte, indem wir uns gegenseitig unseren Willen zu Europa bestreiten, sondern daß wir im Gegenteil zeigen sollten, daß bei allen Gegensätzen hier in der Bundesrepublik Deutschland Europa ein unbestrittenes Thema ist. Erreichen wir das, dann leisten wir nicht nur etwas für das eigene Land, sondern dann leisten wir viel für das Europa der Freiheit, das wir doch alle wollen.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)