Nein, ich glaube, daß es gerade der politischen Einsicht der Engländer entspricht, daß sie sich — vielleicht anders als manche Kontinentaleuropäer — zunächst auf einen pragmatisch-politischen Weg begeben, dann aber gerade wegen ihres Pragmatismus besser als Kontinentaleuropäer und dort insbesondere Linksparteien in der Lage sind, auch die Folgerungen aus einem einmal vollzogenen Schritt zu ziehen.
Ich möchte aber zurückkommen auf die Rede von den angeblichen Opfern, die wir bringen. Ich möchte überhaupt jener irreführenden Trennung von Interesse und Ethik in der Politik widersprechen, die allzuoft mit dem Begriff „Opfer" verbunden ist.
— Meine Damen und Herren, es ist uns mitgeteilt worden — und wir haben das respektiert —, daß der Herr Bundeskanzler zur Verabschiedung des italienischen Ministerpräsidenten noch einige Minuten außer Haus weilen mußte.
Was soll es denn z. B. heißen, wenn Ihr Finanzminister, Herr Bundeskanzler — und jetzt wende ich mich an Sie persönlich —, erklärt, unser entwicklungspolitisches Engagement werde sich nicht in den Zahlen ausdrücken, die er als Christ für erforderlich halte? Was er für erforderlich hält, dafür soll er sich gefälligst verkämpfen. Er ist doch als Christ und als Politiker ein und derselbe Mensch, oder nicht? Die Trennung beider Bereiche führt auf Abwege. Wer ethische Überzeugungen ohne Bezug zu den eigenen Interessen verfolgt, der gerät in einen ideologischen Irrgarten.
Wer aber politisch anders handelt, als er es ethisch für richtig hält, wer also seine ethischen Überzeugungen nicht zur Maxime seines politischen Handelns macht, der kommt schließlich sogar auch noch zu einem falschen Verständnis seiner eigenen Interessen.
In Wahrheit geht es in Europa, wie Roy Jenkins, der neue Präsident der Gemeinschaft, mit Recht gesagt hat, nicht um Pferdewetten und Lotto, wo man nachrechnet, ob man mehr herausholt, als man eingesetzt hat. Sondern es geht um das politische Ziel Europas, dessen Saldo sich in Zahlen allein gar nicht errechnen läßt. Wir möchten diese Gelegenheit benutzen, dem neuen Präsidenten, den wir seit Jahr und Tag als mannhaften Streiter für Europa kennen, für seine ermutigenden Worte zu danken und ihn unserer Unterstützung zu versichern.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben ihm und seiner Richtung innerhalb der Labour-Party ja einmal auf einem wichtigen Parteitag geholfen. Sie hatten früher auch schon einmal nützliche Gedanken über die Zusammensetzung der Kommission und das, was die Regierungen dazu tun sollten. Sie hatten erklärt, der neue Präsident müsse ganz erheblichen Einfluß auf die Auswahl seiner einzelnen Kommissionsmitglieder erhalten, denn, so sagten Sie über die Brüsseler Kommission vor etwas mehr als einem Jahr — ich darf zitieren —:
In den vergangenen 17 Jahren war kaum je-
mals ein erstklassiger Politiker darunter, und
Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 7, Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Januar 1977 131
Dr. von Weizsäcker
das nennt sich dann Kommission, die sich selbst als europäische Regierung aufwirft.
Ich mache mir, Herr Bundeskanzler, Ihre Bewertung der Kommission in diesen letzten 17 Jahren wahrlich nicht zu eigen, aber als Roy Jenkins nach Bonn und nach Hamburg kam, stützte er sich doch wohl auf diese Ihre öffentlich bekanntgemachten Äußerungen, um für seine neue Kommission von Ihnen erstklassige Politiker zu erbitten, überdies — einer wichtigen demokratischen Übung, von ihm selbst auch gepriesen, folgend — je einen aus der Regierung und der Opposition.
Sie hätten ja eine gute Gelegenheit gehabt, die Schäden Ihrer ständigen Kommissionsschelte wettzumachen.
Statt dessen haben Sie sich wieder einmal versagt. Sie haben deutscherseits in der Kommission alles beim alten gelassen, und Sie haben durch diese Ihre Politik die beiden schätzenswerten deutschen Mitglieder der Kommission auch noch zum Objekt einer spöttisch-kritischen Presse in der Europäischen Gemeinschaft werden lassen.
Das alles entmutigt Europa, Herr Bundeskanzler,
und von den Stilfragen will ich gar nicht erst reden.
Ihre Regierungserklärung steht — ich wiederhole es — unter dem Zweifel, ob Sie sich überhaupt noch zur Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, zu einer politischen Union bekennen. Mit anderen Worten: Wollen Sie — und wenn ja, mit welchen Mitteln — die Außen- und die Sicherheitspolitik und sodann auch allgemeine Fragen der Innen- und Gesellschaftspolitik zur Sache der Gemeinschaft machen, und zwar um dem wirtschaftlichen Ansatz Europas sowohl zum wirtschaftlichen Erfolg wie auch zum politischen Ziel zu verhelfen?
In Ihrem mageren Europa-Kapitel sprechen Sie über die Beitrittsbemühungen europäischer Länder. Welche Absicht haben Sie? Sollen solche Beitritte ohne Änderung der institutionellen Entscheidungsbefugnisse in Brüssel betrieben werden? Wenn ja, streben Sie damit also endgültig etwas anderes als die politische Union an? Ich frage Sie danach, denn wir meinen, alle Beteiligten müssen wissen, um welches Europa es sich im Ziel auch bei den weiteren Beitrittsverhandlungen handelt.
Oder eine weitere Frage, die Europäische Politische Zusammenarbeit, die sogenannte EPZ: Vor sechs Monaten hat der Herr Bundesaußenminister die außenpolitische Zusammenarbeit in der Gemeinschaft als eine — ich zitiere ihn — vorwärtsweisende Entwicklung von größter Tragweite bezeichnet. Die Regierungserklärung aber schweigt sich sechs Monate später über dieses Thema so gut wie aus. Die EPZ ist zweifellos wichtig, wenngleich sie keineswegs eine automatische Vorstufe zur europäischen Union ist. Der belgische Ministerpräsident Leo Tindemans hat in seinem großen Bericht über die Europäische Union mit Recht auf die dringliche Notwendigkeit verwiesen, die Trennung der euro -päischen Außenbeziehungen der Neun in einen außenwirtschaftlichen Bereich der Gemeinschaftseinrichtungen einerseits und einen außenpolitischen Bereich im engeren Sinne bei der EPZ andererseits schrittweise zu überwinden. Wie steht diese Regierung dazu?
Der schwerste europapolitische Mangel der Regierungserklärung ist es ja wohl, daß Sie überhaupt den ganzen Tindemans-Bericht mit keinem einzigen Wort erwähnen.
Um so dringlicher ist es, daß Sie heute und hier dem damit verbundenen Verdacht entgegentreten, Sie wollten in Wahrheit der Europäischen Union überhaupt lieber aus dem Wege gehen, als sich den mit ihr verbundenen Mühen zu unterziehen: