Rede:
ID0800700200

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Metadaten
  • insert_drive_fileAus Protokoll: 8007

  • date_rangeDatum: 19. Januar 1977

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 8/7 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 7. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 19. Januar 1977 Inhalt: Begrüßung von Mitgliedern der türkischen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates . . . . . . 152 D Nachricht vom Tode des früheren Abg. Freiherr von Kühlmann-Stumm 201 C Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen im Ältestenrat — Drucksache 8/32 — . . . . . . . . 127 A Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Dr. von Weizsäcker CDU/CSU 127 B Dr. Ehmke SPD 133 B Dr. Bangemann FDP 140 C Genscher, Bundesminister AA 145 A Dr. Marx CDU/CSU 149 B Friedrich (Würzburg) SPD . . . . . . 159 D Hoppe FDP 167 D Graf Stauffenberg CDU/CSU 171 C Schmidt, Bundeskanzler . . . . . . 176 A Dr. Kohl CDU/CSU 186 C Leber, Bundesminister BMVg 191 B Dr. Wörner CDU/CSU . . . . 195 D, 197 A Spitzmüller FDP 196 D Möllemann FDP 197 B Dr. Mertes (Gerolstein) CDU/CSU . . . 201 D Pawelczyk SPD 206 D Jung FDP 212 B Lorenz CDU/CSU 214 D Mattick SPD 218 C Dr. Czaja CDU/CSU 221 B Dr. Kreutzmann SPD . . . . . . . 225 C Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen — Drucksache 8/35 — . . . . . . . . 166 C Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP Einsetzung von Ausschüssen — Drucksache 8/36 — 166 C Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland im Europäischen Parlament — Drucksache 8/47 — 166 D II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Januar 1977 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP Wahl der Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats — Drucksache 8/48 — 167 A Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP Mitglieder des Gremiums gemäß § 9 Abs. 1 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses — Drucksache 8/49 — 167 A Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 141 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 23. Juni 1975 über die Verbände ländlicher Arbeitskräfte und ihre Rolle in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung — Drucksache 8/10 — 167 B Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. Mai 1974 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Zypern zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen — Drucksache 8/11 — 167 C Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 30. August 1961 zur Verminderung der Staatenlosigkeit und zu dem Übereinkommen vom 13. September 1973 zur Verringerung der Fälle von Staatenlosigkeit — Drucksache 8/12 — 167 C Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes zu dem Übereinkommen vom 30. August 1961 zur Verminderung der Staatenlosigkeit und zu dem Übereinkommen vom 13. September 1973 zur Verringerung der Fälle von Staatenlosigkeit (Gesetz zur Verminderung der Staatenlosigkeit) — Drucksache 8/13 — 167 C Nächste Sitzung 227 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 229* A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Januar 1977 127 7. Sitzung Bonn, den 19. Januar 1977 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 19. Januar 1977 229* Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Adams * 20.1. Dr. Aigner * 21. 1. Arendt 21. 1. von Hassel* 19. 1. Dr. Jahn (Braunschweig) 21. 1. Lücker * 21. 1. Lange * 19. 1. Müller (Mülheim) * 21. t. Richter *** 21. 1. Schulte (Unna) 19. 1. Dr. Schwencke ** 21. 1. Dr. Schwörer * 21. 1. Dr. Staudt 21. 1. * für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates *** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Richard von Weizsäcker


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir nehmen heute die Debatte über die Regierungserklärung wieder auf. Die Lage freilich, in die die Regierung uns dabei bringt, hat schon die Öffentlichkeit zu einer Mischung von Zorn und Hohn gereizt;

    (Dr. Marx [CDU/CSU]: So ist es!)

    denn ihre Regierungserklärung ist doch für vier
    Jahre bestimmt, aber in wesentlichen Teilen hat sie
    nun nicht einmal die Kraft, vier Wochen zu überdauern.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Unsere Debatte soll richtungweisend für eine ganze Legislaturperiode sein. Dazu muß sie bei der Bevölkerung auch Vertrauen für die Art und Weise bilden, wie wir, ihre gewählten Vertreter, hier mit unserer Verantwortung umgehen. Aber wie soll das gelingen, wenn die Regierungserklärung kaum in die Stimmungslage einführt, die uns in der Bundesrepublik Deutschland heute kennzeichnet? Ich frage, ob denn der Herr Bundeskanzler, der ja gewiß bald kommen wird, kein Interesse für diese Stimmungslage hat.

    (Dr. Marx [CDU/CSU] : Die Frage ist berechtigt!)

    Oder scheut er die offene Diskussion über die Einsichten, die er besitzt?
    Ich meine, der Herr Bundeskanzler hat sich recht wenig Mühe gemacht, die Zeit, in der er regieren will, zu erkennen und zu beschreiben, die Zeit zu beschreiben in ihren eigenartigen Herausforderungen, ihren Krisen und ihren Chancen. Wir empfinden doch alle die Spannung, in der wir leben. Einerseits geht es uns gut. In den meisten Teilen der Welt gibt es mehr materielle Not

    (Wehner [SPD] : Hört! Hört!)

    und weniger Freiheit als bei uns. Auf der anderen Seite aber spüren wir eine wachsende Unruhe. Das Ungleichgewicht unter den Generationen nimmt zu. Junge Menschen fürchten um ihre Chance, alte Menschen um ihre Versorgung. Der Kampf um die Arbeitsplätze verschärft sich. Es wachsen nicht nur die Schulden und die Haushaltssorgen, sondern auch die Erwartungen der übrigen Welt an unsere Beiträge und Leistungen.
    In dieser Lage meldet bei uns jeder seine Sorgen und Forderungen an. Aber dennoch wachsen die Bäume nicht in den Himmel. Der vernünftige Bürger — und das ist zum Glück die weit überwiegende Mehrheit unserer Bevölkerung — weiß das ganz gut. Deshalb erwartet dieser Bürger, daß eine verantwortliche Regierung auf seine Einsicht setzt und daß sie ihm seinen Beitrag zur Gesundung der Ver-



    Dr. von Weizsäcker
    hältnisse abverlangt. Dazu ist er auch bereit, aber doch nur dann, wenn er spürt, daß die Verantwortlichen ihm mit Ehrlichkeit, mit Voraussicht und mit Führungskraft gegenübertreten.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Mit anderen Worten, meine Damen und Herren: die Probleme, die vor uns liegen, sind doch wahrlich nicht unlösbar. Die unendlich vielen Menschen auf der Welt, die Hunger leiden oder in Unfreiheit leben müssen, wären froh, wenn sie unsere Probleme hätten. Aber was wir brauchen, ist zunächst der Mut zur Wahrheit. Die Regierung ist die erste, die ihn haben muß. Und wenn sie damit Widerspruch auslöst, gerade dann muß sie durchhalten und darf nicht gleich schon vor dem ersten Sturm enttäuschter Hoffnungen kapitulieren. Denn wenn es wahr ist, daß wir über unsere Verhältnisse leben — der Herr Bundeskanzler hat dem schon vor zwei Jahren, als ich ihm dies von dieser Stelle vorhielt, gar nicht widersprochen —, dann wird das doch nicht plötzlich deshalb unwahr, weil die Folgen unbequem werden. Wenn ein Defizit da ist — und davon spricht jetzt, wenn auch in Raten, die Bundesregierung —, dann muß man die Gesamteinnahmen verbessern oder die Gesamtausgaben senken. Es merkt doch jeder, daß es verantwortungslos ist, statt dessen die Probleme innerhalb von sechs Wochen dreimal von einer Kasse zur anderen zu verschieben, die ungewissen Zukunftserwartungen überoptimistisch anzusetzen, sie allzufrüh in bindende Verpflichtungen umzuwandeln und damit die Probleme für gelöst zu erklären.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Was Sie hier in der Bundesregierung betreiben, ist Demontage des Bürgervertrauens,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    und zwar in die Kraft unseres freiheitlichen Systems, mit unseren Problemen freiheitlich fertig zu werden. Das können wir alle miteinander nicht zulassen, denn es betrifft uns alle miteinander. Herr Brandt hatte ganz recht in der ersten Stellungnahme zur Regierungserklärung, als er hier erklärte, es gehe um nichts Geringeres als um die Bewährungsprobe der Demokratie in unserem Teil der Welt. Sein Beitrag war überhaupt interessanter als die ganze Regierungserklärung. Meine Fraktion befindet sich deshalb nicht etwa mit seinen Gedanken in größerer Übereinstimmung. Aber im Gegensatz zum Bundeskanzler hat Herr Brandt perspektivisch gesprochen, und erst wenn wir dies tun, können wir hier auch untereinander Gemeinsamkeiten und Streitpunkte feststellen. Beides brauchen wir, denn Koalition und Opposition haben in unserer Demokratie eine gemeinsame Verantwortung. Helmut Kohl hat in seiner Antrittsrede vor vier Wochen darauf unmißverständlich hingewiesen. Die Lösung der Probleme hat den Vorrang, und danach kommt der Angriff auf die jeweils andere Seite dieses Hauses.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    In diesem Sinne ist unsere Kritik an der Regierungserklärung zu verstehen, und in diesem Sinne
    will ich mich am Anfang unserer heutigen außenpolitischen Aussprache den Fragen Europas zuwenden.
    Meine Fraktion stellt Europa an die Spitze ihrer außenpolitischen Ziele; denn hier wie nirgends sonst durchdringen die Innen- und die Außenpolitik einander, und in Europa wird letztlich über den Erfolg oder den Mißerfolg unserer politischen Zukunft entschieden. Die Bundesregierung oder jedenfalls der Herr Bundeskanzler und seine Partei sehen dies offenbar anders. Mit seiner Regierungserklärung hat er ja nur eine quasi schwebende Zustandsbeschreibung gegeben. Aber sein Wille, sein Programm bleiben dabei dunkel. Was ist die Priorität des Bundeskanzlers? Oder hat er keine?
    In den Ausführungen zur Außenpolitik hat die Bundesregierung in ihrer Erklärung mit der Entspannung begonnen. Herr Brandt hat dies in seinem Debattenbeitrag ganz ausdrücklich und ohne Widerspruch der Regierung so gedeutet: Die Entspannungspolitik hat in dieser Regierung den Vorrang.
    Demgegenüber stellen wir die Europapolitik an die Spitze. Ich nenne dafür fünf Gründe.
    1. Unsere Volkswirtschaft ist aufs engste mit der Europäischen Gemeinschaft verknüpft. Mehr als 50 % unseres Außenhandels wickeln wir mit den Mitgliedern und den assoziierten Ländern der Gemeinschaft ab. Die Vollbeschäftigung, unsere vorrangige innenpolitische Aufgabe, würde zur Illusion, wenn die Gemeinschaft scheiterte.
    2. Unsere zukünftige Leistungskraft hängt davon ab, daß wir wissenschaftlich und technisch in der Spitzengruppe der Welt bleiben. Angesichts der Größenordnung der Probleme reichen aber nationale Anstrengungen dafür nicht aus. Wir sind auf den Rahmen der Gemeinschaft angewiesen. Neulich ist, von der Öffentlichkeit wenig beachtet, die Verhandlung über den Standort der europäischen Kernfusionsforschung vorläufig gescheitert. Dies ist nur ein Beispiel für eine möglicherweise verhängnisvolle Entwicklung in der Zukunft, wenn die politischen Prioritäten in einigen europäischen Hauptstädten nicht in Ordnung sind.
    3. Die Sicherheit Europas ist nur im Atlantischen Bündnis gewährleistet. Unentbehrlich dafür ist die Partnerschaft Amerikas. Aber diese Partnerschaft Amerikas bleibt uns nachhaltig nur dann gesichert, wenn es Europa lernt, nicht nur seinen sicherheitspolitischen Pflichten überhaupt, sondern ihnen vereint nachzukommen.
    4. Nun komme ich zu dem möglichen Vorrang der Bundesregierung oder jedenfalls des Bundeskanzlers zurück. Nur zusammengeschlossen kann das freie Europa dem zunehmenden Gewicht des Ostblocks begegnen, Entspannung suchen und auf diesem Weg dann auch dazu beitragen, daß die Spaltung ganz Europas und damit ganz Deutschlands mit der Zeit überwunden wird. Es gibt Entspannung eben nur durch und nur mit Europa, aber nicht an Europa vorbei.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Auf uns allein gestellt, können wir als Deutsche weder nach innen noch nach außen überleben.



    Dr. von Weizsäcker
    5. Nicht als einzelne Nationalstaaten, sondern nur gemeinsam können wir Europäer in den weltweiten Nord-Süd-Aufgaben sowohl unsere Interessen schützen wie unserer Mitverantwortung für die Entwicklung der Welt gerecht werden.
    Nun wissen wir natürlich alle, daß es mit Absichtserklärungen in bezug auf Europa nicht getan ist.

    (Sehr richtig! bei der SPD)

    Das Zusammenwachsen selbständiger Staaten ist ein mühsamer Prozeß, voller Widerstände und oft beinahe verzweiflungsvoller Enttäuschung. Aber um so weniger dürfen wir Ziel und Priorität preisgeben oder gar verschweigen. Wir können doch nicht sagen: Die Luft ist schlecht, also wollen wir beim Atmen auf Luft lieber verzichten. Ebensowenig können wir ohne Europa auskommen, nur weil der Weg in den letzten Jahren mit Mißerfolgen gepflastert war.
    Niemand macht die Bundesregierung für alle diese Mißerfolge verantwortlich.

    (Wehner [SPD] : Hört! Hört!)

    — Niemand macht das, Herr Wehner; das wissen Sie ganz gut. Aber Freunde und Gegner der europäischen Entwicklung müssen etwas wissen, was sie von dieser Regierung gar nicht erfahren,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    nämlich ob die deutsche Regierung die europäische Einigung überhaupt für vorrangig hält, wo die Schwierigkeiten auf diesem Weg liegen und welche Mittel die Regierung zu ihrer Überwindung anwenden will.
    Der Herr Bundeskanzler hat sich in der Regierungserklärung dazu ausgeschwiegen. Im Gegensatz dazu — das unterstreiche ich — hat sich der Herr Bundesaußenminister in seinem Überblick zur Jahreswende ganz ausdrücklich zum Vorrang der Europapolitik bekannt. Wir begrüßen dies und bedauern nur, daß das Auswärtige Amt auf die Abfassung der Regierungserklärung insoweit offenbar einen zu geringen Einfluß hatte.

    (Sehr wahr! bei der CDU/CSU)

    Wir hoffen auch, daß der Kollege Genscher bereit ist, die Regierungserklärung heute und hier, wenn auch verspätet, in diesem entscheidenden Kapitel zu verbessern. Einer, der es wissen muß, nämlich unser ehemaliger Kollege Erhard Eppler, hat uns doch empfohlen, immer wieder die Lernfähigkeit des Bundeskanzlers herauszufordern.

    (Beifall bei der CDU/CSU) Dies wäre eine gute Gelegenheit.

    Wir müssen nun von den Schwierigkeiten auf dem Weg zur Europäischen Union sprechen. Ein Hindernis nennt die Regierungserklärung, nämlich die zunehmende wirtschaftliche und soziale Auseinanderentwicklung unter den Mitgliedstaaten. Das trifft zu; durch Resolutionen kann man das nicht aus der Welt schaffen. Auch die Kommission oder ein Ministerrat in Brüssel haben dagegen kein ausreichendes Heilmittel, wenn zu Hause in den Mitgliedsländern die politische Führung fehlt, die die Einsicht, den Willen und die Kraft hat, europäisch zu handeln.

    (Wehner [SPD] : Und ein „Strategieausschuß" !)

    Aber der Herr Bundeskanzler hat es wohlweislich unterlassen, auf wichtige Gründe einzugehen, warum in europäischen Hauptstädten mehr national als europäisch gehandelt wird. Diesen Gründen entgegenzuwirken, Herr Wehner, wäre ein besserer und ein würdigerer Anlaß für Ihre Aufmerksamkeit als derjenige, auf den Sie sich soeben mit Ihrem Zwischenruf beziehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Widerstände gegen die europäische Einigung gab es nicht nur aus der historischen Tradition, aus der geographischen Lage oder aus der politischen Eigenart einiger Mitgliedsländer, sondern zur Renationalisierung in Europa hat auch eine parteipolitische Ideologie beigetragen. Schon vor einer wesentlichen wirtschaftlichen und sozialen Auseinanderentwicklung wurde z. B. gegen die Gemeinschaftspolitik mit dem Schlagwort „Europa der Konzerne" zu Felde gezogen, ein auch in der SPD weit verbreiteter Spruch. Das ist zwar ideologisch konsequent, aber sachlich töricht.

    (Dr. Marx [CDU/CSU] : Sehr wahr!)

    Wo wäre denn Europa ohne die grenzüberwindende Tätigkeit der Unternehmen und nun auch der Gewerkschaften im Gemeinsamen Markt?

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Natürlich dürfen diese Gruppen weder einzeln noch gemeinsam als Tarifpartner die politische Führungsrolle übernehmen; das dürfen sie weder national noch multinational. Die politische Verantwortung hat bei den gewählten politischen Organen zu bleiben, auch in Europa. Aber man sollte doch diese transnational handlungsfähigen Organisationen nicht beschimpfen und verteufeln, sondern man sollte sie unter Kontrolle halten und im übrigen europäisch ermutigen; denn auch sie sind ein wichtiger Baustein für Europa. Ich meine, der Beginn der gesamtwirtschaftlichen Abstimmung auf Gemeinschaftsebene durch Regierungen und Sozialpartner auf der Konferenz in Luxemburg im Juni des vergangenen Jahres war insofern ein bedeutsames Ereignis.
    Aber das hat die Parteien des Sozialismus, wie wir wissen, nicht gehindert, sich auch im Jahre 1976 überwiegend der Renationalisierung der Europapolitik zu verschreiben. Ich brauche nur einige der bekannten und vielzitierten Äußerungen in Erinnerung zu rufen, so die Äußerung des französischen Sozialistenführers François Mitterrand, der erklärte, ihm sei ein Klassenbündnis mit den Kommunisten im Zweifelsfall wichtiger als das Bündnis des freien Westens.

    (Dr. Marx [CDU/CSU] : Hört! Hört!)

    Oder denken wir gar an den alten Europäer Mansholt, der erklärte: Lieber kein Europa, wenn es nicht sozialistisch ist. Der Herr Bundeskanzler hat, wie berichtet wurde, damals Mitterrand widersprochen, und das ehrt ihn; aber in Wahrheit hat sich dieser selbe Bundeskanzler mit seiner Formel vom Modell



    Dr. von Weizsäcker
    Deutschland auf seine Weise an dem Rationalisierungswettbewerb der Linksparteien beteiligt.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Unabsehbaren Schaden in derselben Richtung hat vor allem die mehrfach wiederholte Formel seines Finanzministers Apel hervorgerufen, wir seien doch nicht die Zahlmeister Europas. Die Regierungserklärung setzt, wenn auch mit weniger platten Worten, diese unheilvolle Tendenz fort. Was für ein Bewußtsein will denn der Herr Bundeskanzler bei unserer Bevölkerung erreichen, wenn er erklärt, wir hätten 1975 3,2 Milliarden DM mehr gezahlt als erhalten, und wir erbrächten damit vier Fünftel des sogenannten. Nettotransfers? Natürlich können wir nicht einfach die Reparaturkosten für die Fehler bezahlen, welche andere Mitgliedsländer zu Hause machen. Die Gemeinschaft muß wissen, daß Leistungen von uns zum Ausbau der Gemeinschaft dann und nur dann zu erwarten sind, wenn sie mit Fortschritten in Richtung auf Europa verbunden werden. Aber dazu muß doch die Gemeinschaft eben zunächst wissen, ob wir die Union überhaupt noch ernsthaft wollen. Das erfährt sie nicht aus der Regierungserklärung. Bei uns zu Hause muß man verstehen, daß wir unter diesen Umständen doch nicht für andere opfern, sondern für unsere eigene Erhaltung und Zukunft zahlen, unsere Zukunft, die Europa heißt.
    Die Rechnung der Regierungserklärung täuscht. Tatsächlich gibt die Bundesrepublik nur 0,5 % ihres Bruttosozialproduktes nach Brüssel, während im Durchschnitt 0,7 % des zu Hause berechneten Gesamtbruttosozialproduktes in die Gemeinschaftskasse fließen. Unser Land zieht als stärkste Industrie- und Exportmacht in der Gemeinschaft große handelspolitische Vorteile aus dem gemeinsamen Markt. Das alles gehört mit in die Rechnung. Die deutsche Zahlmeisterattitüde ist aber einfach schlechte Europapolitik;

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    denn sie verstärkt nur die Tendenz zur Renationalisierung in Europa, und in Deutschland erweckt sie antieuropäische Gefühle, und diese laufen unseren Interessen zuwider.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
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  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Richard von Weizsäcker


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Bitte schön!