Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen ,und Herren! Der Regierungserklärung soll ein Wort zum Rententhema vorangestellt werden, das in der vorigen Woche die Diskussion beherrscht hat. Kein Zweifel: Es hat zu einer ernsthaften Beunruhigung und zu einer Belastung des Vertrauens in die sozialliberale Koalition und in die Bundesregierung geführt.
Die Verhandlungsdelegationen beider Koalitionsparteien hatten sich an Hand des Gutachtens des Sozialbeirats vom 15. Oktober, der ja seit 20 Jahren die Maßstäbe für den Rentengesetzgeber gesetzt hat, und anderer neuerer wirtschaftlicher Daten mit der Gesamtheit der gesetzgeberisch notwendigen Schritte zur finanziellen Konsolidierung der Rentenversicherung und der Krankenversicherung in tiefgreifender Weise befaßt. Sie hatten dabei — unter anderem — auch eine Verschiebung der für den Juli 1977 vorgesehenen Rentenanpassung um sechs Monate ernsthaft in Erwägung gezogen. Ich will dies vor dem Bürger nicht verschleiern, sondern ich will es bestätigen. Wir hatten es uns damit allerdings sehr schwer gemacht.
Die Reaktionen vieler Bundestagsabgeordneter, vieler Bürger und der öffentlichen Meinung waren heftig. So heftig hatten wir diese Ablehnung nicht erwartet,
obwohl klar war, daß es große Kraft brauchen würde, eine solche Entscheidung, wenn wir sie für unausweichlich gehalten hätten, glaubhaft zu machen und sie im Bundestag, in seinen Parteien, Fraktionen und Ausschüssen, zur Annahme zu bringen.
Ich will das offen zugeben. Aber ich darf hinzufügen: Eine Regierung ist nicht unfehlbar. Dies behaupten nur totalitäre Regierungen von sich.
Hingegen steht es einer demokratischen Regierung gut an, wenn sie einer so klaren Kritik folgt, wie sie in dieser Sache von den Bundestagsabgeordneten ausgesprochen worden ist, die im Auftrage ihrer Wähler sprachen und die über vorzulegende Gesetzentwürfe zu entscheiden haben.
Wir haben deshalb letzte Woche — nach Beratungen in beiden Koalitionsfraktionen und -parteien — Klarheit geschaffen und durch öffentliche Verlautbarung diesen Teil der Regierungserklärung vorweggenommen.
Ich wiederhole hier die wichtigsten Punkte, die wir dem Bundestag im Zusammenhang mit dem im Frühjahr zu erstattenden Rentenanpassungsbericht zur Gesetzgebung vorschlagen werden, der im übrigen dann auch die notwendigen Zahlen und Daten enthalten wird:
1. Die Renten werden zum 1. Juli 1977 um 9,9 Prozent erhöht; die nächste Anpassung erfolgt am 1. Januar 1979 und dann jeweils erneut im jährlichen Abstand.
2. Die Bruttolohnbezogenheit bei der Festsetzung der Neurenten bleibt. Es wird kein Krankenversicherungsbeitrag der Rentner eingeführt. Die Beitragssätze zur Rentenversicherung bleiben unverändert.
3. Die laufenden Renten werden ab 1. Januar 1979 jeweils mindestens entsprechend der Steigerung der nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben verfügbaren Einkommen der aktiven Arbeitnehmer erhöht werden.
4. Die Rentenversicherung wird von den stark angestiegenen Kosten der Krankenversicherung der \\Rentner entlastet.
Dies letztere hat Folgen für die gesetzliche Krankenversicherung, auf die ich noch zurückkommen werde. Wir mußten bei der Krankenversicherung einen gewissen Ausgleich durch Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze vornehmen. Dies ist eine Belastung besserverdienender Arbeitnehmer.
Unsere in einer schwierigen wirtschaftlichen Phase getroffenen Entscheidungen sind geeignet, die Rentenversicherung zu konsolidieren und damit die Altersversorgung der Bürger zu sichern. Damit wird
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zugleich der bewährte Vertrag zwischen den Generationen gefestigt und das Prinzip der Solidarität zwischen den aktiven Arbeitnehmern und den Rentnern sozial gerecht ausgewogen.
Wir nehmen diesen Vertrag zwischen den Generationen als eine ernste Verpflichtung. Er beruht darauf, daß die arbeitende Generation solidarisch für die Rentner sorgt. Dabei weiß die Generation der Rentner, daß sie die Solidarität der Arbeitenden nicht überfordern kann. Beide Generationen leben gemeinsam von dem, was in unserer Volkswirtschaft jeweils aktuell, in jedem Jahre neu, erarbeitet wird.
Heute beziehen die Rentner im Durchschnitt zwei Drittel des Nettoeinkommens der Arbeitnehmer. Das Nettoeinkommen der Arbeitnehmer ist seit 1969 um etwa 80 °/o gestiegen; die Einkommen der Rentner sind aber sogar um 103 °/o gestiegen. Das heißt, die Berufstätigen haben durch ihre Finanzierung des rascheren Ansteigens der Renten — rascher im Vergleich zu den verfügbaren Arbeitnehmereinkommen — Solidarität mit ihren, mit unseren älteren Mitbürgern bewiesen. Auch die kostenlose Krankenversicherung der Rentner ist ein Stück dieser Solidarität. Auf dieser Solidarität beruhen der soziale Friede und der soziale Ausgleich. Die vorgeschlagenen Maßnahmen sind dazu ein ausgewogener Beitrag.
Ich wollte diese Bemerkungen der Regierungserklärung gern voranstellen, um nun anschließend zur systematischen Darlegung überzugehen.
Die Mehrheit der Bürger hat am 3. Oktober diese Bundesregierung, die beiden sie tragenden Koalitionsparteien für weitere vier Jahre beauftragt, ihre Arbeit für unser Volk fortzusetzen. Das Wahlergebnis ist zugleich eine Bestätigung für die Stabilität der demokratischen Ordnung in Deutschland.
Krisenhafte Erscheinungen anderswo sollten uns ein Ansporn sein, unsere wirtschaftliche Kraft weiter zu entwickeln. Und die Zeichen stehen gut, daß uns dies gelingen wird.
Allerdings sollten wir uns, mehr noch als in der Vergangenheit, bewußt machen, daß Wachstum nicht unendlich ist und daß Reformen nicht notwendig bedeuten, daß der Staat fortwährend neue, zusätzliche Leistungen erbringen kann. Wir wollen nicht Erwartungen wecken, die unangemessen sind. Unser Urteil über die künftige Entwicklung ist durch vorsichtigen Realismus gekennzeichnet. Vorsichtig ist hier zugleich gemeint im Sinne von Vorhersicht. Es gehört dazu auch die Einsicht, daß der durch wirtschaftliches Wachstum erreichte Fortschritt nicht nur in eine einzige Richtung führt. Von den krisenhaften Entwicklungen, die heute viele Völker und Staaten bedrücken, sind wir in der Bundesrepublik Deutschland weniger berührt worden als andere.
Doch indem wir feststellen, daß es uns gelungen ist, allzu große Härten der Weltwirtschaftskrise von uns abzuwenden, wollen wir auch eingestehen, daß manche besorgt sind, ob es so gut, wie es
heute bei uns ist, auch morgen bleiben wird. Es gibt dafür aber durchaus begründete Hoffnung.
Solche Hoffnung meint allerdings auch, daß es durch unseren Beitrag gelingen kann, anderen eine bessere Perspektive zu vermitteln. Denn das quantitative und das qualitative Wachstum, das wir brauchen und das wir erwarten dürfen, kann nicht dazu führen, aus unserem Land eine Insel zu machen.
Besonders junge Menschen bei uns spüren, daß wirtschaftliches Wachstum nicht eine Einbahnstraße ist. Wachstum im eigenen Land — dies gilt es zu verstehen — legt uns eine Mitverantwortung für andere auf und kann nicht allein zur Mehrung des eigenen Wohlstands verwendet werden.
Für die sozialliberale Koalition bedeutet der Auftrag der Wähler: wir setzen die von Willy Brandt und Walter Scheel begonnene erfolgreiche Politik zur Sicherung des Friedens fort:
Unser Land ist seit über 30 Jahren in keinerlei militärische Auseinandersetzungen verwickelt gewesen. Die ehemaligen Gegner im Westen sind lange schon unsere Verbündeten geworden, und zu den ehemaligen Gegnern im Osten sind wir auf einem breiten Wege zu normaler Nachbarschaft.
Im Inneren halten wir fest an der Politik stetiger Reformen.
Nie zuvor in der Geschichte hat es auf deutschem Boden eine freiere und nie zuvor eine sozial gerechtere Ordnung gegeben.
Daran hat in sieben Legislaturperioden der Deutsche Bundestag und daran haben viele vormalige Bundesregierungen ihren Anteil. Daran haben auch Anteil die der neuen Bundesregierung nicht mehr angehörenden Kolleginnen und Kollegen, denen ich an dieser Stelle sehr herzlich danken möchte.
Der soziale Ausgleich macht unser Volk stark, auch schwierige Aufgaben zu lösen. Wir nehmen die Herausforderungen von außen und im Inneren an. Wir wollen, daß das Leben in unserem Land frei und gerecht und sozial befriedet bleibt.
Ich komme nun zu den ökonomischen Grundlagen, auf denen wir handeln, die unser Leben sehr weitgehend bestimmen. Vorrangige wirtschaftliche Aufgabe der Bundesregierung für die 8. Legislaturperiode ist die Arbeit zur Wiederherstellung und zur Sicherung der Vollbeschäftigung. Die Eindämmung der Arbeitslosigkeit ist nicht nur eine wirtschaftliche Notwendigkeit, sondern ebenso ist sie aus sozialen und menschlichen Gründen unerläßlich. Arbeit ist ein wesentlicher Teil der Selbstverwirklichung des Menschen.
Am 10. November 1976 haben wir ein Arbeitsmarktprogramm in der Höhe von 430 Millionen DM beschlossen, das insgesamt 1,5 Millarden DM zusätzlich für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur
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Verfügung stellt. Wir wollen damit vor allem solchen Personengruppen helfen, die bislang im Schatten der Belebung des Arbeitsmarktes gestanden haben.
Wir stehen auf dem Arbeitsmarkt vor allem vor den folgenden Problemen. Zum ersten werden 1977 rund 760 000 Jugendliche die Schule verlassen und in den Beruf gehen. Das sind 40 000 junge Menschen mehr als noch vor zwei Jahren. Im Jahre 1978 werden es sogar 820 000 Jugendliche sein. Für alle diese jungen Menschen werden Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze benötigt.
Zweitens. Vor allem Frauen, Behinderte und ältere Angestellte sind von den Auswirkungen der Weltrezession besonders betroffen. Wir appellieren an die Verantwortlichen in der Wirtschaft, an die Unternehmensleitungen, an die Betriebsräte, an die Gewerkschaften, sich ihrer sozialen Verantwortung gerade gegenüber diesen eben genannten Personengruppen bewußt zu sein. Wir wissen, daß auch der Staat dazu seinen Beitrag leisten muß, und bitten jedermann, bei diesen Bemühungen die Bundesregierung zu unterstützen.
Zugleich müssen die Entwicklungen am Arbeitsmarkt noch durchsichtiger gemacht werden, damit schneller und gezielter auf sie reagiert werden kann. Die Arbeitsmarktstatistik wird zu diesem Zweck verfeinert werden. Z. B. würden mehr Teilzeitarbeitsplätze nicht nur einem vielfach geäußerten Bedürfnis vieler Arbeitnehmer — vor allem Frauen — entsprechen; sie würden zugleich fühlbar zur Entlastung des Arbeitsmarktes beitragen. Die Bundesregierung wird zusammen mit den Ländern prüfen, welche Möglichkeiten sich hierfür im Rahmen des Arbeitsplatzangebotes im öffentlichen Dienst ergeben, und wir bitten die Tarifpartner, von sich aus das gleiche zu tun.
Entscheidende Voraussetzung für die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung ist jedoch in den nächsten Jahren ein ausreichendes Wirtschaftswachstum bei gleichzeitigem weiteren Stabilitätsfortschritt. Der notwendige neue Wachstumsprozeß ist in Gang gekommen; er wird sich aber nur dann stetig fortsetzen, wenn die Grundlagen unserer Wirtschafts- und Sozialordnung erhalten bleiben und weiter ausgebaut werden. Individuelle Entscheidungsfreiheit, Anerkennung des Leistungsprinzips und Anerkennung des sozialpflichtigen Privateigentums gehören dazu ebenso wie die Ausgleichsfunktionen der öffentlichen Einrichtungen und der gemeinwirtschaftlichen Einrichtungen, eine leistungsfähige öffentliche Infrastruktur und vor allem die Ausgestaltung des Netzes sozialer Sicherungen. Der hierüber in unserer Gesellschaft entstandene Grundkonsens, die Grundübereinstimmung darüber, muß als gemeinsame Basis erhalten bleiben und darf nicht aufs Spiel gesetzt werden.
In diesem Zusammenhang gilt ein besonderer Dank den Gewerkschaften, die realitätsbewußt einen nicht wegzudenkenden Beitrag dazu geleistet haben, daß die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die Arbeitnehmer in der Bundesrepublik in Grenzen gehalten werden konnten.
Das Augenmaß in den Tarifverhandlungen der letzten Jahre hat es bei uns ermöglicht, eine günstigere Kombination von Preisstabilität, Wirtschaftswachstum, Beschäftigungsstand und internationaler Wettbewerbsfähigkeit zu verwirklichen als anderswo in der Welt — eine Kombination, auf die manch anderes Land mit Achtung blickt.
Die Einheitsgewerkschaft — nach dem Kriege von klugen, weitsichtigen Frauen und Männern geschaffen — bewährt sich täglich aufs neue. Die Arbeitnehmer und die Verantwortlichen in Politik, in Wirtschaft und Gesellschaft — und das heißt also auch: die führenden Personen in der Gewerkschaftsbewegung selbst — sollten alles daran setzen, daß die Einheitsgewerkschaft, diese Säule gesellschaftlicher Stabilität, nicht geschwächt, sondern gestärkt wird.
Die Bundesrepublik war bei der Abwehr der Wirtschaftskrise erfolgreich. Die Zunahme der gesamten Wirtschaftstätigkeit — ich spreche vom realen Bruttosozialprodukt — wird in diesem Jahre zwischen 5 % und 6 % liegen. Mit 3,7 % haben wir gegenwärtig zugleich — wie schon seit einiger Zeit — die niedrigste Preissteigerungsrate unter den Ländern der Europäischen Gemeinschaft.
Rein binnenwirtschaftlich spricht vieles dafür, daß dieser Aufschwung weitergeht, daß sich die Investitionen verstärken, daß die Arbeitslosigkeit zurückgeht. Die Erträge haben sich verbessert. Auch die Voraussetzungen auf der Kostenseite sind günstiger geworden. Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie ist — trotz der DM-Aufwertungen — insgesamt gut. Wenn wir in den nächsten Jahren die Vollbeschäftigung wieder erreichen und sichern wollen, brauchen wir allerdings Jahr für Jahr ausreichende Wachstumsraten und ausreichende Arbeitsplatzinvestitionen.
Zur aktuellen Wirtschaftslage in der Bundesrepublik und zu den Aussichten für 1977 wird sich ja im übrigen die Bundesregierung Ende Januar im Rahmen des Jahreswirtschaftsberichts erneut und eingehend äußern. Dieser Bericht wird zeigen, daß wir der weiteren Entwicklung insgesamt zuversichtlich entgegensehen können.
Von ausschlaggebender Bedeutung für die künftige Entwicklung unserer Wirtschaft ist allerdings auch, ob es der Weltwirtschaft gut geht oder nicht. Bereits am 17. Mai 1974 war ein Schwerpunkt in meiner damaligen Regierungserklärung, von den Gefahren aus der Weltwirtschaft zu sprechen. Manchen schien das damals weit hergeholt; die zwischenzeitlichen zweieinhalb Jahre der Erfahrung lassen mich dies heute in Erinnerung rufen. Man muß sich immer vergegenwärtigen: Jeder fünfte Arbeitnehmer lebt mit seiner Familie von der Ausfuhr — oder anders gesagt: Jeder Fünfte lebt von unserem Absatz auf den Märkten der Europäischen Gemeinschaft und der ganzen Welt. Das heißt auch, daß wir von der Nachfrage auf jenen Märkten draußen abhängen, die wir nicht durch Globalsteuerung oder andere Steuerungsmechanismen von hier aus sonderlich beeinflussen können.
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Wenn auch für 1977 weltweit für Wirtschaft und Handel ein weiterer Aufschwung erwartet wird, so ist doch die Lage der Weltwirtschaft zu Beginn der neuen Periode des Deutschen Bundestages auch immer noch durch Unsicherheit gekennzeichnet. Einige wichtige Industrieländer sind durch Ölpreisexplosion und Zahlungsbilanzkrise, durch die Rezession insgesamt, in innenpolitische Schwierigkeiten geraten. Die Zahlungsbilanzkrisen haben sich in einigen Ländern in letzter Zeit verschärft. Die erneut angekündigte Ölpreiserhöhung kann die Weltwirtschaft vor eine neue zusätzliche Belastungsprobe stellen.
Auch klafft zwischen den Staaten der Europäischen Gemeinschaft die wirtschaftliche Entwicklung trotz aller und trotz unserer Bemühungen um Harmonisierung der Wirtschaftspolitik weiter auseinander als je.
Insgesamt stellen wir zur Jahreswende 1976/77 eine leichte Verlangsamung des Aufschwungs draußen in der Welt fest. Die Organisation der Industriestaaten, die OECD, schätzt deshalb neuerdings die Wachstumsaussichten der Industriestaaten der Welt für 1977 etwas weniger günstig ein als noch vor einigen Monaten.
Bei alledem erwartet man außerhalb unserer Grenzen zu Recht von der Bundesrepublik Deutschland, daß sie sich, d. h. daß wir uns verstärkt für die zukünftige Gestaltung der Weltwirtschaft engagieren. Dies lieg natürlich auch in unserem eigenen Interesse.
Wir haben deshalb solchen Ländern, die sich in Zahlungsbilanzschwierigkeiten befinden, im Rahmen unserer eigenen finanziellen Möglichkeiten erheblich geholfen, erneut erst in den allerjüngsten Tagen. Wir haben erheblich geholfen; zum Teil direkt — oder wie man heute sagt: bilateral —, zum Teil gemeinsam mit anderen Staaten — oder wie man heute sagt: multilateral. Die Bundesregierung wird dieser Verantwortung auch in Zukunft gerecht werden. Wir sind und bleiben bereit, uns an multilateralen Zahlungsbilanzhilfen für andere Staaten zu beteiligen, vorausgesetzt, daß die Empfängerländer selbst energische Anstrengungen zur Stärkung der Leistungsfähigkeit ihrer eigenen Volkswirtschaft unternehmen. Wir leisten Hilfe, aber Hilfe zur Selbsthilfe.
Wir werden weiterhin nachdrücklich für eine weltoffene Handelspolitik eintreten und uns in den internationalen Organisationen entschieden gegen Handelsrestriktionen neuer Art wenden. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, daß die derzeitigen multilateralen Handelsverhandlungen im GATT möglichst bald zu einem fühlbaren Abbau noch bestehender Zölle und anderer Handelsschranken führen. Trotz der Rückschläge in den letzten Jahren werden wir unsere Bemühungen um eine Abstimmung der Wirtschafts- und Währungspolitik in der Europäischen Gemeinschaft unvermindert fortsetzen.
Besondere Verantwortung für die Weltkonjunktur haben nun — neben uns — auch die anderen
großen und zum Teil noch größere Industrieländer. Wir stimmen deshalb mit dem neugewählten amerikanischen Präsidenten und den anderen Regierungschefs dieser Länder darin überein, daß wir unsere Beratungen über unser wirtschaftspolitisches Handeln demnächst wieder aufnehmen und fortsetzen werden.
Unsere Volkswirtschaft wird wegen ihrer starken internationalen Verflechtung vom weltwirtschaftlichen Strukturwandel besonders getroffen. Deshalb wird die Bundesregierung bei ihren Entscheidungen der Eingrenzung außenwirtschaftlicher Risiken großes Gewicht beimessen. Dies gilt für unsere internationale Politik wie für unsere Binnenwirtschaftspolitik gleichermaßen.
Wirtschaftswachstum und Strukturwandel erfordern in den nächsten Jahren besondere Anstrengungen zur Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur und zur Verbesserung der Umweltbedingungen schlechthin. Wir werden deshalb 1977 ein mehrjähriges öffentliches Investitionsprogramm zur wachstumspolitischen Vorsorge bereitstellen, das, wenn nötig, in den nächsten Jahren zu einer ausreichenden Entwicklung der investiven Binnennachfrage und damit zu einem nachhaltigen Abbau von Arbeitslosigkeit beitragen wird. Dieses Programm, an dem Länder und Gemeinden beteiligt werden, soll — natürlich im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten — eine Reihe zukunftweisender Investitionen zum Ausbau einer umweltfreundlichen Infrastruktur, zur Verbesserung des Verkehrswesens und zur Erhaltung der natürlichen Lebensbedingungen umfassen. Wir denken dabei z. B. auch an die zukünftige Wasser- und Trinkwasserversorgung unseres Landes, an die vielen Kreuzungen zwischen Bundesbahn und Bundesstraßen, an Anlagen im Bereich unserer Küste genauso wie in anderen strukturschwachen Gebieten.
Die Steuerung der Wirtschaftsstruktur über die Marktkräfte und die staatlichen Rahmenbedingungen wird durch eine zukunftsorientierte, vorausschauende Politik unterstützt werden. Damit sollen der strukturelle Anpassungsprozeß gefördert und soziale Härten, die er mit sich bringt, gemildert werden. Deshalb wird die Bundesregierung zu den strukturpolitischen Fragen zukünftig regelmäßig im Jahreswirtschaftsbericht schriftlich Stellung nehmen. Sie wird das Gespräch darüber im Rahmen der Konzertierten Aktion führen und intensivieren.
Für eine besser koordinierte Industriepolitik wird eine sektorale Strukturberichterstattung entwickelt. Sie soll die wichtigsten Industriesektoren umfassen und mit der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung verzahnt sein. Wir werden wissenschaftliche Forschungsinstitute beauftragen, dafür regelmäßig Branchenanalysen aufzustellen. Sie sollen außerdem die Voraussetzungen für die in eigener Verantwortung aufzustellenden Branchenprognosen in besonders sensiblen Bereichen schaffen.
Daneben bleibt natürlich die Forschungs- und Technologiepolitik eine wichtige Grundlage für die Modernisierung. Deshalb erhalten solche For-
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schungsprogramme Vorrang, die zu allgemein nutzbringenden technischen Neuerungen führen und damit Arbeitsplatzinvestitionen ermöglichen. Im Einzellfall kann nämlich die Erhöhung der Produktivität, die eine Grundvoraussetzung unseres wachsenden Wohlstandes bleibt, auch Arbeitsplätze beseitigen. Eine vorausschauende Forschungs- und Technologiepolitik muß deshalb rechtzeitig Voraussetzungen für neue Beschäftigungsmöglichkeiten erarbeiten.
Die Grundlagenforschung wird ihren vorrangigen Platz behalten. Sie schafft Voraussetzungen für den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt. Forschung und Entwicklung neuer Technologien zur unmittelbaren Verbesserung der Lebensbedingungen der Bürger — z. B. die Programme zur Humanisierung der Arbeit und im Dienste der Gesundheit — werden mit Nachdruck verfolgt.
Ebenso wird in dieser Legislaturperiode die Wettbewerbspolitik ihren hohen Rang behalten. Das ist schon deshalb notwendig, damit ein ausgewogenes Verhältnis zwischen einer breiten Schicht kleiner und mittlerer Betriebe auf der einen Seite und größerer Unternehmen auf der anderen Seite erhalten bleibt.
Die Bundesregierung wird — unter Berücksichtigung des Gutachtens der Monopolkommission — alsbald den Entwurf einer weiteren Novelle zum Kartellgesetz vorlegen.
Eine nicht auf eigener wirtschaftlicher Leistung beruhende Verstärkung der Marktmacht, wie sie aus wettbewerbsschädlichen Unternehmenszusammenschlüssen erwachsen kann, darf unser Wettbewerbsrecht nicht dulden. Das gilt in gleicher Weise für die mißbräuchliche Ausnutzung von Nachfragemacht, insbesondere im Handel.
Deshalb sollen der Leistungswettbewerb besser als bisher gesichert sowie die Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen und die Fusionskontrolle verbessert werden. Deshalb wird auch die unverbindliche Preisempfehlung überprüft werden.
Die Bundesregierung wird zudem nach Vorlage des Berichts der Bankenstrukturkommission prüfen, ob sie eine Änderung des Kreditwesengesetzes vorschlagen soll.
Wirksame Wettbewerbspolitik ist der beste Beitrag, die Existenz der kleinen und mittleren Unternehmen und des Handwerks zu sichern. Darüber hinaus wird die Bundesregierung aber auch ein Gesamtkonzept für Forschungs- und Technologiepolitik für kleine und mittlere Unternehmen vorlegen, um das gerade bei diesen Unternehmen vorhandene Innovationspotential zu aktivieren. Grundlage der Mittelstandspolitik wird das in diesem Jahr vorgelegte
Aktionsprogramm zur Leistungssteigerung dieser Unternehmen sein.
Wir wissen, daß die kleinen und mittleren Unternehmen, die genauso wie die Selbständigen in Handwerk, Handel und Gewerbe unverzichtbare Bestandteile unserer Gesellschaft sind, große Anstrengungen unternehmen mußten, um an den Klippen der Weltwirtschaftsrezession vorbeizusteuern. Sie haben ihre besondere Anpassungsfähigkeit einmal mehr bewiesen.
Es ist zwar wahr, daß die Zahl der Betriebseinstellungen in den letzten beiden Jahren überdurchschnittlich angestiegen ist, aber der Wille zur Gründung neuer selbständiger Existenzen hat keineswegs nachgelassen.
Diesen Willen wollen wir weiterhin fördern, wie wir die Selbständigen ja auch in der hinter uns liegenden schwierigen Phase nicht allein gelassen haben. Ich erinnere an die Konjunkturprogramme, die ERP-Programme und an die Einführung des begrenzten Verlustrücktrages.
Auch die Stellung des Verbrauchers am Markt wird durch die wettbewerbspolitischen Vorhaben dieser Legislaturperiode verstärkt werden. Darüber hinaus werden wir auch bestehende Lücken beim Verbraucherschutz schließen, z. B. durch die Regelung des finanzierten Abzahlungsgeschäftes, durch das Gesetz über den Reiseveranstaltungsvertrag sowie eine Regelung der Produktenhaftung. Es sollen daraus keine unvertretbaren neuen Belastungen der Unternehmen entstehen. Bei der Harmonisierung und Fortentwicklung des Verbraucherschutzes im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft werden wir dafür eintreten, daß das hohe Niveau der deutschen Gesetzgebung auf diesem Gebiet aufrechterhalten bleibt.
Eine wichtige Voraussetzung für sichere Versorgung der Verbraucher mit qualitativ hochwertigen Nahrungsmitteln zu angemessenen Preisen bleibt eine leistungsstarke und anpassungsfähige Landwirtschaft.
Die Bundesregierung stellt den in der Landwirtschaft Tätigen auch weiterhin die Teilnahme an der allgemeinen Einkommens- und Wohlstandsentwicklung in Aussicht.
Die Bundesregierung wird zur Verbesserung der Lebensverhältnisse im ländlichen Raum weiterhin beitragen. Dabei sind die Erhaltung einer ausgewogenen Siedlungsstruktur sowie die Verbesserung der Freizeit- und Erholungsmöglichkeiten für alle von Bedeutung.
Die Bundesregierung wird im Rahmen ihrer Umweltpolitik deshalb ebenso ihre Bemühungen zur Verbesserung von Naturschutz und Landschaftspflege fortsetzen.
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In der EG-Agrarpolitik hat, entsprechend der vom Ministerrat verabschiedeten Bestandsaufnahme, die Wiederherstellung des Marktgleichgewichts Priorität. Die Bundesregierung tritt auch künftig für eine pragmatische Anpassung des Währungsausgleichs mit dem Ziel der Kosteneinsparung ein.
Ich gehe über zur Energiepolitik. Hier gilt es, die Versorgung sicherer zu machen und einseitige Abhängigkeiten, insbesondere vom eingeführten Erdöl und Erdgas, zu begrenzen und zu verringern. Gleichzeitig müssen die Entwicklung der Energiekosten und sparsamer Energieverbrauch helfen, unsere Volkswirtschaft wettbewerbsfähig zu erhalten. Wir werden 1977 eine zweite Fortschreibung des Energieprogramms vorlegen.
Sicher ist dabei, daß der deutsche Steinkohlenbergbau auch in Zukunft eine wichtige Rolle in unserer Energieversorgung spielen muß.
Heimische Steinkohle und heimische Braunkohle sind und bleiben wichtige Elemente unserer Energieversorgung. Durch moderne Betriebsausrüstungen entstehen gerade im Steinkohlenbergbau neuartige Arbeitsplätze von ganz besonderer Qualifikation.
Die Bundesregierung geht davon aus, daß der Einsatz von Kraftwerkskohle möglichst bald durch eine mehrjährige vertragliche Regelung zwischen Steinkohlenbergbau und Elektrizitätswirtschaft abgesichert wird.
Der Bau neuer Kohlekraftwerke ist besonders wichtig.
Dabei ist auch die Entwicklung neuer Kraftwerkstechnologien erforderlich.
In der Mineralölpolitik wird die Bundesregierung ihr Programm zur Erschließung eigener Rohölquellen fortsetzen. Die Bundesrohölreserve wird weiter aufgebaut. Die Wettbewerbsverzerrungen in der Pflichtbevorratung sollen möglichst bald beseitigt werden.
Meine Damen und Herren, auf den Ausbau auch der Kernenergie kann nicht verzichtet werden. Kernenergie bleibt zur Deckung des vorhersehbaren Strombedarfs notwendig und unerläßlich. Ohne ihren Beitrag wäre es auch nicht möglich, die Energieträger so vielfältig einzusetzen, wie es im Interesse der Sicherheit unserer Stromversorgung geboten ist.
Dabei wird allerdings die Kernenergie zukünftig die vollen Kosten für den geschlossenen Brennstoffkreislauf bis hin zur Entsorgung über den Strompreis decken müssen.
Bei der Kernenergie richten wir das Augenmerk vor allem auf die folgenden Punkte: Zum einen muß die Betriebssicherheit Vorrang vor allen wirtschaftlichen Erwägungen haben.
Zum anderen müssen wir dafür sorgen, daß die In-
teressen der Bürger bei Planungs- und Genehmigungsverfahren durch frühzeitige Information und Beteiligung gewahrt werden. Die Bundesregierung prüft deshalb die Möglichkeit der Einführung einer praktikablen Form der Verbandsklage im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren.
Die Bundesregierung hält die bisherige regelmäßige Praxis, den Bau von Kernkraftwerken ungeachtet der Einwendungen durch sofortigen Vollzug zu beginnen, für unbefriedigend; denn der Bürger kann diese Handhabung als ein Instrument mißverstehen, das ihn tatsächlich in der Wahrnehmung seiner Rechte beschneidet.
Die Bundesregierung wird daher im Zusammenwirken mit den Ländern und im Gespräch mit der Wirtschaft darauf hinwirken, daß das Verfahren zukünftig so gehandhabt wird, daß der Ausgleich zwischen berechtigten Begehren betroffener Bürger und ihren durch Gesetz gewährten Rechten einerseits und den energiepolitischen Notwendigkeiten des konkreten Projekts andererseits wirklich hergestellt werden kann.
Die Absprache zwischen dem Bund und dem Land Niedersachsen über den Standort der Entsorgungsanlage ist ein weiterer Schritt zur Lösung des Entsorgungsproblems. Die Wirtschaftsunternehmen müssen jetzt die noch offenen finanziellen und organisatorischen Fragen klären und das Entsorgungskonzept zur Beurteilung der Sicherheitsauflagen vorlegen. Die Bundesregierung will bei der Genehmigung von Kraftwerken — wiederum gemeinsam mit den Ländern — dafür sorgen, daß die Errichtung neuer Kraftwerke nur noch dann genehmigt wird, wenn für sie die Entsorgung hinreichend sichergestellt ist.
Bei schon in Bau oder in Betrieb befindlichen Anlagen muß die gesicherte Entsorgung in angemessener Frist nachgewiesen werden.
Gleichzeitig mit den Maßnahmen zur Verbesserung des Energieangebots insgesamt werden die Bemühungen um verstärkte Energieeinsparung und die nichtnukleare Energieforschung intensiviert werden.
Die Bundesregierung beabsichtigt, das Energiewirtschaftsgesetz zu novellieren und dabei insbesondere die Aufsicht über die Versorgungswirtschaft zu straffen. Der Entwurf eines Bundesberggesetzes wird neu eingebracht werden.
Die Bundesregierung wird übrigens darauf hinwirken, daß die Standortplanung für umweltbelastende und raumbeanspruchende Großanlagen im Rahmen der Landesplanung und der Bundesraumordnung rechtzeitig gemeinsam von Bundesregierung und Landesregierungen beraten und abgestimmt wird und damit eine frühzeitige und notwendige Diskussion mit Gemeinden und Bürgern ermöglicht wird.
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Nun sind im Zusammenhang mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie — aber das gilt auch für konventionelle Kraftwerke wie für andere industrielle Großanlagen — mancherorts Besorgnisse bei Bürgern aufgetaucht. Solche Sorgen, die sich vielfach in Protestaktionen auswirken, müssen ernst genommen werden. Protestbewegungen haben Anspruch auf faire Behandlung durch die staatlichen Organe,
und sie dürfen selbst dann nicht ins gesellschaftliche Abseits gestellt werden, wenn sich auch Extremisten oder Rowdies daran beteiligen.
Wer das täte, der diskreditierte das Bürgerrecht auf Protest und arbeitete den Extremisten in die Hände.
Andererseits: Wo sich Extremisten und Chaoten in Bürgerinitiativen und Protestgruppen einschleichen und sie damit kompromittieren, dort erwarten wir klare Trennungsstriche! Bei uns darf jeder demonstrieren, aber niemand darf demolieren.
In der Verkehrspolitik wird der stetige und erfolgreiche Ausbau aller Verkehrswege fortgesetzt werden. In der kommenden Legislaturperiode werden etwa 40 Milliarden DM investiert werden. Das bedeutet nicht nur abermals schnellere und sicherere Verkehrsbedingungen, sondern neben vielen tausend gesicherten Arbeitsplätzen auch den Ausbau der Infrastruktur.
Eine besondere Aufgabe liegt immer wieder darin, die Deutsche Bundesbahn so zu gestalten, daß sie langfristig einen gesicherten Platz in unserem Verkehrssystem behält.
Nach Abschluß der laufenden Vorbereitungsmaßnahmen wird die Bundesregierung einen Leistungsauftrag an die Bundesbahn formulieren, der der veränderten Nachfrage, der Anpassungsfähigkeit der Bahn und der Belastbarkeit sowohl des Bundeshaushalts als auch des Steuerzahlers Rechnung trägt. Dabei müssen betriebswirtschaftliche, regionalpolitische, raumordnerische und gesellschaftspolitische Erfordernisse in ein vernünftiges Verhältnis zueinander gebracht werden. Unsere Eisenbahner wissen am besten, daß ihre Zukunft nur in einem gesunden Unternehmen gesichert werden kann.
Gegenwärtig wird der Bundeshaushalt durch Zahlungen an die Bundesbahn mit gut 10 Milliarden DM jährlich belastet. Diese Belastung muß durch energische Rationalisierung und stärkere Anpassung des Angebots an die Nachfrage verringert werden.
Sicher ist: Die Bundesbahn darf den Steuerzahler nicht überfordern. Sicher ist aber auch: Auf unsere Bahn, die eine der besten in der Welt ist, können wir nicht verzichten.
Vom öffentlichen Personenverkehr erwarten wir, daß er sich auch im Interesse der Stadtentwicklung weiter um attraktive und wirtschaftliche Angebote bemüht.
Die Deutsche Bundespost wird durch konsequente Weiterführung der eingeleiteten Rationalisierungsmaßnahmen und durch Modernisierung des Dienstleistungsangebots den mit großem Erfolg beschrittenen Weg fortsetzen. Sie soll in ihrer bisherigen Rechtsform weitergeführt werden. Die Regelungen des Postverwaltungsgesetzes zum Haushalts- und Finanzwesen der Post sollen überarbeitet werden.
Der Kurs unserer Haushaltspolitik ist deutlich: Wir haben in der Rezession antizyklische Finanzpolitik betrieben. Die Hinnahme hoher Defizite aus zusätzlicher Leistung bei zurückbleibenden Einnahmen war volkswirtschaftlich notwendig. Nunmehr muß die bereits im Herbst des letzten Jahres eingeleitete Konsolidierung aller öffentlichen Haushalte fortgesetzt werden. Das gilt für den Bund, für die Länder und für die Gemeinden. Noch mehr als die bisher notwendige Hinnahme hoher Defizite bedarf nunmehr auch deren spürbarer Abbau einer gemeinsamen Kraftanstrengung auf allen drei Ebenen. Hierzu gehört auch die gerechte Verteilung der Steuereinnahmen, um die wir uns im nächsten Jahr in der Auseinandersetzung mit den Ländern bemühen werden.
Allerdings: wer die Finanzpolitik in den Dienst ökonomischer und sozialer Stabilität stellen will, der muß die öffentlichen Haushalte als Instrument wirkungsvoller öffentlicher Leistungen erhalten und fortentwickeln. Moderne Finanz- und Haushaltspolitik beschränkt den Staat am Kapitalmarkt nicht nur auf die Lücken, die andere Nachfrager übriglassen. Das heißt: Für eine gewisse Neuverschuldung, die allerdings deutlich niedriger liegen muß als bisher, muß und wird auch bei hohem Beschäftigungsstand wiederum Platz sein.
Das Bemühen um Konsolidierung schließt die ständige Uberprüfung alter und neuer ausgabenwirksamer Vorhaben auf ihre Notwendigkeit und auf ihre Wirksamkeit ein. Der Rahmen für Neues wird gering bleiben.
Um die öffentlichen Haushalte von Bund und Ländern dauerhaft zu konsolidieren und den erforderlichen Handlungsspielraum wiederzugewinnen, hatten wir eine baldige Erhöhung der Mehrwertsteuer angestrebt. Nach der Entscheidung, die uns von den Ländern mitgeteilt worden ist, müssen wir nunmehr die Erhöhung der Mehrwertsteuer zum 1. Januar 1978 anstreben.
Im Zusammenhang mit dieser Erhöhung der Mehrwertsteuer zum 1. Januar 1978 wird des weiteren das Folgende angestrebt: a) eine Verbesserung des Kindergeldes für Familien mit mehreren Kindern; b) Erleichterungen bei der Lohn- und Einkommensteuer zugunsten unterhaltsverpflichteter geschiedener und getrennt lebender Eltern sowie unterhaltsverpflichteter Eltern nichtehelicher Kinder; c) eine Anhebung der Sonderausgabenhöchstbeträge bei der Lohn- und Einkommensteuer. d) Mit derselben Bindung an eine Erhöhung der Mehrwertsteuer beabsichtigt die Bun-
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desregierung ferner gewisse Entlastungen im Bereiche ertragsunabhängiger Steuern. Hierzu gehören eine Senkung der Vermögensteuersätze für juristische und natürliche Personen sowie eine Ermäßigung der Gewerbesteuerbelastung mit Schwerpunkt bei den ertragsunabhängigen Teilen dieser Steuer.
Die Bundesregierung unterstreicht auch damit das Gewicht, das sie der Förderung des Behauptungs-
und Leistungswillens der Selbständigen, der kleinen und mittleren Unternehmen beimißt.
Sie wird übrigens den gesetzgebenden Körperschaften auf dem Gebiet der Steuerpolitik ferner eine Ausdehnung der Sonderabschreibung nach § 7 b des Einkommensteuergesetzes auf eigengenutzte Altbauwohnungen und alte Wohngebäude vorschlagen
und in Verbindung damit den Wegfall der Grunderwerbsteuer beim Erwerb eigengenutzter Altbauwohnungen oder alter Wohngebäude.
Damit soll den erfolgreichen wohnungsbau- und vermögenspolitischen Instrumenten ein weiterer Anwendungsbereich erschlossen werden.
Wir gehen davon aus, daß die Auswirkungen steuerlicher Erleichterungen gemäß den Grundsätzen des Artikels 106 des Grundgesetzes von allen Gebietskörperschaften zu tragen sein werden. Das gilt auch für die Erhöhung des Kindergeldes.
Ich will aber auch klar feststellen, daß die Regierung — und da ist dann der Tarifbericht einzubeziehen, der dem Bundestag vorzulegen sein wird — keine Möglichkeit sieht, Vorschläge für weitere Steuersenkungen zu realisieren. Die Regierung wird solche Forderungen mit den ihr gegebenen Möglichkeiten abwehren. Dies bedeutet auch: Steuererleichterungen z. B. auf dem Gebiete der Abschreibungen, die heutigen Investoren einen Aufschub ihrer für 1977 geplanten Investitionen auf einen späteren Zeitpunkt lohnend erscheinen lassen könnten, sind nicht beabsichtigt.
Entscheidend für die Einkommenslage der privaten Haushalte ist heute vielfach, welche staatlichen Geldleistungen sie insgesamt erhalten, also Wohngeld, BAföG usw., Transferleistungen, wie die Fachleute das nennen, und welche Steuern und Abgaben sie bezahlen. Die Bundesregierung wird deshalb eine Transfer-Enquête-Kommission berufen, die den Einfluß staatlicher Transfereinkommen — auch durch unkoordinierte Einkommensgrenzen in verschiedenen Gesetzen auf die insgesamt verfügbaren Einkommen verschiedener Haushalte ermitteln und Vorschläge zu einer besseren Abstimmung machen soll.
In der Vermögenspolitik möchten wir die Tarifvertragspartner auffordern, den noch nicht voll ausgeschöpften Rahmen des 624-DM-Gesetzes voll zu nutzen. Sobald es tarifpolitisch notwendig erscheint, werden wir eine Ausweitung des Begünstigungsrahmens des Dritten Vermögensbildungsgesetzes auf 936 DM vorschlagen, ohne dabei die staatlichen Gesamtaufwendungen für die Sparförderung zu erhöhen.
Unabhängig davon soll der Anlagekatalog des Gesetzes erweitert werden, um verstärkt auch Beteiligungen in Unternehmen zu ermöglichen, und sollen die der Anwendung dieses Gesetzes auf Beteiligungsformen entgegenstehenden steuerlichen Hemmnisse beseitigt werden.
Nun zu den gesellschaftlichen Problemen im Innern:
Unser Volk wird in den kommenden Jahren mehr Solidarität, noch mehr Solidarität zwischen den Generationen nötig haben, um die neuen Aufgaben lösen zu können, die sich unter anderem aus der weiteren Bevölkerungsentwicklung ergeben.
Seit mehr als zehn Jahren ist die Zahl der Geburten rückläufig. Zugleich sind einzelne Altersgruppen sehr unterschiedlich besetzt. Zusammen mit den Spätfolgen der beiden Weltkriege verursacht dies erhebliche Schwankungen im Bevölkerungsaufbau.
Ich habe das Problem der geburtenstarken Jahrgänge bereits genannt: 1985 werden über zweieinhalb Millionen Menschen mehr im erwerbsfähigen Alter stehen als heute. Mehr Menschen brauchen dann Ausbildung und Arbeit.
Dagegen nimmt beispielsweise die Zahl der unter 25jährigen bis 1990 voraussichtlich um beinahe 5 Millionen Menschen ab. In den 80er Jahren wird der jährliche Neuzugang an Neurentnern später wieder ansteigen, der zunächst abfällt. Das sind alles Verschiebungen im gesamten Generationsgefüge unseres sozialen Aufbaus mit entsprechenden Verschiebungen der Anforderungen an alle unsere Einrichtungen.
Es ist bis 1982 mit einer Zunahme der Lehrstellen-suchenden und der Schüler in der Oberstufe der Gymnasien zu rechnen. An den Hochschulen wird der voraussichtliche Höhepunkt der Nachfrage erst 1985 oder später erreicht werden.
Nun kann es sich kein Volk leisten, seine Begabungsreserven zu vernachlässigen. Dies ist nicht nur ein Gebot der Vernunft, sondern auch der Solidarität. Die Reformpolitik der sozialliberalen Koalition hat seit 1969 auf diesem Felde unbestreitbare Erfolge gebracht: Die Bildungschancen sind größer geworden. Zum Beispiel erhalten Arbeiterkinder heute eine eindeutig bessere Ausbildung als noch vor zehn Jahren.
Die Zahl der ungelernten Jugendlichen hat sich halbiert.
Heute machen über 20 °/o eines Geburtsjahrganges das Abitur oder einen vergleichbaren Abschluß. Vor 50 Jahren, als die Schule noch Ausdruck einer ständisch gegliederten Gesellschaft war, absolvierten gerade 4 °/o das Gymnasium, aber 82 % die Volksschule. Dies hat sich gerade im Laufe der letzten zehn Jahre ganz gründlich geändert.
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Bundeskanzler Schmidt
Durch gemeinsame Anstrengungen von Bund und Ländern sind die Hochschulen enorm ausgebaut worden.
Angesichts dieser Entwicklung meinen manche heute, wir produzierten zu viele gut Ausgebildete. Solche Urteile verkennen dabei die Zukunftsvoraussetzungen dieses hochentwickelten Industrielandes, das sich unter den Bedingungen neuer weltwirtschaftlicher Arbeitsteilung behaupten muß. Für uns bedeutet das, daß wir steigende Qualifikationen der Erwerbstätigen brauchen. Ein wirkliches Risiko für unser Land wäre Unterqualifikation.
Das gilt nicht nur aus wirtschaftspolitischen Erwägungen. Es wäre auch menschlich nicht zu vertreten, wenn schon im frühen Lebensalter schematisch und ohne Rücksicht auf Neigungen und Fähigkeiten über die weiteren Bildungs- und Lebenschancen von Kindern entschieden würde.
Allerdings muß auch deutlich angemerkt werden, daß sich im Bildungswesen Ungleichgewichte abgezeichnet haben, die viele Eltern und viele Jugendliche beunruhigen. Das Zurückbleiben der Hauptschule, der Unterrichtsausfall, die Streßsituation vieler Schüler, die Verzögerung der Studienreform, die Sorge um Ausbildungs- und Studienplätze in der Zeit geburtenstarker Jahrgänge, all dies wird mit Recht kritisiert. Es gibt einen besonderen Nachholbedarf in der beruflichen Bildung, und es gibt vielfältig auch Mangel inhaltlicher Reformen auf allen Stufen des Bildungswesens.
Diese kritischen Fragen können hier im Bundestag nicht ausgeklammert werden, auch wenn der Bundestag und wenn die Bundesregierung im Vergleich zu den Ländern auf all diesen Feldern nur ganz geringe Kompetenzen besitzen. Sie können deshalb nicht ausgeklammert werden, weil es sich hier um gesamtstaatliche Verantwortung handelt, von der wir zu reden haben.
Wir bejahen den Wettbewerb unter den Ländern um Verbesserungen im Bildungswesen. Aber viele Menschen verstehen nicht, daß ihre Kinder schulisch und beruflich benachteiligt werden, weil es keine gesamtstaatlich gleichen Bedingungen in unserem Lande gibt,
verstehen nicht, daß Abschlüsse von Schulen und Hochschulen nicht immer gegenseitig anerkannt werden,
verstehen nicht, daß Zeiten der Schulpflicht in einzelnen Ländern abweichend voneinander geregelt sind.
Auch bei der Abstimmung von Ausbildungsinhalten in der beruflichen Bildung liegt vieles im argen.
Die Rechtsprechung und die Landesparlamente fordern nun zunehmend gesetzliche Regelungen an Stelle der bisher geübten, sehr komplizierten Vereinbarungspraxis zwischen den Ländern. Angesichts
der tatsächlichen Erfahrungen der Eltern und der jungen Menschen ist ernsthaft zu prüfen, ob und wie die Notwendigkeit einheitlicher Lebensverhältnisse im ganzen Bundesgebiet bundesgesetzliche Regelungen sinnvoll erscheinen läßt.
Die Bundesregierung tritt jedenfalls nachdrücklich für eine Stärkung der gesamtstaatlichen Verantwortung für die Strukturen des Bildungswesens ein.
Gegenwärtig bestehen Besorgnisse hinsichtlich der Aufrechterhaltung einheitlicher Lebensverhältnisse vor allen Dingen auf den folgenden Gebieten:
1. bei der Gestaltung des Zugangs zu den einzelnen Stufen des Bildungssystems,
2. bei der Bewertung und Anerkennung von Abschlüssen,
3. bei der Regelung der Dauer der Bildungsgänge und insbesondere der Schulpflicht,
4. bei der inhaltlichen Ordnung der beruflichen Bildung, um länderseitige Rahmenlehrpläne für die Berufsschulen und bundeseinheitliche Ausbildungsordnungen — sprich: Berufsbilder — für die Betriebe aufeinander abzustimmen,
5. in der Lehrerausbildung, die durch zu große Unterschiede von Land zu Land gekennzeichnet ist.
Wir werden dem Bundestag in einem Jahr einen Bericht über die strukturellen Mängel unseres föderativen Bildungssystems in diesen Bereichen vorlegen. Die Regierung wird damit, soweit erforderlich, auch Vorschläge für eine Änderung von Bildungskompetenzen zugunsten einheitlicher Lebensbedingungen in unserem Bundesstaate verbinden.
Die berufliche Bildung zu fördern bleibt eine zentrale politische Aufgabe der Bundesregierung. Sie kann sich dabei auf die neuen Möglichkeiten des Ausbildungsplatzförderungsgesetzes und auf die mit ihm begründeten Möglichkeiten einer besseren Zusammenarbeit aller Beteiligten stützen.
Die Steuerbefreiung der Prämien nach diesem Gesetz wollen wir unverzüglich gesetzlich regeln.
Bei dem Ausbildungsplatzangebot der nächsten Jahre wollen wir unser Augenmerk besonders auf jene jungen Menschen richten, die es schwerer haben als andere, einen Ausbildungsplatz zu finden. Z. B. bleiben heute in der ganzen Bundesrepublik über 17 % der Hauptschüler ohne Hauptschulabschluß. Diese jungen Menschen, aber auch die Sonderschüler, die Jugendlichen im Strafvollzug und in der Erziehungshilfe sowie die behinderten Jugendlichen brauchen spezifische berufliche Bildungsangebote.
In der Aufgabe, diesen Jugendlichen zu helfen, sind sich 1976 Bundestag und Bundesrat einig gewesen. Darum sollten wir daraus auch gemeinsam die notwendigen gesetzgeberischen Konsequenzen ziehen.
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Bundeskanzler Schmidt
In Gesprächen mit den Ländern wird sich die Bundesregierung im übrigen für die Einführung eines Berufsgrundbildungsjahres für alle Schüler einsetzen und dem den Vorrang vor einem zehnten allgemeinbildenden Hauptschuljahr geben.
Wir betonen auch die Notwendigkeit, durch Weiterbildung Mängel der Erstausbildung und Risiken im Arbeitsleben zu mindern. Die Weiterbildung wird an Bedeutung gewinnen müssen.
Was die Hochschulen angeht, so haben wir uns, wenn unsere Kompetenzen auch recht begrenzt sind, für den Abbau des Numerus clausus engagiert; wir werden das weiterhin tun. Der Numerus clausus hat bis in die Schulen hinein zu einem die Jugendlichen und die Familien belastenden Konkurrenzkampf geführt. Er hat in die Konkurrenzschule geführt.
Der Wettbewerb ist eine gute Sache, aber er gehört an die richtige Stelle. Wenn jedoch Konkurrenz schon in der Schule zu Streß und Leistungsdruck führt, dann wird die Erziehung zur Gemeinschaft, aber auch die Erziehung zum kritischen Selbstbewußtsein des einzelnen jungen Menschen erstickt.
Wir treten deshalb mit Nachdruck für die Öffnung der Hochschulen ein. Aber jeder junge Mensch muß dabei auch wissen, daß ein akademischer Abschluß keineswegs eine Garantie sein kann, lebenslang mehr zu verdienen als ein Facharbeiter.
Was einer verdienen kann, erweist sich auf Grund seiner Leistung im Beruf. Dem hat auch die Besoldungs- und Laufbahnstruktur im öffentlichen Dienst zu entsprechen.
Der öffentliche Dienst kann übrigens — das sei hier sehr deutlich ausgesprochen — keineswegs alle Hochschulabsolventen aufnehmen. Das hat er auch in der Vergangenheit nie getan.
Die Konsequenzen, die sich aus der Notwendigkeit der Integration der geburtenstarken Jahrgänge in Bildung und Beruf ergeben, müssen auch in den Hochschulen gezogen werden. Die Länder und auch die Hochschulen müssen die Studienreform zügig voranbringen, nicht nur um die Studiendauer zu verkürzen, sondern auch um das Studienangebot besser zu ordnen und damit den Übergang vom Bildungssystem in das Beschäftigungssystem für die jungen Menschen zu erleichtern. Die Hochschulkapazitäten müssen über den ganzen Tag und über das ganze Jahr hin voll genutzt werden.
Die Bundesregierung wird im nächsten Jahr die Ausbildungsförderung verbessern, die stärker auf soziale Kriterien und mehr auf Darlehnsförderung ausgerichtet sein wird.
Wir möchten auch alle gesellschaftlichen Kräfte auffordern, dabei mitzuhelfen, daß unser Land kinderfreundlicher wird und daß es die Familen mit Kindern insgesamt auf vielen Feldern leichter haben als bisher.
Die Lebensbedingungen hierzulande werden in zunehmender Weise als nicht kinderfreundlich angesehen.
Als unseren Beitrag zur Förderung der Familien werden wir — ich habe dies schon kurz berührt — dem Gesetzgeber vorschlagen, das Kindergeld für das zweite Kind auf 80 DM und für jedes weitere Kind — jedes dritte, vierte Kind usw. — von 120 auf 150 DM zu erhöhen. Voraussetzung für diese große zusätzliche Haushaltsbelastung ist allerdings die Mehrwertsteueranhebung, von der ich sprach.
— Wer darüber lacht, muß sich ja wohl sehr sicher fühlen, daß er in der Oppositionsfraktion das „Dukatenmännchen" zur Verfügung hat, das wir leider, auch mit noch so viel Energie und noch so viel Anstrengung, nicht hier auf die Regierungsbank setzen können, sondern wir können immer nur das Geld ausgeben, das andere vorher verdient haben.
— Jawohl! Wir können an Kindergeld nur das ausgeben, was andere vorher verdient haben. Aber ich bin gespannt auf die Reden der Oppositionsführer, die uns erklären werden, wie sie Geld ausgeben wollen, das sie weder durch Steuern einnehmen noch durch Kredite einnehmen, sondern offenbar aus der Luft zaubern wollen. Das werden wir ja morgen zu hören kriegen.
Wir möchten — dies gleichzeitig zum Stichwort Familien mit Kindern — die Unterhaltsleistungen für Kinder von alleinstehenden Erziehungsberechtigten sichern, und wir möchten zur Stärkung der Familien auch die Anpassung des Wohngeldes zum 1. Januar 1978 rechnen. Wir werden ebenso in dieser Wahlperiode die überfällige Reform des Jugendhilferechts aufgreifen,
wobei der Kosten wegen ein Stufenplan vorgesehen ist. Diese Reform kann nur in Abstimmung mit den Verbänden, den Gemeinden und den Ländern gelingen.
Ein Wort zu den Frauen, die in unserer Gesellschaft noch zahlreichen Benachteiligungen ausgesetzt sind, die wir Schritt für Schritt weiter verringern, abbauen wollen. Im Arbeitsleben ist der Mangel an Gleichberechtigung für die fast 10 Millionen erwerbstätigen Frauen offenkundig. Häufig arbeiten sie in krisenanfälligen Berufen. Arbeitslosigkeit trifft sie häufig am ehesten und am längsten. Zu viele Mädchen und Frauen bleiben ohne qualifizierte Ausbildung und sind bei Entlassungen besonders gefährdet.
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Bundeskanzler Schmidt
Wir müssen dahin kommen — und das möchte ich den Eltern besonders ans Herz legen —, daß Berufsausbildung für Mädchen genauso selbstverständlich wird, wie sie für Jungen ist.
Das heißt aber auch, daß den Mädchen mehr Berufe als bisher offenstehen müssen. Bisher müssen noch zu viele Mädchen ungelernte Berufe ergreifen. Ihnen sollten vor allem auch die breiten Möglichkeiten des gewerblich-technischen Bereichs offenstehen. Das geht nicht ohne die Mithilfe der Betriebe, die bereit sein müssen, den Mädchen solche Ausbildungsplätze anzubieten, und es geht nicht ohne eine gezielte Beratung und Förderung bei der Arbeitsvermittlung.
Auf der anderen Seite hat die Diskussion über die Probleme der erwerbstätigen Frauen bisweilen den Blick auf die Leistungen der ausschließlich in ihrer Familie tätigen Frau verstellt. Mit der Kindererziehung, aber auch mit der Betreuung alter oder pflegebedürftiger Verwandter übernehmen viele dieser Frauen Aufgaben, die der beruflichen Tätigkeit gleichwertig sind.
Dies hat jedenfalls der Gesetzgeber bei der Reform des Eherechts anerkannt. Aber es ist zu fragen, wie wir den Hausfrauen und Müttern helfen können, sich insbesondere dann, wenn die Kinder aus dem Haus sind, in der Gesellschaft zu engagieren oder in ihr tätig zu werden. Hier ist ein wertvoller Schatz an Lebenserfahrung ungenutzt, und er sollte, sei es im Beruf, sei es im ehrenamtlichen Engagement, genutzt werden.
An dieser Stelle möchten wir den ehrenamtlich tätigen Frauen für die Millionen Arbeitsstunden danken, die sie für uns alle in Nachbarschaftshilfe, in der Behinderten- und Altenpflege, aber auch in öffentlichen Ausschüssen und Räten und Bürgerinitiativen für diese Gesellschaft leisten.
Der Bundestag und die Regierung werden sich in den nächsten acht Jahren anstrengen müssen, um die in der sozialen Sicherung zu Lasten der Frauen bestehenden Ungerechtigkeiten abzubauen und schließlich eine ausgewogene Alterssicherung für alle Frauen zu erreichen. Mit dem Versorgungsausgleich im Eherecht ist ein erster wichtiger Schritt getan. Wir müssen die uns vom Bundesverfassungsgericht aufgegebene Überprüfung der Hinterbliebenenrenten hier einbeziehen; Sie kennen das vom Gericht gesetzte Datum 1984. Dies wird eine viele Bereiche zugleich umfassende Aufgabe, für die eine breite Vorbereitung notwendig ist. Daran müssen viele beteiligt werden: die Politik, die Wissenschaft, die Kirchen, die Gewerkschaften, die Verbände. Die Bundesregierung wird dafür sorgen, daß diese schwierigen Probleme von allen Seiten sachverständig ausgelotet werden können, damit in der 9. Wahlperiode des Deutschen Bundestages hierzu ein Gesamtkonzept vorliegen kann.
Ich habe über die Rentenversicherung schon gesprochen, will aber hinzufügen, daß Alter natürlich nicht nur eine Frage der Rentenversicherung ist, sondern zugleich eine Frage des Miteinander. Die Solidarität der Jüngeren ist gefragt. Wir müssen der Vereinsamung mancher alter Menschen begegnen und sie stärker in Familien und Gemeinschaft einbeziehen. Es fehlt an altengerechten Wohnungen. Es fehlt auch an Wohnungen, die es Familien leichter möglich machen, die Großmutter oder den Großvater bei sich zu haben.
Vor allem müssen wir die Selbständigkeit der alten Menschen möglichst lange erhalten und stärken. Wir brauchen dazu mehr ambulante Dienste, auch solche, die über Versorgung mit Essen und Einkaufshilfe und häusliche Pflege hinausgehen.
Vor sieben Jahren haben wir 9,5 °/o unseres Volkseinkommens für Gesundheit ausgegeben. Heute sind es praktisch 14 % des Volkseinkommens. Das heißt, im Durchschnitt gibt jeder von uns im Jahr weit mehr als ein ganzes Monatsgehalt für seine Gesundheit aus. Es ist richtig: der Gesundheitsschutz ist heute besser als je zuvor. Es gibt -für die ganze Bundesrepublik gesehen — ausreichend Krankenhausbetten; kein Kranker muß mehr auf dem Korridor liegen. Aber insgesamt ist der Anstieg der Kosten für Krankheit und Gesundheitsvorsorge zu steil gewesen. Unser modernes Gesundheitswesen kann nur leistungsfähig gehalten werden, wenn sparsamer gewirtschaftet wird. Deshalb müssen alle Beteiligten zur Dämpfung dieses Kostenanstiegs beitragen. Das wird auch diesen Bundestag vor schwierige Aufgaben stellen.
Die Krankenkassen können und müssen in vielen Fällen ihre Verwaltung verbessern. Die Bemessungsgrundlagen von Renten- und Krankenversicherung sollen harmonisiert werden. Das heißt, die Beitragsbemessungsgrenze der Krankenversicherung wird von 75 °/o auf 100 0/0 der Rentenversicherungsgrenze erhöht, und zwischen den Krankenkassen soll ein gesetzlicher Belastungsausgleich auf der Grundlage der verschiedenen Rentnerdichte stattfinden.
Wir brauchen auch eine bessere Krankenhausbedarfsplanung, bei der die Krankenkassen und die Krankenhausträger mitsprechen können müssen.
Ebenso hoffen wir, daß künftig zwischen Krankenhäusern und Kassen frei zu vereinbarende Krankenhauspflegesätze zur Kostenentlastung beitragen.
Bei uns werden die Patienten oft zu lange im Krankenhaus behalten. Deshalb muß der wirtschaftliche Anreiz für eine medizinisch nicht notwendige zu lange Verweildauer wegfallen.
Ebenso müssen die ärztliche Versorgung im Krankenhaus und die in der ambulanten Praxis besser miteinander verbunden werden. Es ist im Interesse der Patienten wie im Interesse der Kostenersparnis,
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Bundeskanzler Schmidt
daß Doppeluntersuchungen in Zukunft vermieden werden.
Wer in der vorigen Woche vom praktizierenden Röntgenfacharzt geröntgt werden mußte und sein Bild mitbringt, muß nicht diese Woche erneut im Krankenhaus geröntgt werden.
Die Vereinbarung der Arzthonorare ist und bleibt Sache der Selbstverwaltung. Die Spitzenverbände der Krankenkassen einschließlich der Ersatzkassen sollen jährlich gemeinsam mit den Bundesvereinigungen der Kassenärzte eine Empfehlung zur Angemessenheit der ärztlichen Vergütung geben, und dabei müssen sich die Arzthonorare an der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung orientieren.
Die ärztliche Gebührenordnung soll nach dem Grundsatz leistungsgerechter Bezahlung neu gestaltet werden, wobei der Anreiz zu übersteigerten technischen Leistungen fortfallen soll.
Ferner sollen die ärztliche Verordnung und der Verbrauch von Arzneimitteln in Grenzen gehalten werden. Hierbei muß im übrigen auch der Arzneimittelmarkt durchsichtiger gemacht werden.
Meine Damen und Herren, Not bedeutet in unserem Lande nicht Hunger. Aber Not ist vielfach eben doch auch Einsamkeit und Hilflosigkeit, ist das Fremdsein derer, die aus eigener Kraft nur schwer in dieser an Leistung sich orientierenden Gesellschaft mitkommen. Und so dicht das soziale Netz auch geknüpft ist, nicht alle Not dieser Art kann es lindern.
Auf der anderen Seite hat unsere Reformpolitik Gruppen aufsteigen lassen, Menschen aufsteigen lassen, die sich jetzt selber helfen können und die zum Teil sogar von Empfangenden zu Gebenden werden.
Der Staat schafft Voraussetzungen dafür, daß sich der einzelne in wichtigen Lebensfragen auf die Solidarität der staatlichen Gemeinschaft verlassen kann. Für viele, viele Menschen haben wir erst durch diese Voraussetzungen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Das wollen wir auch weiterhin tun.
Aber nicht alles darf vom Staat erwartet werden.
Gesetzlich abgesicherte Solidarität allein kann nicht ausreichen.
Auf vielen Gebieten kann der Staat durch seine Initiativen, durch Einsatz von Geld, durch sein Eingreifen zwar durchaus gesellschaftliche Solidarität fördern, aber vieles entzieht sich einer noch so wohlmeinenden Gesetzgebung und gut gemeintem Verwaltungshandeln. Es gibt körperliche und geistige und seelische Not, die ein Staat nicht lindern kann. Hier sind der einzelne Bürger, die kirchlichen, die sozialen Organisationen weiterhin aufgerufen.
Die Idee der Solidarität kann nur dann eine bindende Kraft bleiben, wenn wir die Initiative einzelner Bürger, von Gruppen und Verbänden einerseits und staatliches Handeln andererseits miteinander kombinieren.
Der Bundestag hat für die Behinderten viel getan. Im Arbeitsleben gibt es für Behinderte ausgedehnte Schutz- und Sonderrechte. Seit dem Schwerbehindertengesetz gibt es keine Behinderten erster oder zweiter oder dritter Klasse mehr, sondern eine Gleichstellung aller Schadensursachen. Diesen Weg des Schutzes und der Rehabilitation setzen wir fort. Aber wir appellieren auch an jedermann — und oft genügt dazu schon die Überwindung von kleinen Gedankenlosigkeiten —, den Behinderten ihre Lage zu erleichtern und ihnen eine bessere Chance zu geben.
Ebenso sind viele gefordert, den Zehntausenden von Aussiedlern, die nach hartem politischen Ringen jetzt jährlich zu uns kommen, das Hineinfinden in die neue Lebenssituation zu erleichtern.
Wir werden das Aussiedlerprogramm fortführen. Aber mehr noch als die amtliche Sorge ist die mitmenschliche Aufnahme, die praktische Solidarität der Nachbarn notwendig, damit die Eingliederung gelingen und unser Land für diese Menschen wirklich wieder zur Heimat werden kann. Ich appelliere deshalb an die Nachbarn, an die Kollegen, an die Kirchen, an Verbände und Gewerkschaften, dazu nach besten Kräften beizutragen.
Ein Wort zu den ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familien, deren Lage vielfach unbefriedigend ist. Zur Zeit, meine Damen und Herren, leben ungefähr 4 Millionen Ausländer unter uns — das sind etwa 61/2% der Gesamtbevölkerung —, und zwar häufig in starker örtlicher Konzentration.
Anwerbestopp wie auch die Lage am Arbeitsmarkt haben den Zustrom begrenzt. Die Bundesregierung wird den Anwerbestopp beibehalten, und sie wird keiner Ausdehnung der Freizügigkeit etwa im Rahmen von Assoziierungsverhandlungen zwischen der EG und weiteren Drittstaaten zustimmen.
Es ist nur verständlich, daß viele Ausländer, die länger hierbleiben wollen, ihre Familien nachkommen lassen. Aber daraus ergeben sich schwere Probleme, besonders für die Bildung, für die Ausbildung, für die Beschäftigung der ausländischen Jugendlichen.
Wir müssen den Gesamtkomplex der Fragen, die daraus folgen, daß 4 Millionen Ausländer in unserem Lande leben, sorgfältig untersuchen. Daran sollen alle gesellschaftlichen Kräfte, z. B. die Vertreter der kommunalen Einrichtungen, die Vertreter der Schulen, der Gewerkschaften, der Wirtschaft, der Kirchen, der Wissenschaft, der politischen Parteien, aber eben auch die Vertrauensleute der ausländischen Arbeitnehmer selbst beteiligt werden.
Meine Damen und Herren, in den letzten Monaten ist in unserem Lande von Freiheit viel die Rede ge-
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Bundeskanzler Schmidt
Wesen. Lassen Sie mich eines dazu sagen: Wer von Freiheit redet, der muß auch Liberalität im Staate wirklich herbeiführen.
Weil Freiheit in der Tat ein entscheidender Grundwert ist, deshalb muß die Diskussion um die Sicherung und den Ausbau von Freiheit mit Ernst geführt werden und nicht mit aggressiven Schlagworten.
Wir verteidigen die Freiheit und die Liberalität in unserem Lande.
Wir wollen, daß der Staat die private Sphäre des einzelnen achtet und sie schützt. Es hat der technische Fortschritt, das großorganisierte Dasein die Informationsansprüche von Staat und Wirtschaft stark wachsen lassen. Das bringt Risiken mit sich. Um sie zu mindern, hat der Bundestag mit dem Datenschutzgesetz einen wichtigen Schritt getan; es müssen ihm aber weitere folgen.
Verteidigung der privaten Sphäre, der eigenen Sphäre der Person, bedeutet auch, daß die Person nicht abhängig gemacht wird von einer für sie völlig undurchsichtigen, anonymen Bürokratie und Großorganisation, ob nun im staatlichen Bereich, im wirtschaftlichen oder im privaten Bereich.
Ich möchte Ihnen gern, weil ich auch selbst zu denen gehöre, die manchmal das Gefühl haben, undurchsichtigen Formularen ausgeliefert zu sein,
folgendes Beispiel geben: Wenn Sie Ihre Wasserrechnung, die Darlegungen Ihres Vermieters für die erneute Mieterhöhung, die Sie in diesem Jahr erlebt haben, ihre Gehaltsabrechnung, Ihre Bundestagsabrechnung wirklich genau verstehen, die der Computer Ihnen ausgedruckt hat, dann sind Sie klüger als die meisten links oder rechts auf den beiden Flügeln dieses Hauses.
Es ist doch in der Tat so: Nachdem der Bundestag Schritte unternommen hat, um die Überforderung des Kunden durch das sogenannte Kleingedruckte abzubauen, wird es nun notwendig, die Überforderung des Bürgers zu beseitigen, die darin besteht, daß er die von Computern ausgedruckten Rechnungen, Abrechnungen und Darlegungen ohne die Hilfe eines Fachmannes nicht verstehen kann. Dies ist unwürdig.
Das gilt für Strom- und Gasrechnungen ganz genauso wie für Mietabrechnungen.