Meine Damen und Herren! Nach der Übung des Hohen Hauses und einem alten Brauch entsprechend wird das Parlament von dem ältesten Abgeordneten des Deutschen Bundestages eröffnet. Ich bin am 4. Februar 1897 geboren und richte an Sie die Frage, ob ein älteres Mitglied in diesem Hause anwesend ist. — Das ist offenbar nicht der Fall.
Dann eröffne ich die erste Sitzung des Deutschen Bundestages der 8. Wahlperiode.
Meine Damen und Herren! Ich habe Ihnen bekanntzugeben, daß aufgrund einer interfraktionellen Vereinbarung die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages in der zuletzt geltenden Fassung und mit den sie ergänzenden Beschlüssen und Vereinbarungen, die Geschäftsordnung für das Verfahren nach Art. 115 d des Grundgesetzes, die Geschäftsordnungen für die Ausschüsse nach Art. 53 a und Art. 77 des Grundgesetzes und der Beschluß betreffend Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Bundestages vom 16. März 1973 für die 8. Wahlperiode übernommen werden sollen. Erhebt sich hiergegen Widerspruch? — Ich sehe, das ist nicht der Fall. Es ist so beschlossen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sollen mir 14 Abgeordnete als vorläufige Schriftführer zur Seite stehen. Ich bitte daher die Abgeordneten Herrn Batz, Frau Benedix, die Herren Berger, Collet, Fiebig, Dr. Hammans, Hoffie, Josten, Marquardt, Müller , Niegel und Pensky, Frau Schleicher und Herrn Würtz, dieses Amt zu übernehmen. Ich darf die Abgeordneten Marquardt und Berger bitten, neben mir Platz zu nehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, Sie als das an Lebensjahren älteste Mitglied, aber auch als einer aus der kleinen Schar der „dienstältesten" Parlamentarier, die vom Tage der Konstituierung des Deutschen Bundestages bis heute ununterbrochen diesem Hause angehört haben, begrüßen zu können. Es sind, wie ich festgestellt habe außer mir noch acht unmittelbare Kronzeugen der Entwicklung unseres Parlaments und des Geschehens hier im Bundestag seit dem ersten Zusammentreffen im Herbst 1949 anwesend.
Ich freue mich, neben vielen bekannten Kollegen aus den zurückliegenden Wahlperioden auch noch viele neue und meist jüngere Abgeordnete willkommen heißen zu dürfen. Einige von ihnen sind kaum älter als dieses Parlament, d. h. als dieser unser Staat. Mir scheint es deshalb für unsere Zusammenarbeit und unser gegenseitiges Verständnis nützlich zu sein und fruchtbarer Erkenntnis zu dienen, wenn wir uns dieses Sachverhalts bewußt bleiben.
Was das Ansehen und die Würde des Bundestages anbelangt, sollte dieser mit Selbstverständlichkeit und Selbstbewußtsein keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß ihm der erste Rang im Staate gebührt. Er ist das Organ, das, vom Volke erkoren, den in freier Wahl ermittelten Volkswillen zu vertreten, ihn aber auch überzeugend zu demonstrieren hat. Alle Mitglieder des Hauses haben die Pflicht, sich in ihrer Haltung und Gesinnung dieses hohen Anspruchs würdig zu erweisen. Bedenken Sie, daß sich vor jetzt nahezu 30 Jahren alle Fraktionen des Deutschen Bundestages selbst im Widerstreit der Parteien vor die gemeinsame Aufgabe gestellt sahen, aus der geschichtlichen Tragödie unseres Volkes die Lehre zu ziehen, daß es einer neuen und geläuterten Wirtschafts- und Sozialordnung bedarf, um nicht nur in materieller, sondern auch in geistig-sittlicher Beziehung unsere gültige Demokratie in uns selbst lebendig sein zu lassen und dazu auch noch nach außen vor der Welt glaubhaft zu machen.
Desgleichen will es mir wenig sinnvoll erscheinen, sich an diesem Ort vor den Bürgern über Verdienste und Versagen zu zerstreiten; denn über Wert oder Unwert der von uns geleisteten Arbeit entscheidet zuletzt das Volk. Wenn wir uns auch nach dem totalen Zusammenbruch in heftigen Debatten um den besten Weg der deutschen Politik mit großem Ernst auseinandersetzten, so sollten wir älteren Abgeordneten uns so wenig vollbrachter Taten rühmen, wie es jüngeren Kollegen schlecht anstünde, sich so zu gebärden, als ob künftig sie allein, unbeschwert von deutscher Vergangenheit, eine neue deutsche Welt zu errichten berufen wären.
Wir rangen in diesem Hause um eine reifere politische und freiheitliche Wirtschafts- und Sozialordnung, und unsere Arbeit daran wird gewiß nicht aufhören. Aber wir wissen zugleich, daß die Ordnung,
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Alterspräsident Dr. Erhard
die wir uns, auf dem Grundgesetz aufbauend, gegeben haben, ein fest gefügtes Fundament unseres Staatswesens ist.
Alle, die Verantwortung tragen, sollten sich allerdings immer bewußt sein, daß nicht so sehr fragwürdige Prognosen, sondern vielmehr die Wahrheit und Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen die Gemütslage und das Tun eines Volkes beeinflussen. Zuviel Staat, zuviel Skepsis kann zur Sepsis werden und lähmt uns, auch wenn sie in der Kutte eines grauen Realismus oder eines überzeugungsängstlichen Pragmatismus auftritt.
Immer häufiger wird heute von Stabilität gesprochen. Ich befürchte wohl nicht zu Unrecht, daß dieses Thema noch lange auf der Tagesordnung bleiben wird, mindestens so lange, bis wir diesen Begriff nicht immer nur im Hinblick auf den Zustand unserer Wirtschaft und Währung gelten lassen, die moralische Stabilität aber als Mittel einer übergeordneten allgemeinen Verständigung gering achten.
Selbstverständlich liegt es nahe, zuvörderst an unsere inneren Angelegenheiten zu denken wie beispielsweise an den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, der nicht gewonnen werden kann, wenn er nicht zugleich als Kampf gegen die Inflation geführt wird. Im übrigen wissen wir sehr wohl, daß uns jeder Fortschritt auch vor immer neue Probleme stellt und neue Sorgen gebiert.
Gleich aber, ob es sich um Ausgaben oder Einnahmen des Staates handelt, ist und bleibt es besonders wichtig, daß alle Überlegungen über Herkunft und Verwendung der Mittel außer von der unmittelbaren Zwecksetzung nicht zuletzt auch von wirtschaftlicher Vernunft getragen sein müssen.
Das deutsche Volk hat in den zurückliegenden Jahren mannigfache Überlegungen hinsichtlich der Beziehungen zwischen finanzieller und wirtschaftlicher Ordnung anzustellen Gelegenheit gehabt. Das hat zugleich bewirkt, daß sich seine Vernunft und sein Urteilsvermögen immer mehr gefestigt haben. Jeder Versuch, im Zeichen vermeintlicher Wohlfahrt aus wohltätiger Gesinnung mehr Geld auszugeben, als dem Fiskus aus ordnungsgemäßen und vertretbaren Einnahmen zufließt, verstößt gegen gute und bewährte Grundsätze. Der sozialen Fürsorge ist in letzter Konsequenz auch nicht damit gedient, durch immer höhere Steuerbelastungen die Produktivität und die menschliche Arbeitsergiebigkeit zu schmälern oder auch durch fragwürdiges Finanzgebaren die Volkswirtschaft immer stärker zu verschulden, damit aber auch eine verstärkte Inflation anzufachen. Auch diese Schulden müssen einmal zurückgezahlt werden. Aber wiederum werden dann die Bürger begangene Fehler zu büßen haben und die Leidtragenden sein müssen.
An dieser Stelle muß denn auch betont werden, daß auf eine straffe Kredit- und Währungspolitik zum Schutze der Kaufkraft unserer Währung nicht verzichtet werden kann.
Nicht zuletzt sollten wir uns auch bewußt sein, daß unsere Verantwortung grundsätzlich nicht an den Grenzen unseres Landes endet. Ebenso unbestreitbar ist es, daß zu menschenwürdigen Lebensbedingungen und Lebensformen in aller Welt zu gelangen, letzten Endes die Leistungskraft der jeweiligen Volkswirtschaften und das Interesse jedes einzelnen, seine Leistung und Fähigkeiten gerecht entlohnt zu wissen, den Ausschlag geben.
Aber nicht nur die sich noch in der Entwicklung befindenden Länder haben sich mit diesem vielschichtigen Problem auseinanderzusetzen. Gestehen wir es doch, daß selbst im Bereich der hochentwickelten Industriestaaten ein gut Teil der zur Bezeugung von Solidarität unverzichtbaren Ordung zunehmend abzubröckeln beginnt! Wir leiden auch in Europa unter dem Verfall einer funktionsfähigen internationalen Währungsordnung, der permanent falsche Wechselkurse im Gefolge hat, die uns eines brauchbaren Maßstabes zum Wertvergleich von Waren und Dienstleistungen berauben und die künftige Entwicklung des Welthandels fast zu einer Farce werden lassen. Es muß doch noch Sinn und Zweck einer Gemeinschaft sein, tendenziell wertgleiche Leistungen zu vollbringen. Welches Land diesen Grundsatz nicht anzuerkennen bereit ist oder aus anderen Gründen in bedenklichen Rückstand gerät, sollte nicht automatisch auf fremde Hilfe vertrauen dürfen, sondern müßte vor allem die im eigenen Lande vorhandenen Mängel zu beseitigen suchen. Ich wage sogar die Behauptung, daß, je mehr Unterstützungs- oder Ausgleichsfonds institutionalisiert werden, desto sicherer das schon angeschlagene Ordnungsbewußtsein gar völlig im Chaos wird enden müssen.
Ich sagte jüngst einem unserer Kollegen, daß wir, auch wenn wir uns, international gesehen, sicherlich in einer vergleichsweise noch günstigeren Lage befinden, uns aber doch nicht als Tugendbolde zuviel Selbstlob spenden sollten. Einsicht und Erfahrung lehren uns nämlich, daß diese Art von Tugend wesentlich und im Besonderen oft nur auf der Differenz der Sünden beruht. Das heißt wiederum, daß eine uns und noch anderen zugemutete einseitige Opferbereitschaft mit echter, recht verstandener Solidarität nur noch wenig gemein hat und auf längere Sicht auch moralisch nicht vertretbar ist.
Wir Deutschen leben mit allen anderen europäischen Völkern gewiß nicht auf einer isolierten Insel, sondern stehen gemeinsam einer Welt gegenüber, insbesondere den sogenannten Entwicklungsländern, deren Leistungsrückstand, an europäischen Normen gemessen, nicht geringer, sondern womöglich noch größer werden könnte. Deren Drängen und Ungeduld sind wohl verständlich. Aber Ihre Reaktionen — wenn im einzelnen auch differenziert — tragen vielfach rein emotionalen Charakter oder beruhen auf nur von außen hereingetragener ideologischer Verblendung.
Ist es nicht widersinnig und widersprüchlich zugleich, wenn sich das politische Ressentiment mancher dieser Länder gerade gegen jene Staaten richtet, die wie die USA nie Kolonialmächte waren oder wie die Bundesrepublik Deutschland seit 60 Jahren diesen Status aufgegeben haben, aber die ihr Gewissen den Entwicklungsländern vor allen anderen zu helfen hieß? Ohne dafür Dank ernten zu wollen und ohne eine Überlegenheit auszuspielen, müßte
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Alterspräsident Dr. Erhard
selbst ein urwüchsiger Naturverstand begreifen, daß eine Überbeanspruchung der modernen Volkswirtschaften diese an Produktivität einbüßen und sie trotz besten Willens immer unfähiger werden ließe, den in Armut verharrenden Völkern beizustehen. Gerade diese letzteren sollten einsehen, daß auch ihr Schicksal von dem Fortschritt der reicheren Länder abhängt.
Mehr brauchte an diesem Ort über das hier erwähnte Thema nicht gesagt zu werden, es sei denn, daß auch auf dieser Ebene der edle und humane Gedanke der Solidarität durch kollektiven Zwang in das Gegenteil verkehrt wird und einer echten, dauernden Völkerverständigung entgegensteht.
Ich wünsche dem neuen Bundestag, daß er auch andere Aufgaben nicht vernachlässigt oder vergißt. Das Grundgesetz und unser Gewissen legen uns eine Verantwortung für das ganze Deutschland und für das Zusammenleben aller Deutschen auf. Man mag stehen, wo man will, niemand kann uns vor der Geschichte aus dieser Verantwortung entlassen, es sei denn das deutsche Volk selbst.
Der neue Bundestag beginnt seine Arbeit in einer Zeit großer Besorgnisse und schmaler Hoffnungen. Ich wünsche ihm endlich, daß er — bedenklichen Entwicklungen in befreundeten Ländern zum Trotz, zum Trotz auch den Schwächen der Weltwirtschaft, zum Trotz aber vor allem auch gegenüber Drohungen und Lockungen solcher Mächte, die unserer freien Verfassung Feinde sind — dennoch seinen Beitrag zum inneren und äußeren Frieden erbringen kann, zum Wohle unserer Bürger und zur Sicherung der Freiheit, die unser Leben ausmacht.
Meine Damen und Herren, ich komme nunmehr zu Punkt 2 der Tagesordnung:
Namensaufruf der Abgeordneten.
Ich empfehle, zur Vereinfachung des Geschäftsgangs diesen Punkt mit Punkt 3 der Tagesordnung zu verbinden:
Wahl des Präsidenten.
— Das Haus ist, wie ich sehe, damit einverstanden. Ich höre keinen Widerspruch.
Die Wahl des Präsidenten, meine Damen und Herren, ist in § 2 unserer Geschäftsordnung geregelt. Dort wird bestimmt, daß die Wahl des Präsidenten mit verdeckten Stimmzetteln durchzuführen ist und daß gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. Das sind derzeit mindestens 260 Stimmen. Ergänzend sieht § 54 a der Geschäftsordnung vor, daß in diesem Falle die Wahl geheim stattfindet und daß die Stimmzettel erst vor Betreten der Wahlzelle ausgehändigt werden. Die auf beiden Seiten aufgestellten Wahlzellen sind bei der Stimmabgabe zu benutzen. Die gekennzeichneten Stimmzettel sind in einem Wahlumschlag in die dafür vorgesehene Wahlurne zu legen.
Ich weise darauf hin, daß ein Abgeordneter zurückgewiesen werden muß, wenn er seinen Stimmzettel außerhalb der Wahlzelle kennzeichnet oder
ihn außerhalb der Wahlzelle in den Wahlumschlag eingelegt hat.
Die Berliner Abgeordneten sind für diese Wahl voll stimmberechtigt. Im Saal ist daher nur eine Urne aufgestellt.
Meine Damen und Herren, ich bitte jetzt um Vorschläge zur Wahl des Präsidenten. — Herr Abgeordneter Kohl!