Rede von
Graf
Franz Ludwig Schenk
von
Stauffenberg
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Herr Kollege Mertes, ich habe gerade versucht, dies nicht so deutlich zum Ausdruck zu bringen, um unserer Bundesregierung die Sache nicht noch schwerer zu machen, als sie sowieso schon ist.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an einen anderen Fernsehauftritt Ihres Parteivorsitzenden Willy Brandt erinnern. Es war am 12. August 1974 nach der Unterzeichnung des Moskauer Vertrages. Herr Brandt sagte damals aus Moskau:
Morgen sind es neun Jahre her, daß die Mauer gebaut wurde. Heute haben wir — so hoffe ich zuversichtlich — einen Anfang gesetzt, damit der Zerklüftung entgegengewirkt wird, damit Menschen nicht mehr im Stacheldraht sterben müssen, damit die Teilung unseres Volkes hoffentlich überwunden werden kann.
Das war vor 51/2 Jahren. Aber die Kluft in Europa, die Kluft zwischen den beiden Teilen unseres Landes besteht fort, und es ist nicht eine Kluft, wie auf Ihrer Seite gern verniedlichend gesagt wird, zwischen unterschiedlichen oder nicht recht vergleichbaren oder unvergleichbaren Gesellschaftssystemen, sondern es ist die Kluft zwischen Freiheit und Unfreiheit nach 51/2 Jahren, nicht nur ebenso, sondern noch stärker als vor diesen 51/2 Jahren, als Willy Brandt damals vor dem Fernsehen sprach. Unser Volk ist nach wie vor geteilt, nicht weniger als vor 51/2 Jahren, und nach wie vor sterben die Menschen im Stacheldraht. Der Schießbefehl besteht fort - darüber ist vorher gesprochen worden —, die Todesmaschinen und Mordautomaten an der Zonengrenze sind perfekter und schlimmer geworden, als sie es vor 5 1/2 Jahren waren, der Druck auf unsere Landsleute drüben ist nicht geringer geworden; auch davon war heute schon die Rede unter dem Stichwort „ideologische Abgrenzung" — man sollte besser sagen: ideologische Quarantäne für drüben und aggressive Klassenkampfpolitik gegenüber dem Westen.
Die Selbstherrlichkeit der Diktatoren drüben und ihrer Erfüllungsgehilfen ist nicht kleiner, sondern größer geworden. Ihre militärische Macht und damit ihre politische Erpressungskapazität wird nicht geringer, sondern bedrohlicher und drohender.
Nun, meine Damen und Herren von der SPD und FDP, Sie reden von diesen Dingen nur mehr selten, und wenn, dann tun Sie es unwillig, weil dieses Bild der bitteren Realität unserer Nation im geteilten Deutschland und im geteilten Europa in Ihr Bild der Selbstdarstellung nicht paßt. Dafür bedankt sich aber der Herr Bundeskanzler ausdrücklich bei den Machthabern in der Sowjetunion am 8. Mai 1975 für — so wörtlich „soviel Hilfe, Versöhnungsbereitschaft, gute Nachbarschaft und Partnerschaft". Er bedankt sich bei den sowjetischen Machthabern im gleichen Atemzug für das Gleiche und in dem gleichen Maße wie bei unseren europäischen Bündnispartnern und den Vereinigten Staaten von Amerika.
Sie, meine Damen und Herren von der SPD und FDP, wollen immer noch die Illusion aufrechterhalten, mit der Sie Ihre Ostpolitik begonnen haben. Sie haben das mit großem propagandistischem Aufwand in Szene gesetzt. In Wirklichkeit haben Sie sich damals dem sowjetischen Begriff der „friedlichen Koexistenz" angeschlossen. Sie haben vielleicht gemeint, Sie könnten diesen sowjetischen Begriff der „friedlichen Koexistenz" für sich okkupieren und mit anderem Inhalt versehen, ähnlich wie Sie später versucht haben, den Begriff der „Friedenspolitik", der „Mitte", das „anständige Deutschland" und schließlich auch die Leistungen Konrad Adenauers für sich in Anspruch zu nehmen und mit neuem Inhalt zu füllen. Aber Sie sind in den Sog der sowjetischen „friedlichen Koexistenz" geraten, und dort stehen Sie noch heute. Dies ist nichts anderes — von der Sowjetunion aus gesehen -- als die Politik der Fortsetzung des Klassenkampfes mit allen Mitteln, auch mit dem Mittel der Gewalt: in dem Augenblick, in dem die Gewalt einen Erfolg der Weltrevolution verspricht.
Dies ist die Politik der friedlichen Koexistenz, die Willy Brandt selber proklamiert hat als ein Ziel beziehungsweise eine Zukunftsaussicht für die neue Gestalt Europas.
Habe ich noch Zeit?