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ID0718300400

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    Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 183. Sitzung Bonn, Freitag, den 25. Juli 1975 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Abg. Josten 12797 B Erklärung der Bundesregierung betr. KSZE Genscher, Bundesminister AA . . . . . 12797 B Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Dr. Marx CDU/CSU . . . . . . . . 12803 C Brandt SPD 12812 B Hoppe FDP 12816 D Stücklen CDU/CSU . . . . . . . . 12819 D Schmidt, Bundeskanzler 12825 C Dr. Carstens (Fehmarn) CDU/CSU . . 12830 B Pawelczyk SPD 12834 B Dr. Bangemann FDP . . . . . . . . 12839 A Oxfort, Bürgermeister von Berlin . . . 12843 C Dr. Mertes (Gerolstein) CDU/CSU . . . 12845 B Mattick SPD 12850 A Dr. Schröder (Düsseldorf) CDU/CSU . . 12854 A Wehner SPD . . . . . . . . . . 12859 C Strauß CDU/CSU 12862 A Genscher, Bundesminister AA . . . . 12869 D Namentliche Abstimmungen . . . . . 12872 A Anlagen Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 12875* A Anlage 2 Nichtanwendung des § 48 Absatz 2 BAföG durch einige Hochschulen SchrAnfr B 59 06.06.75 Drs 07/3737 Engholm SPD ErgSchrAntw StSekr Dr. Jochimsen BMBW 12875* C Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Juli 1975 12797 183. Sitzung Bonn, den 25. Juli 1975 Beginn: 9.00 Uhr
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    Berichtigung 181. Sitzung, Seite 12684 D ist statt „Gerstl (Passau) (CDU/CSU) " zu lesen „Gerstl (Passau) (SPD) ". 181. Sitzung, Seite 12726 C: Die Zeile 22 mit den Worten „was nun die Rechtsgrundlage sein soll," ist zu streichen. Einzufügen sind die Worte ,;Rechte dort habe". Vier Zeilen weiter ist hinter dem Wort „soll" ein Komma zu setzen. Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt für Alber 25. 7. Dr. Bayerl 25. 7. Dr. Böger 25. 7. von Bothmer 25. 7. Breidbach 25. 7. Prof. Dr. Burgbacher 25. 7. Burger 25. 7. Bühling 25. 7. Dürr 25. 7. Dr. Enders 25. 7. Geldner 25. 7. Gerster (Mainz) 25. 7. Gewandt 25. 7. Gierenstein 25. 7. Graaff 25. 7. Haase (Fürth) 25. 7. Dr. Häfele 25.7. Handlos 25. 7. Hölscher 25. 7. Horn 25. 7. Horstmeier 25. 7. Dr. Hupka 25. 7. Hussing 25. 7. Jaunich 25. 7. Kater 25. 7. Dr. Kiesinger 25. 7. Lange 25. 7. Dr. Klepsch 25. 7. Dr. Köhler 25. 7. Krampe 25. 7. Lattmann 25. 7. Leicht 25. 7. Lücker 25. 7. Dr. Luda 25. 7. Lüdemann 25. 7. Prof. Dr. Möller 25. 7. Opitz 25. 7. Pieroth 25. 7. Dr. Riede 25. 7. Rollmann 25. 7. Rommerskirchen 25. 7. Prinz zu Sayn-Wittgenstein 25. 7. Prof. Dr. Schäfer (Tübingen) 25. 7. Prof. Dr. Schellenberg 25. 7. Schmidt (Kempten) 25. 7. Dr. Starke 25. 7. Stommel 25. 7. Vogel (Ennepetal) 25. 7. Abgeordnete(r) beurlaubt für Volmer 25. 7. Walkhoff 25. 7. Dr. Walz 25. 7. Dr. Wex 25. 7. Wischnewski 25. 7. Dr. Wörner 25. 7. Prof. Dr. Zeitel 25. 7. Anlage 2 Ergänzende Antwort des Staatssekretärs Dr. Jochimsen auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Engholm (SPD) (Drucksache 7/3737 Frage B 59, 178. Sitzung, Seite 12552*, Anlage 75) : Ihr Hinweis auf die ab 1. August 1975 geltende Neufassung des § 48 BAföG dürfte sich vermutlich nicht auf die Absätze 1 und 2, sondern auf Absatz 1, Nrn. 1 und 2 beziehen. Das Rundschreiben des Rektors der Universität Bonn an die Dekane der einzelnen Fakultäten befaßt sich, worauf Sie mit Recht hingewiesen haben, nur mit Absatz 1 Nr. 1. Insoweit gibt das Rundschreiben die in der ab 1. August 1975 geltenden Neufassung des Absatzes 1 Satz 1 enthaltenen beiden Möglichkeiten des Gesetzes zum Eignungsnachweis nicht erschöpfend wieder. Das ist auch die Auffassung des Ministers für Wissenschaft und Forchung des Landes Nordrhein-Westfalen als oberster Landesbehörde für Ausbildungsförderung. Aus der Tatsache, daß das Rundschreiben die neue Rechtslage nicht vollständig wiedergibt, wird man allerdings nicht auf eine beabsichtigte restriktive Handhabung der neuen Vorschriften durch die Universität Bonn und andere Hochschulen schließen können. Um jeden Zweifel auszuschließen, hat der Minister für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen den Hochschulen des Landes in einem Runderlaß die dazu von der Bundesregierung nach vorausgegangenen eingehenden Beratungen mit den obersten Landesbehörden beschlossenen allgemeinen Verwaltungsvorschriften zu § 48 Abs. 1 übermittelt und gebeten, beide Alternativen des § 48 Abs. 1 Satz 1 sowie insbesondere Tz 48.1.1 der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu beachten. Die gesamte allgemeine Verwaltungsvorschrift zum BAföG liegt zur Zeit dem Bundesrat vor, der darüber nach der Sommerpause beraten wird.
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    Rede von Dr. Werner Marx


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin, meine verehrten Damen und Herren! Diese Debatte, zu der wir aus den Ferien nach Bonn gekommen sind, ist keine Ratifikationsdebatte. Dem Deutschen Bundestag liegt kein Vertrag mit völkerrechtlicher Wirkung und kein Zustimmungsgesetz vor.
    Der Bundesaußenminister hat soeben in seiner Rede mit Bedacht noch einmal auf diese Tatsache, die ich für meine Fraktion unterstreiche, hingewiesen. Aber die Texte von Genf, meine Damen und Herren, sind von politischer Bedeutung. Die Bundesregierung selbst weist ihnen politisch-moralische Wirkung zu. Sie nennt sie „Absichtserklärungen".
    Dies ist kein harmloser Ausdruck. Das haben wir bei den Absichtserklärungen kennengelernt, die im Frühjahr 1970 in Moskau formuliert worden sind.

    (Sehr gut! Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

    Damals sagte uns der damalige Außenminister, solche politischen Willensbekundungen seien völkerrechtlich nicht bindend. Sie verpflichteten nur jene Regierung, die sie unterschreibe.
    Wir halten fest, daß aus den damaligen Absichtserklärungen — den Sätzen 1 bis 4 des ersten Teils — der deutsch-sowjetische Vertrag wurde. Aus dem Satz 10 wurde die Konferenz, über die wir heute debattieren.
    Ich erinnere an dieser Stelle noch einmal an den Wortlaut, der, ohne daß auch nur ein Wort vorher mit unseren Verbündeten ausgehandelt und vereinbart worden wäre, damals zwischen Bahr und Gromyko ausgehandelt wurde. Er lautet — ich zitiere —:
    Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und die Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken begrüßen den Plan einer Konferenz über Fragen der Festigung der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und werden alles von ihnen Abhängende für ihre Vorbereitung und erfolgreiche Durchführung tun.
    Diese Aktion Bahrs hat die Bundesregierung gebunden, mehr noch: sie hat damals dem jahrelang mit großer Zähigkeit verfolgten sowjetischen Wunsch zum Erfolg verholfen; sie war auslösender Faktor für viele — und zögernde — Europäer und auch für die an der Sache zunächst kaum interessierten Amerikaner, nolens volens mitzumachen. Wir haben also heute — gewarnt durch die damaligen Erfahrungen — Grund genug, die Texte zu prüfen, ihre Bedeutung und Wirkung abzuschätzen. Wir tun es auch, weil wir wissen, wie der große Partner auf



    Dr. Marx
    der östlichen Seite die Texte versteht, und weil wir miteinander untersuchen wollen, was er aus den Texten machen kann und machen will.
    Für uns, meine Damen und Herren, handelt es sich also nicht um Zustimmung oder Ablehnung völkerrechtlicher Verbindlichkeiten, sondern um politische Wertungen von Abmachungen und sogenannten Absichtserklärungen.
    Unserer heutigen Debatte ging eine erste Befassung des Bundestages mit der ganzen weitschweifigen Materie bereits im Oktober des vergangenen Jahres auf Antrag und nach einer Großen Anfrage, die meine Fraktion eingebracht hatte, voraus. Wir knüpfen heute an die damals vorgetragenen Auffassungen und Beurteilungen an.
    Die Fraktion der CDU/CSU hat seither besonders lebhaft den Gang der Diskussionen in Genf verfolgt. Wiederholt waren Mitglieder unserer Fraktion am Ort der Konferenz. Dabei konnten wir feststellen, daß einige unserer, auch im vergangenen Oktober geäußerten Bedenken gemindert worden sind. Entscheidende Probleme aber sind nicht befriedigend geregelt worden. Das war offenbar auch gar nicht möglich, nachdem sich die Regierung auf die Konferenz und ihren Mechanismus eingelassen hatte. Trotzdem haben wir uns bemüht, durch kritische Einwände, durch eigene Vorschläge, durch Drängen und Korrigieren, durch Fragen und Mahnen die Verhandlungsposition der Bundesregierung zu unterstützen; so habe ich es für meine Fraktion im Oktober von dieser Stelle aus zugesagt.
    Herr Bundesaußenminister, Sie selbst haben unsere Einwände und Anregungen, sagen wir einmal, zumindest zu einem gewissen Teil gehört, aufgenommen, diskutiert und verwendet. Freilich waren Ihnen selbst eine Reihe einengender Grenzen gezogen; denn die deutsche Beteiligung an der Konferenz war für Sie vorgegeben durch die Festlegungen Bahrs in Moskau und wohl auch durch die der deutschen Offentlichkeit noch immer — Herr Kollege Brandt, ich höre, daß Sie nachher sprechen; vielleicht können Sie dazu etwas sagen — weithin unbekannten Festlegungen, die Sie selbst mit Herrn Bahr und Herrn Breschnew auf der Krim eingegangen sind.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, für unsere Bewertung des ganzen Unternehmens sind aber nicht nur die Texte wichtig, sondern auch die Lage unseres Landes, die immer erneut gefährdete Situation Berlins und die Entwicklung in Europa, auch die Entwicklung in der militärischen Rüstung im Warschauer Pakt. Bei den Texten kommt es auch auf die Absichten an, mit denen sie redigiert wurden; denn Vieldeutigkeit — das zeigt sich mit aller wünschenswerten Klarheit bei der nachfolgenden Diskussion über die Bedeutung der einzelnen Begriffe, der einzelnen Auslegungen der Ostverträge und des Berlin-Abkommens —, Mehrdeutigkeit führt eben nicht zu Entspannung und Ausgleich, sondern sie ist die neue Quelle neuer Konflikte.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Dies aber, meine Damen und Herren, „Quelle neuer Konflikte", darf unserer Überzeugung nach die KSZE in Genf keinesfalls werden.
    Allerdings gibt es viele Gründe, die uns befürchten lassen, daß sie es trotzdem wird. Man hat uns im Ausschuß gesagt, daß natürlich die verschiedenen Seiten in Genf bei der Abfassung der Texte nicht immer das gleiche, ja, mitunter sogar sehr Unterschiedliches gedacht und gewollt haben, und Diskussionen, die wir mit den Vertretern der einzelnen Delegationen in Genf geführt haben, haben dies in einer eklatanten Weise bestätigt. Deshalb rufe ich jetzt an dieser Stelle noch einmal das in Erinnerung, was der damalige Außenminister Walter Scheel in seiner Rede in Helsinki zu Beginn der ganzen Sache zu dieser fundamentalen Frage der Eindeutigkeit gesagt hat. Ich zitiere:
    Wir müssen Klarheit darüber schaffen, was wir tatsächlich meinen. Nur wenn wir die gleiche Sprache sprechen, mit denselben Worten dasselbe meinen, werden wir Erfolg haben. Und schließlich
    — so fügte Scheel hinzu —
    müssen wir das gleiche wollen.

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

    Daß sich die Bundesregierung an diese Maximen gehalten hätte, wird doch nun wirlich niemand behaupten können; denn die Texte haben in weiten Bereichen keinesfalls Klarheit geschaffen. Sie enthalten eben nicht zweifelsfrei, was die Beteiligten tatsächlich meinen. Sie verwenden zwar die gleichen Ausdrücke, die gleichen Wörter, die gleichen Floskeln; aber der Inhalt dieser Begriffe ist — wir wissen es doch aus der Diskussion der letzten Jahre — vielfältiger Ausdeutung fähig, ja, gegensätzlicher, ich sage: gefährlich gegensätzlicher Interpretation.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Schließlich, meine Damen und Herren: Es wäre ja schön, wenn es so wäre; aber es kann doch niemand behaupten, daß die Hauptkontrahenten, will ich einmal sagen, von einem gleichen Willen ausgegangen seien.
    Lassen Sie mich aus der Rede des damaligen Außenministers noch ein Zitat hinzufügen. Er sagte wörtlich:
    Wenn im Verlauf unserer Erörterungen klar würde, daß unsere Auffassungen über die Wirklichkeit noch zu weit auseinanderklaffen, dann, meine ich, wäre es ein Gebot der Ehrlichkeit, dies klar zu sagen. Das wäre keine Katastrophe für Europa, es wäre auch nicht das Ende des Entspannungsprozesses.
    Und er fährt später fort:
    Aber wir sollten der europäischen und der Weltöffentlichkeit deutlich sagen, daß wir noch Zeit benötigen. Wir müßten uns dann, um mit Metternich zu reden,



    Dr. Marx
    — und er zitiert ihn —„hinter der Zeit verschanzen und die Geduld zu unserer Waffe machen".

    (Graf Stauffenberg [CDU/CSU] : Hört! Hört!)

    Das sind wichtige, zeitlos gültige Sätze auch heute und für die künftige Politik.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die Bedingungen des ehemaligen deutschen Außenministers, sagen wir einmal, als Maßstab an die Schlußpapiere, die uns vorliegen, gelegt, machen deutlich, daß die Bundesregierung das wichtige von ihr damals selbst formulierte und von uns so geforderte und gestützte Ziel nicht erreicht hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Sie hat den Zusammenhang zwischen der Sicherheitskonferenz und jener Konferenz, die man noch „Konferenz für gegenseitigen ausgewogenen Truppenabzug" nennt, den Zusammenhang, der damals eine Voraussetzung für die Eröffnung der KSZE war, aufgegeben. Herr Bundesaußenminister, dies war ein folgenschwerer Fehler. Denn erst dort, wo es um harte Tatsachen, um militärische Rüstung, um Waffen, Gerät, Soldaten ging, wo man um Einklagbares, Meßbares, Fühlbares miteinander verhandelt, dort hätte sich die Bereitschaft zu faßbarer Sicherheit in Europa erweisen können.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Aber diese Nagelprobe hat die Bundesregierung nicht verlangt. Sie hat — verzeihen Sie den Ausdruck — mitgebastelt an Formeln, statt konkrete Maßnahmen einer kontrollierten Abrüstung zu ergreifen.

    (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU)

    Herr Bundesaußenminister, Sie sagten soeben, Sie hätten an dem Grundsatz der Verbindung zwischen MBFR, wie es in der Fachsprache heißt, also Konferenz für ausgewogenen Truppenabzug, und Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa festgehalten.
    Ja, am Grundsatz festhalten, ohne daß dies real spürbar wird. Dies allerdings ist eine Politik, die diese Fraktion nicht abzudecken bereit ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, ich sage offen: Hier liegt einer der wichtigen Gründe dafür, daß wir ein Sicherheitsergebnis — ich unterstelle einmal, das, was wir vor uns liegen haben, sei ein Sicherheitsergebnis —, das ohne Fortschritte in der militärischen Rüstung, ohne konkrete Vereinbarungen zur Abrüstung, zustande gekommen ist, nicht bejahen.
    Die Hebelwirkung, die Sie auf die Wiener Truppenreduktionsverhandlungen hätten ausüben können, ist nicht genutzt worden. Ein Blick auf diese Konferenz, die sich in Wien so mühsam dahinschleppt, die — wie alle sagen, die von der Sache etwas verstehen — in die Sackgasse gekommen ist, läßt mich einen Satz zitieren, den der Leiter der holländischen Delegation vor einigen Tagen ausgesprochen hat. Er sagte, daß der Osten immer noch nicht in positiver und konstruktiver Weise auf unsere Reduktionsvorschläge geantwortet hat. Dies sei sehr zu bedauern.
    Bei den Texten, die uns vorliegen, hat sich die Bundesregierung — der Bundesaußenminister hat dies jetzt noch einmal deutlich vorgetragen — auf das Konsensprinzip eingelassen, d. h. für jeden Satz, für jede Feststellung war der Wille, war die Zustimmung aller beteiligten Regierungen nötig. Ich meinerseits habe im Oktober bei der damaligen Debatte hier darauf hingewiesen, daß dadurch natürlich die Verantwortung der deutschen Bundesregierung besonders groß werde; denn, Herr Bundesaußenminister, Sie haben doch gewiß jede Formulierung, die wir jetzt in diesem umfangreichen Papier vor uns liegen haben, nur dann akzeptiert, wenn Sie mit ihr unter der besonderen Berücksichtigung der deutschen Fragestellung einverstanden waren. Nun, eine Prüfung der Texte ergibt aber, daß diese unsere Belange oft — ich sage: oft; natürlich nicht überall — in einem Schwall von Worten untergegangen sind.
    Herr Bundesminister, Sie haben mit großem Nachdruck auf die Zusammenarbeit der neun europäischen Staaten und der 15 NATO-Staaten hingewiesen. Bereits im Oktober hatten wir geantwortet, daß wir dies für einen wichtigen Fortschritt halten, von dem wir glauben, daß eine so entwickelte politische Methode uns in Europa, in wachsender Gefährdung, tatsächlich helfen kann.

    (Dr. Carstens [Fehmarn] [CDU/CSU] : Sehr richtig!)

    Aber Sie, Herr Bundesaußenminister, haben auch wörtlich gesagt, daß dort, wo einer der neun Staaten etwas ganz besonders Wichtiges hatte, die anderen acht Staaten ihm geholfen haben. Hier schulden Sie uns aber Auskunft darüber — wenn es so war — die deutschen Interessen, die wesentlichen Interessen unseren Landes, nicht stärker und sichtbarer berücksichtigt worden sind.
    Meine Damen und Herren, im Text gibt es — so darf ich einmal sagen — Allerweltsweisheiten, langatmige und mitunter kaum genießbare Passagen. Es gibt daneben eine Reihe vernünftiger Regelungen, die wir durchaus positiv würdigen. Manche Sätze sind so schön gelungen und enthalten so treffliche Aussagen, daß man ihnen nur von Herzen zustimmet möchte. Andere scheinen tatsächliche Erfolge westlicher Konferenzfähigkeit zu verbürgen, z. B. folgende Bestimmung, die ich aus dem Prinzip Nr. II zitieren will:
    Die Teilnehmerstaaten werden sich ... jeglicher Handlung enthalten, die eine Gewaltandrohung oder eine direkte oder indirekte Gewaltanwendung gegen einen anderen Teilnehmerstaat darstellt. Sie werden sich gleichermaßen jeglicher Gewaltmanifestation, die den Zweck hat, einen anderen Teilnehmerstaat zum Verzicht auf die volle Ausübung seiner souveränen Rechte zu bewegen, enthalten.
    Versteht die Bundesregierung diesen Satz — so fragen wir nach seiner Lektüre — als striktes Verbot einer — unter welchem Vorwand auch immer — angewandten Breschnew-Doktrin? Konkret: Wird



    Dr. Marx
    dieser wohlformulierte Satz auf dem schönen Papier von Genf stark genug sein, um die Sowjets auch künftig, nach all den bitteren Erfahrungen sage ich: künftig daran zu hindern, einen anderen Staat, z. B. einen brüderlichen Staat des eigenen Lagers, zu überfallen? Wird es nicht mehr möglich sein, daß man behauptet, die leninistische Philosophie lasse einen Rückfall sozialistischer Staaten in die Barbarei bürgerlichen Lebens nicht mehr zu und sie verlange daher — auch aus den Interessen der sowjetischen Macht heraus —, daß der abirrende Bruder mit militärischer Nachhilfe auf den Pfad der allgemeinen sozialistischen Tugend zurückgebracht wird? Ist also — dies ist für uns eine wichtige Frage; hier würden wir gern noch einmal die Interpretation, die verbindliche Interpretation der Regierung hören — mit diesem Satz erreicht, daß die Sowjetunion ihr eigenes Lager durch Gewaltandrohung oder durch Gewalteinsatz nicht mehr knebeln kann? Ist das Papier von Genf hinsichtlich des Gewaltverbots stärker als alle vorher und sogar völkerrechtlich abgeschlossenen und für die Sowjetunion verbindlich gemachten Gewaltverzichtsverträge? Wenn diese Frage von der Bundesregierung mit Ja beantwortet wird, dann ist uns dies sehr recht. Aber, meine Damen und Herren, niemand in diesem Raum kann vergessen, daß sich die Sowjetunion trotz aller Festlegungen, man enthalte sich der Androhung oder Anwendung von Gewalt, im Jahre 1953 in Mitteldeutschland, im Jahre 1956 in Ungarn, im Jahre 1968 in der Tschechoslowakei eben ganz anders verhalten hat, als sie vorher unterschrieben hatte. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich sagen: Wir bleiben natürlich nach all den Erfahrungen skeptisch. Denn wir haben ja auch unseren Lenin gelesen und seine Lehrsätze und Absichtserklärungen über die Verachtung, mit der man, wenn es möglich ist, mit Verträgen umgeht.

    (Jäger [Wangen] [CDU/CSU] : Sehr wahr!)

    Meine Damen und Herren, es gibt andere Passagen dieser Schlußakte — ich sage: für uns entscheidende Passagen —, die nicht einmal solche Fragen und freundlichen Deutungen zulassen; sie sind nicht akzeptabel. Ich meine jene Regelungen, auf die es vor allem offenbar den Sowjets ankam und die niemand sonst in Europa so sehr wie uns selbst betreffen. Sie werden den vitalen Interessen unseres geteilten Landes und seiner Menschen nicht gerecht.

    (Rawe [CDU/CSU] : Ist leider wahr!)

    Hier liegt, meine Damen und Herren, einer der Konflikte zwischen der Regierung und uns. Und die Regierung muß jetzt — das verstehen wir —, nachdem sie so lange verhandelt hat und nachdem so viel geduldiges Papier beschrieben worden ist, nachdem unsere Delegation in Genf im Rahmen der ihr zugegangenen Weisungen ordentliche Arbeit geleistet hat und sie, die Regierung, sich nun anschickt, nach Helsinki zu gehen, natürlich die ganze Sache loben. Unsere Aufgabe, die Aufgabe der parlamentarischen Opposition, ist eine kritische Begleitung und Beurteilung des Tuns der Regierung. Und wir nehmen für uns durchaus in Anspruch: Mancher
    Text ist erträglicher geworden, mancher wurde besser formuliert, weil wir unablässig drängten.

    (Bundeskanzler Schmidt: Ha, ha!)

    — Herr Bundeskanzler, Sie rufen: Ha, ha! —, z. B. in der Frage: Wie kann Berlin gesichert werden? In den Texten steht jetzt, was vorher nicht der Fall war — der Bundesaußenminister beruft sich im Ausschuß und hier darauf, daß dies ein großer Erfolg sei —: Sie gelten in ganz Europa. Niemand kann bezweifeln — Herr Bundeskanzler, auch Sie nicht —, daß wir mit größter Energie darauf gedrängt haben. Wir loben die Regierung, daß sie zumindest dieses Minimum zustande gebracht hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat uns wieder versichert, daß die Konferenz von Genf die deutsche Frage nicht berühre, daß alles offengeblieben sei und daß Berlin gesichert bleibe. Verzeihen Sie, wenn ich sage: Wir sind da skeptischer. Es kann ja sein — darin besteht ja das Wesen der parlamentarischen Auseinandersetzung —, daß man bei der Lektüre der gleichen Texte zu unterschiedlichen politischen Auffassungen kommt. Wir sind skeptischer hinsichtlich all der vielen Hoffnungen, die mit diesen Texten verbunden worden sind, vor allen Dingen dort, wo es unser eigenes Land und wo es Berlin betrifft. Meine Damen und Herren, wir können die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, daß andere es anders sehen als die Regierung und daß die Sowjetunion diese Konferenz aus Gründen angestrebt und jetzt mit vielerlei Druck zum Abschluß gebracht hat,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    die der Auffassung der Bundesregierung entgegenstehen. Denken Sie doch bitte daran, welchen Reiz die Bundesregierung auf Propagandisten der anderen Seite ausübt, wenn sie, was wir aus unserer eigenen Überzeugung heraus selbstverständlich unterstützen, sagt, die deutsche Frage sei offen geblieben. Die Sowjetunion begreift die Unterschrift von 35 Staatsmännern unter dieses Bündel von Papieren als Besiegelung dessen, was sie als militärische Eroberung und ideologisch-politisch gewaltsame Umformung in Ost-Mitteleuropa erzwungen hat. Für sie ist — man lese in sowjetischen Zeitungen — diese Konferenz ein Ersatzfriedensvertrag, für uns natürlich nicht, weder für irgendeinen in der Opposition noch für die Regierung.
    Wir halten fest — und dies ist ein wichtiger Teil, den auch wir, die Opposition, hier in die Ostdebatte, in die Auseinandersetzungen um die Ostverträge eingebracht haben — an jedem Wort des Briefes zur deutschen Einheit, und wir halten fest an jedem Wort der gemeinsamen Entschließung — gemeinsamen Entschließung! — des Deutschen Bundestages, und wir fühlen uns verpflichtet, dem zu folgen, was das oberste deutsche Verfassungsgericht zum innerdeutschen Grundvertrag gesagt hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Aber, meine Damen und Herren, die Sowjetunion hat damals schon die Ostverträge als eine endgültige Festschreibung der Teilung Deutschlands in



    Dr. Marx
    Europa verstanden. Und sie hat unsere offiziellen
    Schriftstücke behandelt wie lästiges und unnützes
    Archivmaterial. Das kann man doch nicht vergessen.
    Was mich aber — darf ich das bitte sagen — doch sehr besorgt macht, ist die Tatsache, daß in der sozialdemokratischen Zeitung „Vorwärts" gerade jetzt ein schauerlicher Artikel erschienen ist, in dem, meine Herren, einer Ihrer treuesten journalistischen Freunde die eben genannte Bundestagsresolution, die wir miteinander beschlossen haben, herunter macht, der sie als „schrecklich" bezeichnet und der sagt — hören Sie bitte genau zu —, wer im Geist der Verträge Ostpolitik machen wolle — jetzt zitiere ich —,
    muß die Resolution wie das Urteil
    — er meint das Bundesverfassungsgerichtsurteil — ignorieren.

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, um die zynische Gebrauchsanweisung für eine schädliche und unaufrichtige Politik, die ich darin sehe, zu vervollständigen, wird in dem gleichen Artikel von dem gleichen Autor im „Vorwärts" empfohlen, daß man bei dieser Mißachtung aber so geschickt sein solle, daß man weder mit der Entschließung — wie es dort heißt — noch mit dem Urteil von Karlsruhe kollidieren, also zusammenstoßen, dürfe.
    Meine Damen und Herren, solche Stimmen werden von dem östlichen Partner gerne gehört. Sie betreiben dessen Politik.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/ CSU — Börner [SPD] : Unerhört! — PfuiRufe von der SPD)

    — Meine Damen und Herren, ich möchte doch an dieser Stelle, weil ich sehe, daß Herr Börner, der sonst die Parolen ausgibt, „unerhört" und „pfui" ruft, sagen: Sie können sich doch nicht auf die Seite eines Mannes stellen, der uns allen vorschlägt, wir sollten eine Ostpolitik treiben vorbei an der Entschließung und in der Negierung der auch von Ihnen, Herr Börner, und Ihrer Fraktion hier unterzeichneten, hier gemeinsam beschlossenen Entschließung des Bundestages. Dies können Sie doch aufrichtigerweise nicht tun.

    (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf des Abg. Börner [SPD])

    Ich habe den Artikel ja nicht geschrieben, aber Sie werden doch zugeben, daß es richtig ist, wenn ich sage und wiederhole, daß man damit die Politik der anderen Seite unterstützt.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren! Wir wissen, wie die andere Seite — wir sehen schon erste Anklänge; ich komme nachher darauf zurück — die Genfer Papiere interpretieren will und wie sie ihrer Auslegung vieldeutiger Texte den nötigen Nachhall — vielleicht auch dadurch, daß man ein bißchen die militärischen Muskeln spielen läßt — verschaffen will.
    „Vieldeutige Texte" habe ich gesagt, vieldeutig deshalb, weil es der anderen Seite gelungen ist, ihre
    Behauptungen von der Unverletzbarkeit der Grenzen, auf die keine Anschläge unternommen werden dürfen, gut plaziert in das Prinzip III zu bringen. Herr Bundesaußenminister, Sie haben gesagt, es sollte keiner, auch nicht in Gedanken, der Versuchung unterliegen, die Formulierung „Anschläge" auch nur in die Nähe unserer Wiedervereinigungspolitik zu bringen. Sie haben unsere vollständige Unterstützung. Aber Sie müssen bitte zugeben, daß z. B. die sowjetische Seite für „Anschläge" einen Ausdruck hat, der weitaus schillernder als der deutsche, der englische und der französische ist. Sie werden, wenn Sie Herrn Poljanow in der „Iswestija" von gestern lesen, finden, daß dort die gleiche Formel „Anschläge" verwendet wird, nämlich: eine Politik, die der anderen Seite nicht gefällt, wird als „Anschlag auf Frieden und Fortschritt" bezeichnet. Bitte, Herr Bundesaußenminister, wir sind es nicht, die den Begriff „Anschläge" auch nur in die Nähe unserer Wiedervereinigungspolitik bringen. Das ist doch die andere Seite. Lassen Sie sich doch von den Herren Ihres Hauses die Unterlagen dafür zur Verfügung stellen! Sie sind viel zu reichhaltig, als daß man bereit sein könnte, daran vorbeizugehen.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Dies ist das Problem!)

    Nach langem und zähem Ringen, wobei die deutsche Delegation sich besonders angestrengt hat, ist eine Formulierung fertiggestellt worden, wonach die Teilnehmerstaaten der Auffassung sind — ich zitiere —, „daß ihre Grenzen in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht durch friedliche Mittel und durch Vereinbarungen geändert werden können". Als diese Formulierung gefunden und registriert war, wie man in Genf sagt, hat man sich hier gebärdet, als ob dies ein großer Triumph sei. Wir sind zufrieden, daß es eine Formel gibt — eine Formel, die lediglich Selbstverständlichkeiten aussagt. Diese Selbstverständlichkeiten zu wiederholen, war bis in die letzten Konferenztage hinein außerordentlich umkämpft. Aber ich darf noch hinzufügen, daß die friedliche Grenzänderung nun eben doch nicht an das Selbstbestimmungsrecht gebunden wurde. Diese Tatsache kann die Bundesregierung kaum als ihren Erfolg verkaufen.
    Meine Damen und Herren, Sie sagen, die Konferenz sei keine Konferenz über Deutschland gewesen. Richtig. Aber sie darf natürlich auch nicht eine Konferenz ohne die gebührende Berücksichtigung unserer deutschen Interessen sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Aber — daran wird hoffentlich niemand in der Bundesregierung zweifeln — sie war, wie das Prinzip III zeigt, in ihrer ganzen Vorbereitung und Durchführung eindeutig auf Deutschland hin gezielt.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

    Mit dem ominösen Satz, man müsse sich — ich zitiere wieder — „jeglicher Forderung oder Handlung enthalten, sich eines Teils oder des gesamten Territoriums eines Teilnehmerstaates zu bemächtigen", will die Sowjetunion jede Diskussion über die



    Dr. Marx
    deutsche Wiedervereinigung ersticken und, falls sie doch geführt werden sollte, als Verletzung der Prinzipien der KSZE angreifen.
    Sprechen wir es offen aus: nach sowjetischer Auslegung — und die ist eben für uns wichtig, weil dies der andere große Partner ist, der bei diesen Verträgen eine sehr wichtige Rolle spielte — wäre eine Wiedervereinigung nur noch im Wege der sogenannten Konföderation beider Staaten in Deutschland möglich. Was Ulbricht im Jahre 1958, wenn ich recht erinnere, in einem Interview mit der „Neuen Ruhr-Zeitung" und der „Neuen Rhein-Zeitung" verlangte, nämlich eine deutsche Konföderation, ist jetzt dank der formidablen Geschicklichkeit dieser und der vorhergehenden Regierung die einzige denkbare Möglichkeit in den Augen der Sowjets geworden. Dieser Gedanke mag für andere bequem sein. Für uns ist er unerträglich.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die Genfer Texte haben in sowjetischen Augen aber eine weit über die deutschen Belange hinausgehende Wirkung, nämlich die Endgültigkeit jener durch Zwang hergestellten Ordnung, die von der östlichen Vormacht in Osteuropa gegen das Völkerrecht, sogar gegen viele Abmachungen von Jalta durchgesetzt worden ist.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU)

    Jede nationale und freiheitliche Regung in Osteuropa, die sich gegen die Okkupation z. B. Bessarabiens und der Nordbukowina, der Karpatho-Ukraine, Ostpolens, des nördlichen Ostpreußens, der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen richtet, wäre ein Verstoß gegen die Genfer Übereinkünfte. Dort wird — ebenso wie in Mitteldeutschland — bei Beibehaltung des totalitären Systems niemand sagen können, friedliche Grenzveränderungen seien nach Übereinkunft der Betroffenen möglich. Man weiß doch, daß die Menschen dort schweigen müssen und ihnen jede Chance genommen ist, ihr Selbstbestimmungsrecht auszuüben und ihre Menschenrechte wahrzunehmen.

    (Sehr wahr! bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, zwar sind Gewaltverzicht und Okkupationsverbot, rechtliche Gleichheit und territoriale Integrität, Freiheit und politische Unabhängigkeit, Menschen- und Individualrechte, Religions-, Gewissens-, Gedanken- und Überzeugungsfreiheit, Selbstbestimmung und Menschenwürde im Prinzipienkatalog feierlich garantiert. Das Ganze ist damit festlich drapiert. Aber angesichts der harten Tatsachen in einem Teil Europas bringt die Wiederholung dieser schön klingenden Formeln, ohne daß man über Möglichkeiten verfügt, die andere Seite zu veranlassen, nicht nur zu schreiben, sondern sich auch so zu verhalten, wie sie schreibt, keine neue politische Wirklichkeit.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Was in der Charta der Vereinten Nationen, in den Statuten der UNESCO, in den Menschenrechtspakten bereits als Grundlage menschlichen und staatlichen Zusammenlebens verankert ist, ist leider nur zu einem geringen Teil verwirklicht worden; zum
    großen Teil blieb es Papier. Warum? Weil die Sowjetunion alle diese hehren Forderungen, Prinzipien, Erklärungen und Verpflichtungen zwar unterschrieben, aber nicht verwirklicht hat, weder im eigenen Lande noch in den von ihrem System überzogenen Staaten Ostmitteleuropas noch in dem von ihr geschaffenen Teil Deutschlands.
    Meine Damen und Herren, der Westen hat dem sowjetischen Konferenzziel mit Nachdruck — der Herr Bundesaußenminister hat vorhin darauf hingewiesen; auch diesen Nachdruck, Herr Kollege Genscher, unterstützen wir — sein eigenes entgegengestellt: Freizügigkeit für Menschen, Informationen, Ideen und Meinungen in ganz Europa. Das haben wir in diesem Hause als Zielvorstellung einer CDU/ CSU-Politik vorgetragen und oft diskutiert. Der Westen hat diese Formulierung dann übernommen, und es lohnte sich, zu dieser Konferenz zu gehen, um darum zu ringen. An dieser Stelle zitiere ich noch einmal den Außenminister, der sagte:
    Niemand hat ein größeres Interesse als wir Deutsche daran, daß die Konferenz ihr Ziel erreicht, die Beziehungen und die Kontakte auch zwischen den Menschen in ganz Europa zu verbessern.
    Herr Bundesaußenminister, selbstverständlich ist dies ein wichtiges und großes Ziel. Selbstverständlich haben wir dies — auch von uns aus — als die Meinung des ganzen Westens bezeichnet. Um einen Erfolg in dieser Richtung zu erringen, haben wir in der Oktoberdebatte ja gesagt, diese Konferenz sei eine Chance. Erlauben Sie, daß ich aus meiner damaligen Rede jetzt noch einen Satz wiedergebe — ich zitiere —:
    Wenn man ... sagen ... müßte, dieses Mehr an Freiheit in Europa ... sei nicht zu erreichen ..., weil die östliche Seite jede Forderung danach ohnehin als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten, als. Infiltration, als Export ideologischer Konterbande diffamiert, dann sollte das ganze Unternehmen rasch und ohne feierliche Unterschrift beendet werden.
    Jedes Wort, das wir damals gesagt haben, gilt angesichts der Texte des sogenannten Korbes 3 auch heute noch.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, die Bundesregierung sagt, die sowjetischen Wünsche seien bei weitem nicht erfüllt worden. Das ist richtig. Manche Hoffnungen, die man in Moskau mit der Konferenz verbunden hatte, sind nicht realisiert worden. Bei einer Konferenz von 35 Staaten unter dem Konsensprinzip kann das ja auch gar nicht anders sein. In der ersten Hälfte des Juni zeigte die Sowjetunion aber, daß sie genügend Vorteile und Zugeständnisse eingesammelt hatte, um auf ein rasches Konferenzende zu drängen. Alles andere, was sie jetzt zwar nicht im ersten Anlauf erreicht, aber keineswegs aufgegeben hat, will sie dann in späteren Konferenzen durchdrücken. Ein wichtges Etappenziel ist erreicht. Die gewünschten Platzvorteile sind gesichert. Nun kann die Propaganda beginnen und zugleich der Versuch des Westens und der Neutralen abgewehrt werden,



    Dr. Marx
    konkrete Festlegungen für die Menschen, für ihren unbehinderten Verkehr in Ost und West, für freie Informationen und einem umfassenden gleichgewichtigen Kulturaustausch zu erreichen.
    Meine Damen und Herren, als die deutsche Seite dem Drängen nach einem raschen Abschluß, dem, wie wir es genannt haben, Überrumpelungsmanöver Widerstand leistete und unter Ihrer Losung, Herr Kollege Genscher, „Klarheit geht vor Tempo" auf Weiterverhandlungen drängte, da häuften sich sofort die Angriffe auf diejenigen, die, wie der sowjetische Außenminister sagte, künstliche Probleme schüfen. Damit war natürlich die Opposition, aber, Herr Bundesaußenminister, damit waren auch Sie, damit war Ihr Kollege Leber gemeint. Sie, Herr Kollege Genscher, werden in vielen Verlautbarungen der anderen Seite als Bremser bezeichnet, als Mann, der sich, wie es dort heißt, in zunehmende Isolierung hineinmanövriere. Sehen Sie, so rasch können unsinnige Vorwürfe konstruiert werden, so rasch können fingerfertige Propagandisten diejenigen, die sich dem sowjetischen Druck und Sog erwehren wollen, diffamieren und als isoliert abstempeln. Einige in diesem Hause, meine Damen und Herren, und manche draußen sollten sich eigentlich zu schade sein, die dümmliche Formel, daß derjenige sich isoliere, der aus seiner eigenen wohlverstandenen Verantwortung nicht im allgemeinen bequemen Strom mitschwimmt, nachzuplappern.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, was ist nun im sogenannten Korb 3 — mehr Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Meinungen — herausgekommen? Offen gesagt, der Westen hat das gesteckte Ziel nicht erreicht, der Durchbruch ist ihm nicht gelungen. Die Sowjetunion — ich sage es noch einmal — hat längst unterschriebene, aber nie befolgte Festlegungen aufs neue als humanitäre Erwägungen zum Gegenstand von Verhandlungen und Kompromissen gemacht. Was herauskam — lesen Sie bitte noch einmal die Texte — ist durchweg enttäuschend. Da sind Übereinkünfte über Formeln, aber nicht über Sachverhalte getroffen worden. In unseren Ohren — Herr Kollege Brandt, ich übernehme eine Formulierung von Ihnen, die Sie allerdings in ganz anderem Zusammenhang gebraucht haben — nimmt sich dieser „Formelkram" merkwürdig, ja, mitunter zynisch aus. Meine Damen und Herren, es handelt sich um einen wahren Supermarkt von Attrappen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Herr Kollege Stücklen wird zu diesem Korb 3, zu diesen weithin dubiosen und vagen Erklärungen, hier noch sprechen. Ich füge aber noch einmal hinzu, was ich auch öffentlich gesagt habe: Was dabei herausgekommen ist, geht weit hinter die Bestimmungen der Vereinten Nationen zurück. Auch das muß man festhalten.

    (Jäger [Wangen] [CDU/CSU] : Sehr wahr!)

    Meine Damen und Herren, allein schon die Formel „wohlwollend" ruft bei uns Erinnerungen an den Vertrag mit der CSSR wach, einen Vertrag, den Sie, Herr Kollege Genscher, als einen Teil des
    Entspannungsprozesses oder einen Vertrag, der den Entspannungsprozeß gefördert habe, bezeichnet haben. In dem deutsch-tschechoslowakischen Vertrag ist die „wohlwollende Prüfung" von Anträgen auf Reisen und Familienzusammenführungen zugesagt worden. Die Bundesregierung hatte sich das damals als besonderes Verdienst angerechnet. Aber, meine Damen und Herren, leider muß man sagen, es ist unbestreitbar richtig, daß seit der Einführung dieser Formel weit weniger Deutsche aus der CSSR herüber dürfen als früher, bevor es einen Vertrag gegeben hat. Deshalb, meine Damen und Herren, weigern wir uns auch bei dem dritten Hauptteil der KSZE von humanitären Regelungen zu sprechen. Vielmehr sprechen wir — und ich glaube, dies ist viel exakter — von Hoffnungen auf verringerte Unmenschlichkeit.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, was von manchen dieser Gelöbnisse zu halten ist, daß man ungehinderter Informationen erhalten könne, haben wir jüngst — und ich nenne nur diese beiden — an zwei Vorfällen wieder deutlich gemacht erhalten. Ich denke einmal an die Weigerung der Tschechoslowaken, unserem Kollegen Kunz, nur weil er Berliner Abgeordneter ist, der, wie jeder von uns, mit Diplomatenpaß reist, ein Visum zu verschaffen. Herr Kollege Mattick, falls Sie nachher sprechen, wäre ich dankbar, wenn Sie vielleicht als Abgeordneter dieses Hauses, als einer der ältesten Abgeordneten, als Sprecher Ihrer Fraktion, als Leiter Ihres Arbeitskreises für Außenpolitik diesem Hause etwas mitteilen könnten, welche Erfahrungen Sie gemacht haben, seit es diese Art von Entspannungspolitik gibt, wenn Sie Anträge gestellt haben, um als Berliner Bundestagsabgeordneter in osteuropäische Staaten zu fahren.
    Zum zweiten, meine Damen und Herren, nenne ich die erstaunlichen Zensuren, denen die positiven Stellen in den Reden des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in dem sowjetischen Massenmedien während seines Moskau-Aufenthaltes unterworfen wurden. Aber offenbar, Herr Kollege Brandt, haben die Sowjets Sie richtig eingeschätzt: Sie haben es sich gefallen lassen, daß an Ihnen selbst, obwohl Gast des mächtigsten Mannes der Sowjetunion, obwohl kräftig umworben, ein Exempel statuiert wurde, was man nämlich im Lande Lenins unter Informationsfreiheit versteht und wie man künftig in einer erwünschten Art der Volksfront mit dem ideologischen Gegner und taktischen Partner umzugehen gedenkt.
    So wichtig man die Genfer Texte auch nehmen mag: die Konferenz selbst paßt nicht, meine Damen und Herren, zur europäischen Wirklichkeit, denn während man in Genf um subtile Passagen verhandelt, während man Satzteile hin- und herschiebt, den Stellenwert einzelner Formulierungen untersucht und eifrig die Gebetsmühlen der Entspannungsterminologie dreht, während dieser Zeit eilt der Kontinent selbst immer neuen Spannungen entgegen.
    In Portugal zum Beispiel — jeder kann das täglich beobachten — wird in praxi das reine Gegen-



    Dr. Marx
    teil der feierlichen Friedens- und Entspannungsbeschwörungen betrieben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Dort, an einem wichtigen Scharnier der atlantischen Welt an der Südwestecke Europas, wird sich jetzt erweisen, was diese Entspannung und was alle die vielen feierlichen und hehren Versicherungen von Genf wirklich wert sind.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, niemand sollte glauben, wir würden uns in die warmen Tücher der Entspannungsillusion einhüllen lassen, wenn zur gleichen Zeit im Lande eines Verbündeten nach dem Absterben der dortigen Diktatur jetzt die kommunistische Internationale, kräftig mit Geld und Rat und Tat aus dem Ostblock versorgt, zugreift, um die zarte Pflanze demokratischer pluralistischer Entwicklungen zu ersticken. Was in Portugal in den letzten Monaten und Wochen vor sich gegangen ist, widerspricht eklatant den braven Deklamationen von Genf, es bestätigt aber die spezifische, die kommunistische Interpretation der Genfer Papiere. Es zeigt, wie im handgreiflichen Falle Entspannung und Zusammenarbeit in Europa wirklich aussehen können. Es zeigt, daß die Sowjetunion, ihre Freunde und Helfer nicht zögern, während sie in Genf von Friedfertigkeit sprechen, den Bürgerkrieg in einem Lande zu aktivieren, das weit in der westlichen Hemisphäre liegt.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, dies ist eine ganz ernste Sache. Wir alle sind ja Zeugen dieser Vorgänge der Ausschaltung demokratischer Parteien in Portugal, der Negierung jener Wahlergebnisse, die trotz erheblichem Druck noch ein relativ verläßliches Spiegelbild des politischen Willens der Portugiesen bilden, der Vernichtung der Pressefreiheit, der partiellen Zerstörung des Eigentums, des Triumphes politischer und ökonomischer Stupidität, mal im Rock des Politfunktionärs, mal in der Uniform des Soldaten vorgetragen. Meine Damen und Herren, das alles macht die Erklärungen von Genf zu einem ganz dubiosen Papier. Das macht sie zu Formeln der Täuschung, und es ist möglich, daß viele das verstehen als Instrumente einer falschen Beurteilung und Beruhigung.
    Meine Damen und Herren, es sind die gleichen Hände, die in Genf Papiere mit Friedensformeln beschreiben, in Lissabon aber in den Spalten aller Zeitungen, jetzt auch der sozialistischen Zeitung von Herrn Rego, der „República", den Klassenkampf anheizen. Es sind die gleichen Geister, die in Genf von Gedanken- und Koalitionsfreiheit reden und die das dann in Helsinki unterzeichnen, die in Lissabon westliche Demokraten, Liberale und Sozialisten als Feinde der Entspannung und Zusammenarbeit diffamieren

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

    und sie mit allen möglichen Formen grober und subtiler Gewalt ausschalten, wenn es um die Ausübung der ihnen zukommenden legitimen Rechte geht.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, ich habe mich in diesen Tagen oft gefragt, ob unsere Regierung tatsächlich bereit sein könnte, ihre volle Zufriedenheit mit den Genfer Papieren zu erklären. Ich habe mich gefragt, ob sie frohgestimmt nach Helsinki reist, obwohl sie doch weiß, daß Berlin ständig unter Druck bleibt. Während der Konferenz haben die Sowjets den Westmächten eine Note ins Haus geschickt, in der die Abreden des hier in diesem Hause lange besprochenen und gerühmten Berlin-Abkommens einfach übergangen werden; eine Viermächteverantwortung für Berlin als Ganzes — so sagt diese so, wjetische Note — gebe es schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Er wird also, bevor die Konferenzdokumente unterschrieben sind — damit nur jeder weiß, was er hinterher erwarten kann —, offen das in Frage gestellt, was uns vor einigen Jahren noch als Erfolg geboten wurde.
    Es wird auch — Herr Kollege Brandt wird es wohl bezeugen können — die Formel des Petersberger Treffens mit Herrn Breschnew von der „strikten Einhaltung und vollen Anwendung" des Viermächteabkommens auf der anderen Seite nicht mehr wiederholt. Ich weiß, Herr Kollege Brandt, daß Sie diese Formel in Moskau gebraucht haben, wohl auch als Antwort auf eine Rede von Breschnew; aber die Wiedergabe dieser Ihrer Rede in sowjetischen Zeitungen enthält diese Ihre dort gebrauchte Formel so, wie sie die Pressestelle Ihrer Partei, der SPD, hier verbreitet hat, nicht, sondern statt dieser Formel ist eine andere hineingebracht worden, die offensichtlich der Seite Ihrer Gesprächspartner eher paßte.
    Meine Damen und Herren, Sie, Herr Außenminister, haben gesagt, Berlin — von dem wir immer gesagt haben, es sei der Prüfstein für Entspannung in Europa — dürfe nicht zu einem weißen Fleck auf der KSZE-Landkarte werden. Aber es steht zu befürchten, daß es zu einer Grauzone wird und daß in Berlin, statt zusätzliche Sicherheit zu gewinnen, zusätzliche Gefährdung möglich wird. Wo — zeigen Sie es uns bitte! — ist für die praktische Berlin-Politik, für die eindeutige Sicherung der Stadt, für die volle Bewahrung des Inhalts — und jetzt übernehme ich einmal die Formel „Buchstabe und Geist" — des Berlin-Abkommens mit den KSZE-Papieren ein Vorteil errungen worden?
    Ich habe mich gefragt, ob man übersehen will, daß während des Genfer Spektakulums fertig formulierte Verträge zwischen Bonn und Moskau einfach liegenbleiben, weil Moskau nicht will, daß sie auch auf Berlin erstreckt werden, ob man vergessen machen will, daß bei den Vereinten Nationen die Vertretung West-Berlins durch die Bundesregierung vom Ostblock ständig als unrechtmäßig gerügt wird, ja, daß dort sogar mit geharnischten Sowjetnoten begonnen wurde, den Namen unseres Landes in „Bundesrepublik Deutschlands" — Genitiv: Deutschlands! — umzuändern.
    Meine Damen und Herren, in einer Sitzung des Auswärtigen und des innerdeutschen Ausschusses hat gestern — ich nehme nicht an, daß ich damit Vertraulichkeit breche — der Herr Bundesminister Franke treuherzig und gutgläubig

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)




    Dr. Marx
    — dies ist eine versöhnliche Geste, Herr Kollege Franke, daß die Fraktion der CDU/CSU bei „treuherzig und gutgläubig" auch klatscht —, aber, so füge ich hinzu, offenbar durch Erfahrungen nicht belehrbar ausgeführt, jetzt, nach den Unterschriften unter die Genfer Papiere, werde es keiner Seite mehr möglich sein, sich nur jene Teile herauszunehmen, die ihr besonders gefallen.

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    Und er hat hinzugefügt, dies gehe auch nicht, weil eine gemeinsame politisch-moralische Bindung vorhanden sei. Verzeihen Sie, ich würde gern ausrufen: O heilige Einfalt!

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Der innerdeutsche Minister, Herr Minister Franke, Sie, der Sie jeden Tag die ganze Fülle des Elends auf dem Tisch haben, der Sie sich jeden Tag mit nichts anderem beschäftigen müssen als mit der Tatsache, daß sich die früher erweckten Hoffnungen eben nicht erfüllt haben, daß Ihnen Tausende von Leuten schreiben, weil sie hoffen, daß das früher hier von dieser Stelle Mitgeteilte nun auch Realität werde, — ausgerechnet Sie, Herr Kollege Franke, können doch nicht wirklich glauben, es gebe jetzt in dieser geschichtlichen Phase eine von der anderen Seite akzeptierte gemeinsame politischmoralische Bindung. Fassen Sie doch bitte einmal in Moskau und in Ost-Berlin nach. Begreifen Sie doch endlich, meine Damen und Herren, daß für viele Leute, die die Koexistenz zur Grundlage ihrer Außenpolitik gemacht haben, die friedliche Koexistenz die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist.
    Meine Damen und Herren, nehmen Sie doch bitte die propagandistische Sprachregelung von Radio Moskau, Datum: vorgestern, zur Kenntnis. Dort versucht die östliche Seite, ihre „Teile", Herr Franke, die ihr besonders gefallen, herauszunehmen, und sie sagt nicht, wie es im Text, der uns vorliegt, heißt: Alle Prinzipien werden — ich zitiere — „gleichermaßen und vorbehaltlos angewendet", sondern dort wird gesagt, es gebe ein „Kernstück" dieser Charta der friedlichen Koexistenz in Europa, und daneben, neben dem Kernstück, gebe es „Leitsätze" der Entwicklung politisch-wirtschaftlicher Zusammenarbeit, und — man höre! — daneben gebe es — ich zitiere — „Formeln" auf dem Gebiete der Kultur, des Bildungswesens, der Information und der Kontakte. Und es wird hinzugefügt: „ohne allerdings" — ich zitiere —„die innere Ordnung der Souveränität der Staaten zu berühren."

    (Hört! Hört!)

    Meine Damen und Herren, mit einer solchen Betrachtungsweise sind unsere Vermutungen und Befürchtungen bereits vor der Unterzeichnung bekräftigt, die Meinung der Regierung, repräsentiert durch Herrn Kollegen Franke, ist widerlegt, und Radio Moskau selbst beginnt, die Texte gegen Buchstaben und Geist, gerade erst ausgehandelt, zurechtzustutzen.
    Meine Damen und Herren, in Genf wurde auch, und zwar bis zur letzten Stunde, über freiwillige Manöverankündigungen verhandelt. Man nennt das dort „vertrauensbildende Maßnahmen". Ich will über die Einzelheiten dieser Sache nichts sagen, aber ich finde, daß das Wort Vertrauen im Blick auf die deutschen Zustände, im Blick auf die Entwicklung in Europa, im Blick auf die Tatsache, daß in unserem Lande nach all den Beteuerungen von Entspannung und Friedfertigkeit immer noch auf Deutsche geschossen wird , — ich finde die Formulierung des Wortes „Vertrauen" für regelrecht überspannt. Meine Damen und Herren, Vertrauen kann dort begründet werden, wenn die Zusagen der sowjetischen Seite in Berlin z. B. eingehalten werden und wenn man nicht versucht, in Portugal eine kommunistische Diktatur zu errichten.
    So zeigt sich hier besonders augenfällig, daß die Konferenz über Sicherheit auch geeignet ist, falsche Hoffnungen zu erwecken; und es zeigt sich ja, daß eine ganze Reihe von führenden politischen Persönlichkeiten, darunter der Außenminister soeben in seiner Rede, vor dem Irrglauben warnen müssen, nach Genf und Helsinki seien Wachsamkeit und Verteidigungsbereitschaft nicht mehr nötig.
    Wenn wir die Veränderungen in der Welt und in Europa, wenn wir den Vormarsch der totalitären Macht, die unablässige Steigerung militärischer Machtentfaltung — das muß man ja hinzufügen! — in Europa, in der Mitte, an seinen Flanken, wenn man die gewaltige Rüstung der sowjetischen Flotte, der Luftwaffe, der atomaren Raketen beachtet, wenn wir dies alles als einen Ausdruck imperialer Macht und ideologischer Zielsetzung ansehen und dazu dann die Papiere von Genf legen, dann verstehen wir die Doppelstrategie sowjetischer Politik.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Aber ich vermute, daß man merkt, wie sehr in westlichen Ländern das Maß von Klarheit und Einsicht in diese Politik wächst.
    Nun, meine Damen und Herren, in den letzten Monaten sind manche Stimmen der sonst Stummen aus den Tiefen des östlichen Raumes ans Ohr des erschrockenen Westens gedrungen: Appelle von vielen Tausenden deutscher Deportierter aus weiten Teilen der Sowjetunion, Appelle, adressiert an die KSZE: „Helft uns, und vergeßt uns nicht!", Appelle von Wissenschaftlern, Künstlern, Dichtern und Musikern, Appelle an die KSZE: Helft uns, und vergeßt uns nicht!
    Und einer, meine Damen und Herren, nämlich Alexander Solschenizyn, hat die Welt bezüglich der KSZE aufgerüttelt. Da rümpfen, wie ich sehe, einige die Nasen, einige, die im Wohlstand leben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Da ist ihnen manche kräftige Erinnerung an die Wirklichkeit in weiten Teilen Europas zu unbequem, da ist ihnen der Aufruf, diese KSZE jetzt nicht zu unterschreiben, zu hart.
    Aber, meine Damen und Herren, wir sollten jenen zuhören, die mutiger sind als viele unter uns, auch mutiger als ich. Wir sollten ihre Erfahrungen ver-



    Dr. Marx
    stehen und ihre Kenntnisse nicht in den Wind schlagen.
    Deshalb trage ich Ihnen zum Schluß einige Sätze einer Rede von Solschenizyn vor, die jeden von uns auf allen Seiten dieses Hauses, auf den Bänken der Regierung und auf den Bänken der Opposition, angeht. Es handelt sich nicht um Textkritik der KSZE. Es handelt sich — das ist viel wichtiger, viel dringender, drängender und beschwörender — um Bitten, die einer, der herausdurfte, für Millionen ausdrückt:
    Es muß abgerüstet werden, nicht nur in bezug auf den Krieg, sondern in bezug auf jegliche Gewaltanwendung. Es darf kein Apparat zur Kriegsführung mehr zurückbleiben, aber auch nicht zur Gewaltanwendung. Das heißt, nicht nur jene Waffen müssen beseitigt werden, mit denen Nachbarn vernichtet werden, sondern auch jene Waffen, mit denen die eigenen Landsleute unterdrückt werden. Das ist keine Entspannung, wenn wir heute hier
    — er spricht von Amerika aus —
    mit Ihnen die Zeit angenehm verbringen können, während dort Menschen schmachten und zugrunde gehen ... Entspannung ... darf nicht auf Lächeln begründet sein, nicht auf mündliche Zugeständnisse. Sie muß wie auf einem Felsen ruhen ... Es müssen feste Garantien dafür gegeben sein, daß die Entspannung nicht eines Nachts oder eines Morgens abgebrochen wird. Aber dafür ist notwendig, daß es eine Kontrolle über die andere Seite gibt, die in den Entspannungsprozeß einbezogen ist. Eine Kontrolle durch die Offentlichkeit, durch die Presse, durch ein freies Parlament. Solange es eine solche Kontrolle nicht gibt, gibt es auch keine Garantie.
    Ich bedanke mich.

    (Langanhaltender, lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)



Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Meine Damen und Herren, das Wort hat Herr Abgeordneter Brandt.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man zu einer angemessenen Beurteilung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa kommen will, dann darf man sich nicht von Wunschvorstellungen, auch nicht von Vorurteilen leiten lassen.

    (Beifall bei der SPD und demonstrativer Beifall bei der CDU/CSU)

    Und man darf, meine verehrten Anwesenden und auch mein sehr geschätzter Herr Vorredner, nicht eine kurzatmige, geradezu geschichtslose Betrachtung hier zugrunde legen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Lachen und Zurufe von der CDU/CSU)

    Mit der Konferenz von Helsinki wird ganz gewiß kein goldenes Zeitalter anbrechen. Die innereuropäischen Gräben werden nicht zugeschüttet, Mauern noch nicht abgetragen, hochgerüstete — —

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    — Ja, ich sage „noch". Als ob nicht auch Sie hofften, daß es „noch" heißen muß und nicht heißen soll: „überhaupt nicht" !

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Hochgerüstete Armeen werden weiter einander gegenüberstehen, der Streit zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen und weit voneinander abweichenden Grundwerten geht weiter.
    Und doch werden wir es mit einem wichtigen Datum zu tun haben,

    (Strauß [CDU/CSU] : Diese Wertneutralität, die er immer an den Tag legt!)

    wenn Kardinalstaatssekretär Villot, Herr Kollege Strauß, am kommenden Mittwoch in der finnischen Hauptstadt der ersten Sitzung der Staats- und Regierungschefs präsidieren wird.
    Um sich die Bedeutung dieser Konferenz klarzumachen,

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    muß man sich — ich komme auf meinen zweiten Satz zurück, ob er Ihnen gefällt oder nicht — des geschichtlichen Zusammenhangs erinnern. Und dazu gehört, ob es uns allen miteinander gefällt oder nicht, meine Damen und Herren, in dieser Stunde der schonungslose Hinweis auf den Zustand, in dem Hitler und seine Gehilfen vor 30 Jahren jenes Europa hinterließen, das zu unterwerfen sie sich vorgenommen hatten.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Strauß [CDU/CSU] : Zu den Gehilfen gehörte Stalin! — Weiter Zurufe von der CDU/CSU)

    — Meine Damen und Herren, warten Sie doch einen Augenblick! Mein nächster Satz lautet nämlich: Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewalt und Ausdehnung des sowjetischen Machtbereichs sind ursächlich miteinander verbunden.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Wir haben dann erlebt, wie die Allianz zwischen den Westmächten und der Sowjetunion den zweiten Weltkrieg nur knapp überlebte, wie der Kalte Krieg in den fünfziger Jahren und noch zu Beginn der sechziger Jahre auch in unserem Teil der Welt mehr als einmal bis hart an die, Grenze einer neuen militärischen Konfrontation führte.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Wie kam es dazu?)

    Wir haben erlebt, wie die beiden Supermächte schon vor Jahren bei aller weiterwirkenden Rivalität darangingen, die Gefahr einer nuklearen Konfrontation zu verhindern, sie nach Möglichkeit unter Kontrolle zu bringen. Auch in anderen Bereichen — und nicht allein auf die Weltmächte bezogen — haben wir gesehen, wie sich Elemente von Konfrontation und Kooperation miteinander vermengten.
    Meine Damen und Herren, ich meine, die weitreichenden Veränderungen der politischen Weltkarte gehören mit zu dem, was wir uns in diesem Augenblick bewußt machen sollten. Aber auch aus Europa ist wieder etwas anderes und schon wesent-



    Brandt
    lich mehr geworden als ein in russische und amerikanische Einflußzonen geteilter Kontinent.
    Dies und anderes, meine ich, gilt es vor Augen zu haben, wenn man die bevorstehende Konferenz in Helsinki richtig einordnen will. Die Tatsache selbst, daß sich — mit Ausnahme Albaniens — alle europäischen Staaten, die westlichen und die östlichen, die bündnisfreien und neutralen, und dazu die beiden nordamerikanischen Staaten zusammenfinden, hat allein ihr Gewicht. Vor zwanzig, vor zehn Jahren wäre das nicht möglich gewesen.
    Auch wenn man an die Grundsätze, die Leitlinien und Absichtserklärungen, die in der nächsten Woche in Helsinki verabschiedet werden, mit noch so viel Skepsis herangeht, auch wenn man sie auf Grund bitterer Erfahrungen oder aus welchen Gründen auch immer mit noch so vielen Fragezeichen versieht, — das Schlußdokument der europäischen Konferenz, an dem zweieinhalb Jahre gearbeitet wurde, bleibt ein Dokument von besonderem Rang. Ich habe jedenfalls vor, mich bei passenden Gelegenheiten darauf zu berufen, und ich vermute, ja, ich befürchte, daß es an Gelegenheiten nicht fehlen wird.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Wenn man sich klarmacht, meine Damen und Herren, wie mühsam um die Texte gerungen werden mußte, da sie in weiten Teilen ja nur auf dem Wege des Kompromisses zustande kommen konnten, ist es eigentlich überraschend, wieviel Substanz — neben den wohl unvermeidlichen Füllseln — zu Papier gebracht werden konnte. Vor zehn, auch vor fünf Jahren wäre das so nicht möglich gewesen.
    Wir haben nun gehört, was die Texte, unter die der Bundeskanzler am kommenden Freitag seinen Namen setzen wird, alles nicht bedeuten: daß sie nicht neues Völkerrecht begründen, daß sie Berlin nicht ausklammern, daß sie uns nicht daran hindern, mit friedlichen Mitteln für unsere nationalen Interessen einzutreten, daß sie es den Westeuropäern nicht erschweren, sich in einer Union zusammenzuschließen. Alle diese Feststellungen haben ihre Bedeutung und ihr Gewicht.
    Und doch möchte ich, daß wir an diesem Tage die andere Seite der Bilanz nicht ignorieren, daß wir sie nicht übersehen, daß wir also die Chancen nicht übersehen, die mit dem Vorgang von Helsinki verbunden sein können. Ich meine damit, die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa — um den genauen Titel noch einmal zu nennen — könnte ein Ausgangspunkt sein, durch den mehr Zusammenarbeit stimuliert werden kann, von dem aus einiges mehr als bisher geschehen kann, damit Menschen in Europa einander begegnen und Ideen aneinander gemessen werden können und damit immer noch vorhandenes Mißtrauen abgebaut werden kann, ein Ausgangspunkt hoffentlich auch, um zügige Fortschritte bei den Verhandlungen über den beiderseitigen ausgewogenen Abbau von Truppen und Rüstungen zu erreichen.
    Wenn mir Kollegen aus der Opposition hier entgegenhielten, sie würden es gern schon mit sehr viel mehr als Hoffnungen zu tun haben, so würde ich ihnen nicht widersprechen. Wenn die Kollegen der
    Opposition sagten, in den Texten für Helsinki sei der Ansatz zu dem, was man „vertrauensbildende Maßnahmen" nennt, eher bescheiden ausgefallen, so würde ich dem auch nicht widersprechen.

    (Vorsitz: Vizepräsident Dr. SchmittVockenhausen)

    Wenn Sie, die Kollegen der Opposition, mit uns in einen Dialog eintreten wollten, durch den die vielfache Widersprüchlichkeit der gegenwärtigen Lage beleuchtet würde, so könnte das vielleicht sogar manchem in unserem Volk weiterhelfen.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Das tun wir doch ständig!)

    Meine Damen und Herren, Rivalität und partieller Ausgleich, Rüstung und Entspannung nebeneinander, spektakuläre Kooperation im Weltraum bei besorgniserregender Konfrontation auf den Meeren, sich ausweitender Handel bei mangelnder Verständigung über Maßnahmen gegen den Hunger in der Welt, Bekenntnisse zur ideologischen Koexistenz bei unterentwickelter Bereitschaft zur eigentlichen geistigen Auseinandersetzung — nein, nicht nur der Normalbürger hat es schwer, sich in einem solchen Nebeneinander widerstreitender Tendenzen zurechtzufinden.
    Aber so ist die Welt, in der wir leben. Sie ist noch komplizierter geworden in den Jahren, die hinter uns liegen. Sie birgt Gefahren, aber auch Chancen.
    Diejenigen, die für die Opposition in diesem Hause das Wort führen, machen es sich und anderen unnötig schwer, wenn sie die Widersprüchlichkeiten des internationalen Geschehens beklagen — um nicht zu sagen: bejammern —, vor dem geschichtlichen Prozeß davonlaufen und sich mit allzu einfachen, zumeist engen und deshalb wenig hilfreichen Fragen zufriedengeben.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    So schön, meine verehrten Kollegen, war der Kalte Krieg nicht, daß man ihm nachtrauern müßte.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    So einfach sind auch die deutschen Fragen nicht, daß man sie allein mit Rechtsvorbehalten, durch Sondervoten oder gar durch nationale Isolierung beantworten könnte.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Nun habe ich den Eindruck, die Kollegen von der Opposition haben sich vor allem anderen vorgenommen, hier einheitlich aufzutreten. Das ist verständlich. Aber man muß befürchten — gestatten Sie mir die Bemerkung —, daß der Einheitlichkeit ein höherer Rang eingeräumt wird als dem Inhalt der Aussagen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Zuruf des Abg. Dr. Marx [CDU/CSU])

    Ich fürchte, wenn ich mir die Erörterung der letzten Wochen anschaue — es ist manches gesagt und geschrieben worden —: Hier wird nicht viel zu überzeugen sein.

    (Stücklen [CDU/CSU] : Die Befürchtung haben wir auch!)




    Brandt
    Trotzdem will ich den Versuch machen, einiges zurechtzurücken. Da gibt es einmal die Zwangsvorstellung, die Sowjetunion sei mit einer Forderung durchgedrungen, die sie vor 20 Jahren erhoben habe. So einfach ist das nun wirklich nicht. Die Sowjetunion und ihre Verbündeten forderten ursprünglich — so auch noch auf der Bukarester Konferenz des Jahres 1966 — die Auflösung der, wie sie sagten, Militärblöcke und die Entfernung der Amerikaner aus Europa.
    Inzwischen hat sich die realistische Auffassung durchgesetzt, daß man von den bestehenden Bündnissystemen ausgehen muß, wenn man sich an das wichtige Thema und Aufgabengebiet der Bedingungen für beiderseitige Truppenreduzierungen — eine westliche Initiative, wenn ich daran erinnern darf — heranarbeiten will. Es ist inzwischen von jedermann anerkannt worden, daß die Vereinigten Staaten und Kanada Partner der europäischen Konferenz sind, d. h., daß der sicherheitsmäßige Zusammenhalt zwischen Westeuropa und Nordamerika bestätigt wird. Das heißt weiter, daß die Amerikaner auf eine neue Weise, zusätzlich zu Siegerrechten und NATO-Bindungen, mit unserem Kontinent verbunden sind und ihm verpflichtet bleiben. Dazu ist es doch nicht von alleine gekommen! Ich kann mich noch gut genug an Unterhaltungen erinnern, in denen von den einen bestritten, von den anderen bezweifelt wurde — was ich wohl verstehen konnte —, was jetzt als selbstverständlich hingenommen wird.
    Und etwas anderes: Als wir 1970 den Moskauer Vertrag unterzeichnet hatten, da wurde ich hier bedrängt, ob denn nicht der Weg zur europäischen Einigung, zum westeuropäischen Zusammenschluß verbaut worden sei. Ich habe damals gesagt — der eine oder andere wird sich daran erinnern —, auch an die Realität der Europäischen Gemeinschaft werde man sich gewöhnen. Inzwischen hat sich die politische Zusammenarbeit der Westeuropäer gerade im Vorfeld von Helsinki bewährt. Der Vorsitzende des italienischen Ministerrats wird die Schlußakte zugleich als amtierender Ratspräsident der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnen. Auch das war bis vor kurzem noch keine Selbstverständlichkeit.
    Dann gibt es, meine verehrten Damen und Herren, die gewissermaßen fixe Idee vom Festschreiben der bestehenden Zustände, also weithin — gerade auch aus deutscher Sicht — unbefriedigender Zustände. Darüber haben wir bei den Verträgen von Moskau, von Warschau, von Prag, bei dem gesamten ostpolitischen Bemühen der letzten Jahre, lange und immer wieder gesprochen. Neue Argumente haben sich seitdem nicht ergeben. Ich bin unverändert davon überzeugt, daß es nur durch ein geduldiges Ringen um den Abbau von Spannungen, das auch weiterhin von Störungen und Rückschlägen nicht frei sein wird, gelingen kann, die Lage in Europa mit friedlichen Mitteln zum Besseren zu wenden.

    (Beifall bei der SPD und bei der FDP — Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Eine Binsenwahrheit!)

    Die Lage in Europa ist, wenn wir ehrlich sein wollen, schon etwas weniger schlecht als vor einigen Jahren.

    (Lachen bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Siehe Portugal! — Wohlrabe [CDU/CSU]: Jetzt geht's wieder los! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

    Es gibt keine vernünftige Alternative zu dem mit Wachsamkeit beschrittenen Weg der Entspannung und Zusammenarbeit.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und bei der FDP)

    Man mußte und muß von den gegebenen Verhältnissen ausgehen, um auf sie einwirken und sie verbessern zu können.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Mertes [Gerolstein [CDU/CSU] : Eine Binsenwahrheit!)

    Und auch dies in aller Offenheit: Man dient nicht den Interessen des eigenen Landes, sondern man schwächt sie, wenn man von anderen Interpretationen und Behauptungen übernimmt, die tatsächlich oder vermeintlich gegen uns gerichtet sind. Herr Kollege Marx, wer betreibt denn hier die Sache der anderen Seite?

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ich will mich, meine verehrten Damen und Herren, noch mit der Legende auseinandersetzen, die deutsche Politik hätte den Russen gewissermaßen die Sicherheitskonferenz geschenkt. Ebenso abwegig ist, unsere Verbündeten und das eigene Parlament seien überfahren worden. Demgegenüber muß eine deutliche Sprache erlaubt sein. Ich sage deshalb: Die Opposition will sich nicht daran erinnern, also muß sie daran erinnert werden, daß sie — ich komme darauf gleich zurück — hier wie auf anderen Gebieten sogar hinter das zurückfällt, was in der Großen Koalition gemeinsam vertreten worden ist.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Die Protokolle weisen aus: Nachdem die Budapester Konferenz der Warschauer-Pakt-Staaten vom Frühjahr 1969 andere Akzente setzte als die voraufgegangenen Tagungen von Bukarest und Karlsbad, bin ich als damaliger Außenminister hier vor dem Bundestag am 19. März 1969 auf den stark modifizierten Konferenzvorschlag vorsichtig positiv eingegangen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wie lautet das Zitat?)

    Die Akten weisen weiter aus: Auf der Ministerkonferenz der NATO in Washington im April 1969 habe ich für die damalige Bundesregierung erklärt — und darüber ist exakt berichtet worden —, daß wir wie andere Verbündete nicht a limine gegen eine gesamteuropäische Konferenz seien, sondern ich habe dargelegt, unter welchen Voraussetzungen wir dafür sein würden.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Bitte vorlesen!)




    Brandt
    Eine solche Konferenz müsse sorgfältig vorbereitet sein. Sie werde zustandekommen, wenn die Zeit dafür reif sei. Das war dann auch die Haltung, die sich das Bündnis und auch die europäischen Partner zu eigen machten.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!)

    Um es ganz deutlich zu sagen: Über die westliche Haltung zum Konferenzprojekt ist durch den Ministerrat der NATO entschieden worden und nicht durch Bahr in Moskau oder Brandt in Oreanda.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Dr. Mertes [Gerolsteim] [CDU/CSU] : Geschichtlich falsch! — Zuruf von der CDU/ CSU: Schiefe Betrachtungsweise!)

    Was sollen eigentlich unsere Verbündeten davon halten, wenn sie auf der ganzen Linie — von Jalta bis Helsinki, wie ich lese, in einem Wochenblatt besonders betont — der Unzuverlässigkeit und Nachgiebigkeit geziehen werden?

    (Hört! Hört! bei der SPD)

    Damit führt man nicht nur, meine verehrten Kollegen, ein Nachhutgefecht gegen unsere Ostpolitik — das könnte ich ja verstehen —, sondern man verläßt in Wirklichkeit auch die Bahnen Adenauerscher Westpolitik.

    (Anhaltende lebhafte Zustimmung bei der SPD und der FDP — Zuruf von der CDU/ CSU: Total überzogen!)

    Mich interessiert jedenfalls nun vor allem, was geschehen soll und geschehen kann, wenn die Konferenz in Helsinki vorüber ist. Ich begrüße es, daß der Vorschlag aufgegriffen wurde, 1977 durch hohe Beamte — Vertreter aller beteiligten Regierungen — in Belgrad, wie inzwischen vereinbart wurde — eine Art Zwischenbilanz zu ziehen. Ich meine, die Völker Europas haben dann einen Anspruch darauf, zu erfahren, was mit den Texten geschieht, die so mühsam ausgehandelt wurden. Was tun — so wird von jetzt an die Frage lauten — die einzelnen Regierungen, um in der Praxis, gerade auch im Kleinen, im Alltäglichen dem gerecht zu werden oder — wenn nicht gerecht zu werden — doch dem nahezukommen, was in den Grundsätzen, Leitlinien und Absichtserklärungen niedergelegt wurde? Das werden wir wissen wollen. Viele andere in vielen anderen Ländern Europas werden es auch wissen wollen.
    Was wird aus den vertrauensbildenden Maßnahmen? Was wird aus den menschlichen Kontakten, der Information, der Zusammenarbeit und dem Austausch in den Bereichen Bildung und Kultur? Welche Verbesserungen, und seien es zunächst auch nur bescheidene, werden sich zeigen? Welche werden sich zeigen, wo es um die Gewissens-, Religions- und Überzeugungsfreiheit geht?
    Um ein Beispiel zu nennen: ich habe die Frage aufgeworfen, nicht nur im eigenen Land, wie man eine gesamteuropäische Struktur für Jugendbegegnungen entwickeln kann. Dies interessiert, wie ich weiß, viele junge Menschen in West und in Ost.
    Aber meiner Meinung nach dürfen wir auch das nicht gering achten, was mit den wirtschaftlichen Beziehungen und dem technisch-wissenschaftlichen Austausch zusammenhängt. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, nur die östliche Seite sei daran interessiert. Ich sage nicht erst jetzt — unter dem Eindruck der weltwirtschaftlichen Schwierigkeiten —, sondern ich habe schon als Außenminister von diesem Platz aus gesagt, daß wir am Osthandel ein erhebliches Eigeninteresse haben. Das gilt auch für Möglichkeiten eines Energieverbunds. Es gilt auch für die gemeinsame Bekämpfung der Umweltgefahren.
    Wenn die Konferenz von Helsinki vorüber ist, dann werden Russen und Amerikaner, Amerikaner und Russen zunächst miteinander versuchen, ein neues Abkommen über die Begrenzung der strategischen Nuklearwaffen zustande zu bringen. Das wäre vernünftig. Die Aussichten dafür scheinen auch nicht schlecht zu sein. Aber viele von uns hier in Europa erwarten, daß man sich mit größerem Ernst als bisher dem Thema zuwendet, zu dem noch wenig ergiebige Vorverhandlungen in Wien geführt worden sind: der beiderseitigen und ausgewogenen Reduzierung von Truppen und Rüstungen in der Mitte unseres Kontinents. Dort hat sich ein Zerstörungspotential angesammelt, wie es hier in einer gewiß leidvollen Geschichte noch nie angehäuft war.
    Es gibt wichtige Teilgebiete, denen wir ebenfalls unsere Aufmerksamkeit widmen sollten. Da gibt es die Studie über die Schaffung nuklearwaffenfreier Zonen, die der 30. Vollversammlung der Vereinten Nationen zugeleitet wird, nachdem sie unter der Mitwirkung unserer Regierung zuvor den Genfer Abrüstungsausschuß beschäftigt hat. Da gibt es die langjährige Diskussion über ein Verbot der C-Waffen, der chemischen Massenvernichtungsmittel. Ich begrüße es — auch wenn davon bisher nicht viel geredet worden ist, aber es muß hier mal gesagt werden —, daß die Bundesregierung hierzu eine Initiative ergriffen hat, zu der wir auch legitimiert sind, weil die Bundesrepublik Deutschland schon vor 20 Jahren auf die Herstellung atomarer, bakteriologischer und chemischer Waffen verzichtet hat.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Stücklen [CDU/CSU] : Wie haben die anderen denn reagiert?)

    Es gibt übrigens auch Vorschläge, wie Rüstungsexporte —auch dies ist ein wichtiges Thema — in der heutigen Welt eingegrenzt werden könnten. Wir sollten uns nicht entmutigen lassen, alle vernünftigen, halbwegs realistischen Bemühungen um konkrete Schritte im Bereich der Rüstungsverminderung nachdrücklich zu unterstützen. Aber mindestens so wichtig ist, was — zumal auf kürzere Sicht — geschehen kann, um auf die Krisengebiete rund um das Mittelmeer mit Mäßigung und Weitblick einzuwirken. Es hieße den Kopf in den Sand stecken, wollte man über den Texten von Helsinki vergessen, daß die uns unmittelbar benachbarte Region voller Gefahren steckt.
    Nun kommt der Kollege Marx und sagt „Portugal". Ich sage dazu jetzt nur so viel: Geben wir uns bitte keiner Vereinfachung hin, die der Sache



    Brandt
    nicht dient und niemandem hilft! Portugal trägt schwer an seinem unglücklichen Erbe. Mit Belehrungen aus der bundesrepublikanischen Loge ist denen wenig geholfen, die sich an Ort und Stelle — sei es innerhalb der Militärbewegung, sei es innerhalb der Parteien — um einen rechtsstaatlichen demokratischen Kurs bemühen.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und der FDP)

    Um es ganz klar zu sagen: Ich war und ich bin dagegen, daß man Portugal abschreibt,

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    statt ihm die Perspektive konstruktiver europäischer Zusammenarbeit deutlich zu machen. Es ist schon viel Zeit ins Land gegangen. Ich habe das früher gesagt und sage es heute wieder.

    (Beifall bei der SPD und der FDP — Dr. Jenninger [CDU/CSU] : Haben Sie es Breschnew gesagt?)

    Im Vorfeld dieser Debatte — ich will auch das nicht übergehen; ich gebe damit auch Kollegen die Gelegenheit, ihrerseits darauf einzugehen, wenn sie es möchten — war viel von dem Gespenst, dem, wie ich meine, Schreckgespenst eines sozialistischen Europa die Rede. Auch die Schlagworte einer Volksfront oder Einheitsfront wurden ins Spiel gebracht. Was das letztere angeht, so soll jeder wissen — ich sage es noch einmal —, daß sich dieses Thema für uns, für meine politischen Freunde und mich, nicht stellt. Die deutschen Sozialdemokraten sind entschiedene Gegner solcher Verbindungen in unserem Lande.

    (Beifall bei der SPD)

    Wer wollte jedoch bestreiten, daß die Dinge in manchem anderen Land sehr viel komplizierter liegen? Vielleicht erkundigen sich die interessierten Kollegen der Union einmal bei ihren Freunden von der Democrazia Cristiana.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und der FDP)

    Nun ein Wort zu den Warnungen vor einem sozialistischen Europa. Die innenpolitische Absicht eines solchen Geredes ist durchsichtig. Manche wollen hier etwas auf einen Nenner bringen, was sich nicht auf einen Nenner bringen läßt. Taktik und Vorurteile ändern jedoch nichts daran — das wissen doch auch die Repräsentanten der Union —, daß Sozialdemokraten, demokratische Sozialisten in zahlreichen Ländern des nichtkommunistischen Europa Regierungen führen, an Regierungen beteiligt sind oder sonst über erheblichen Einfluß verfügen. Man will uns doch nicht etwa von diesen Ländern trennen? Man will doch hoffentlich auch nicht einen Keil in die Reihen derer treiben, die miteinander Stützen des freiheitlichen Europa sind? Das kann doch nicht, das könnte doch nicht eine vernünftige deutsche Politik sein. Es ist schon bedenklich genug, daß die große Opposition dieses Hauses mit ihrem — ich muß es so nennen — Eifern gegen die europäische Konferenz auf einem europäischen Abstellgleis gelandet ist. In der Tat, mit der Haltung der Unionsparteien zu Helsinki stünde die Bundesrepublik Deutschland isoliert da, und dies durfte nicht eintreten.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Wo landet man denn anders als auf dem Abstellgleis, wenn man mit dem Osten nicht zusammenarbeiten will, weil er zu gefährlich ist,

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Wer sagt das denn?)

    und wenn man sich gleichzeitig vom Westen isoliert, weil man ihn für zu schlapp erklärt oder für zu sozialistisch hält?

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Meine Damen und Herren, ich meine, wir sollten uns nicht von dem Weg abbringen lassen, den die Außenminister Scheel und Genscher beschritten haben, als sie in den letzten drei Jahren mit ihren Mitarbeitern die Vorarbeiten zur Konferenz von Helsinki so betrieben und beeinflußt haben, daß wir ja dazu sagen können. Wir möchten den Bundeskanzler wissen lassen, daß jedenfalls die Mehrheit dieses Bundestages eindeutig hinter ihm steht,

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und der FDP)

    wenn er in Helsinki für die Bundesrepublik Deutschland spricht und unterzeichnet.
    Lassen Sie mich mit ein paar Sätzen abschließen, die ich übrigens kürzlich so auch in der Hauptstadt der Sowjetunion gesagt habe: Ein gesamteuropäisches Gespräch über die große Trennungslinie von 1945 hinweg ist möglich geworden. Die, wie man sagt, ideologische Abgrenzung zwischen West und Ost bleibt bestehen, aber in mehr als einem Teil der Welt beginnen manche sich der Einsicht zu beugen, daß der Friede, die Arbeit an ihm, mit anderen Worten die Organisierung des Friedens, höher stehen muß als alle Ideologie. Der Friede wird die große Bewährungsprobe sein, auch für die Wirklichkeitsmacht der Ideologien und Überzeugungen.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD und der FDP — Bundeskanzler Schmidt begibt sich zu Abg. Brandt [SPD] und beglückwünscht ihn — Fortgesetzter starker Beifall bei der SPD und der FDP — Zurufe von der CDU/CSU)