Rede:
ID0718300200

insert_comment

Metadaten
  • sort_by_alphaVokabular
    Vokabeln: 16
    1. Ich: 1
    2. danke: 1
    3. dem: 1
    4. Herrn: 1
    5. Bundesminister.Ich: 1
    6. eröffne: 1
    7. die: 1
    8. Aussprache.: 1
    9. Das: 1
    10. Wort: 1
    11. hat: 1
    12. der: 1
    13. Herr: 1
    14. Abgeordnete: 1
    15. Dr.: 1
    16. Marx.: 1
  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 183. Sitzung Bonn, Freitag, den 25. Juli 1975 Inhalt: Glückwünsche zum Geburtstag des Abg. Josten 12797 B Erklärung der Bundesregierung betr. KSZE Genscher, Bundesminister AA . . . . . 12797 B Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Dr. Marx CDU/CSU . . . . . . . . 12803 C Brandt SPD 12812 B Hoppe FDP 12816 D Stücklen CDU/CSU . . . . . . . . 12819 D Schmidt, Bundeskanzler 12825 C Dr. Carstens (Fehmarn) CDU/CSU . . 12830 B Pawelczyk SPD 12834 B Dr. Bangemann FDP . . . . . . . . 12839 A Oxfort, Bürgermeister von Berlin . . . 12843 C Dr. Mertes (Gerolstein) CDU/CSU . . . 12845 B Mattick SPD 12850 A Dr. Schröder (Düsseldorf) CDU/CSU . . 12854 A Wehner SPD . . . . . . . . . . 12859 C Strauß CDU/CSU 12862 A Genscher, Bundesminister AA . . . . 12869 D Namentliche Abstimmungen . . . . . 12872 A Anlagen Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 12875* A Anlage 2 Nichtanwendung des § 48 Absatz 2 BAföG durch einige Hochschulen SchrAnfr B 59 06.06.75 Drs 07/3737 Engholm SPD ErgSchrAntw StSekr Dr. Jochimsen BMBW 12875* C Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 183. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Juli 1975 12797 183. Sitzung Bonn, den 25. Juli 1975 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Berichtigung 181. Sitzung, Seite 12684 D ist statt „Gerstl (Passau) (CDU/CSU) " zu lesen „Gerstl (Passau) (SPD) ". 181. Sitzung, Seite 12726 C: Die Zeile 22 mit den Worten „was nun die Rechtsgrundlage sein soll," ist zu streichen. Einzufügen sind die Worte ,;Rechte dort habe". Vier Zeilen weiter ist hinter dem Wort „soll" ein Komma zu setzen. Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt für Alber 25. 7. Dr. Bayerl 25. 7. Dr. Böger 25. 7. von Bothmer 25. 7. Breidbach 25. 7. Prof. Dr. Burgbacher 25. 7. Burger 25. 7. Bühling 25. 7. Dürr 25. 7. Dr. Enders 25. 7. Geldner 25. 7. Gerster (Mainz) 25. 7. Gewandt 25. 7. Gierenstein 25. 7. Graaff 25. 7. Haase (Fürth) 25. 7. Dr. Häfele 25.7. Handlos 25. 7. Hölscher 25. 7. Horn 25. 7. Horstmeier 25. 7. Dr. Hupka 25. 7. Hussing 25. 7. Jaunich 25. 7. Kater 25. 7. Dr. Kiesinger 25. 7. Lange 25. 7. Dr. Klepsch 25. 7. Dr. Köhler 25. 7. Krampe 25. 7. Lattmann 25. 7. Leicht 25. 7. Lücker 25. 7. Dr. Luda 25. 7. Lüdemann 25. 7. Prof. Dr. Möller 25. 7. Opitz 25. 7. Pieroth 25. 7. Dr. Riede 25. 7. Rollmann 25. 7. Rommerskirchen 25. 7. Prinz zu Sayn-Wittgenstein 25. 7. Prof. Dr. Schäfer (Tübingen) 25. 7. Prof. Dr. Schellenberg 25. 7. Schmidt (Kempten) 25. 7. Dr. Starke 25. 7. Stommel 25. 7. Vogel (Ennepetal) 25. 7. Abgeordnete(r) beurlaubt für Volmer 25. 7. Walkhoff 25. 7. Dr. Walz 25. 7. Dr. Wex 25. 7. Wischnewski 25. 7. Dr. Wörner 25. 7. Prof. Dr. Zeitel 25. 7. Anlage 2 Ergänzende Antwort des Staatssekretärs Dr. Jochimsen auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Engholm (SPD) (Drucksache 7/3737 Frage B 59, 178. Sitzung, Seite 12552*, Anlage 75) : Ihr Hinweis auf die ab 1. August 1975 geltende Neufassung des § 48 BAföG dürfte sich vermutlich nicht auf die Absätze 1 und 2, sondern auf Absatz 1, Nrn. 1 und 2 beziehen. Das Rundschreiben des Rektors der Universität Bonn an die Dekane der einzelnen Fakultäten befaßt sich, worauf Sie mit Recht hingewiesen haben, nur mit Absatz 1 Nr. 1. Insoweit gibt das Rundschreiben die in der ab 1. August 1975 geltenden Neufassung des Absatzes 1 Satz 1 enthaltenen beiden Möglichkeiten des Gesetzes zum Eignungsnachweis nicht erschöpfend wieder. Das ist auch die Auffassung des Ministers für Wissenschaft und Forchung des Landes Nordrhein-Westfalen als oberster Landesbehörde für Ausbildungsförderung. Aus der Tatsache, daß das Rundschreiben die neue Rechtslage nicht vollständig wiedergibt, wird man allerdings nicht auf eine beabsichtigte restriktive Handhabung der neuen Vorschriften durch die Universität Bonn und andere Hochschulen schließen können. Um jeden Zweifel auszuschließen, hat der Minister für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen den Hochschulen des Landes in einem Runderlaß die dazu von der Bundesregierung nach vorausgegangenen eingehenden Beratungen mit den obersten Landesbehörden beschlossenen allgemeinen Verwaltungsvorschriften zu § 48 Abs. 1 übermittelt und gebeten, beide Alternativen des § 48 Abs. 1 Satz 1 sowie insbesondere Tz 48.1.1 der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu beachten. Die gesamte allgemeine Verwaltungsvorschrift zum BAföG liegt zur Zeit dem Bundesrat vor, der darüber nach der Sommerpause beraten wird.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Hans-Dietrich Genscher


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! In wenigen Tagen werden sich in Helsinki die Repräsentanten von 35 europäischen und nordamerikanischen Staaten zur dritten und abschließenden Phase der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zusammenfinden, einer Konferenz, deren zweite Phase, also die eigentlichen Verhandlungen, nach eineinhalbjähriger Tätigkeit soeben in Genf zu Ende gegangen ist.
    Die Bundesregierung hat in ihrer Sitzung am 23. Juli 1975 die Zustimmung zu den Konferenzergebnissen beschlossen. Sie begrüßt die Gelegenheit, diese Entscheidung vor dem Deutschen Bundestag begründen zu können. Es ist heute das zweite Mal, daß sich der Deutsche Bundestag mit dieser Materie in einer besonderen Sitzung befaßt. Der Auswärtige Ausschuß hat in zehn Sitzungen allein in dieser Legislaturperiode die Konferenzmaterie beraten. Er ist außerdem ständig über den Gang der Verhandlungen eingehend unterrichtet worden.
    Wir, die Bundesrepublik Deutschland, haben die Konferenzergebnisse in dreifacher Hinsicht zu bewerten: 1. Welche Bedeutung haben sie für uns als einer freiheitlichen Demokratie, die dem Atlantischen Bündnis angehört? 2. Welche Bedeutung haben sie für uns als Teil der Europäischen Gemeinschaft der Neun? 3. Was bedeuten sie für uns als Deutsche angesichts der anhaltenden staatlichen Teilung?
    Wie die Dinge in Mitteleuropa liegen, meine Damen und Herren, muß das Thema Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa nach wie vor das zentrale Thema unseres politischen Denkens und Handelns sein. Niemand als wir Deutschen kann ein größeres Interesse daran haben, daß die Konferenz ihr Ziel erreicht, nämlich die Beziehungen und die Kontakte zwischen den Staaten und den Menschen in ganz Europa zu verbessern.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Niemand, so finden wir, hat mehr Anlaß als wir, Entspannung und Zusammenarbeit über die Grenzen und Blöcke hinweg zu fördern.

    (Beifall bei der FDP und bei der SPD)

    Hier, meine Damen und Herren, liegt die spezifische deutsche Beziehung zu der Konferenz, zu ihren Zielen und zu ihren Möglichkeiten. Ich glaube, daß niemand mehr als wir seine nationale Pflicht versäumen würde, wollte er zögern, auch nur die geringste Chance für eine Entwicklung zu nutzen, die schließlich auch das Schicksal der geteilten Nation erleichtern könnte.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Denn unverändert gilt fort, was der Bundeskanzler in der Regierungserklärung über die Lage der Nation am 30. Januar 1975 ausgeführt hat. Er sagte damals:



    Bundesminister Genscher
    Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl haben ihre Unmenschlichkeit nicht verloren. Jeder weiß auch: es wäre Illusion, zu glauben, mit Protesten hier Abhilfe schaffen zu können. Wir finden uns jedoch mit diesen Zuständen nicht ab, sondern wir bemühen uns beharrlich um Änderung.
    Wir wissen, daß die Überwindung der jetzigen Lage
    — so schließt der Bundeskanzler an dieser Stelle —
    erst am Ende einer sehr langfristigen Entwicklung stehen kann.
    Gerade den letzten Gesichtspunkt, meine Damen und Herren, den der langfristigen Entwicklung, haben wir bei den Verhandlungen in Genf von Anfang an in Rechnung gestellt. In unserer Lage ist es nur selbstverständlich, daß auch ein begrenzter Fortschritt große Anstrengungen rechtfertigt. Deshalb sollte jeder von uns das Erreichte allein am real Möglichen messen und sich nicht durch das ideal Wünschenswerte den Blick für das heute Mögliche verstellen lassen.

    (Beifall bei der FDP und bei der SPD)

    Wir haben unsere Rolle bei der Konferenz positiv aufgefaßt. Wir wollten die Entspannung fördern und so zugleich unsere Interessen als Deutsche und als Europäer vertreten. Ich möchte an dieser Stelle den Mitgliedern der deutschen Verhandlungsdelegation, an der Spitze den Leitern — zunächst Dr. Brunner, dann Dr. Blech —, für die Zielstrebigkeit, die Beharrlichkeit und den persönlichen Einsatz, mit dem sie in Genf unsere Belange vertreten haben, hier ausdrücklich danken.

    (Beifall)

    Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit, meine Damen und Herren, ist nicht zu einer Konferenz über Deutschland oder Berlin geworden, auch wenn die Sorge, sie könne es werden, vorher nicht ganz unbegründet erscheinen mochte. Ich denke, angesichts dieser Tatsache sollten wir uns alle bei unseren Äußerungen zu der Konferenz, zu ihren Ergebnissen und auch in der Art, wie wir diese Debatte heute führen, vor der Gefahr hüten, diese Konferenz nun von uns aus und nachträglich noch zu einer Deutschland- oder Berlin-Konferenz zu machen.

    (Beifall bei der FDP und bei der SPD)

    Wir würden damit übrigens zugleich die umfassende
    Zielsetzung, die wir stets bejaht haben, verdecken.

    ( (Zuruf von der CDU/CSU: Das wäre keine Entspannung mehr!)

    Unsere realistische Entspannungspolitik dient dem Frieden. Wer das bestreitet, muß die Alternative nennen. Realistische Entspannungspolitik ist eine Politik, die auch ihre Grenzen sehr klar erkennt. Entspannungspolitik erfordert das Fundament Sicherheit, und Sicherheit gibt es für uns nicht ohne das Bündnis und seine und damit auch unsere Verteidigungsbereitschaft. Wer glaubt, er könne seine Sicherheit gewährleisten allein durch Bemühung um Entspannung, wäre ein gefährlicher Träumer.
    Den Entspannungsprozeß haben wir durch deutsche Beiträge entscheidend mitbestimmt. Ich spreche von den Verträgen mit der Sowjetunion, mit Polen, mit der CSSR, vom Grundlagenvertrag mit der DDR und, verknüpft mit diesen Verträgen, auch vom Viermächteabkommen über Berlin.
    Meine Damen und Herren, halten wir uns kurz I die Entstehungsgeschichte der Konferenz vor Augen.
    Die Bestrebungen, die Mitte der fünfziger Jahre und dann wiederum Mitte der sechziger Jahre auf eine - wie es damals hieß — gesamteuropäische Sicherheitskonferenz gerichtet waren, konnten mit unseren politischen Positionen und Zielen nicht in Einklang gebracht werden. So konnte es etwa für den Westen nicht akzeptabel sein, durch eine solche Konferenz den durch den Krieg geschaffenen territorialen Status quo in Europa endgültig festzuschreiben und zu legitimieren, die Rolle der Vereinigten Staaten in Europa zu vermindern und durch Schaffung eines sogenannten gesamteuropäischen Sicherheitssystems der Auflösung der Bündnisse — das heißt im praktischen Effekt vor allem der NATO — den Weg zu öffnen.
    Die Lage änderte sich wesentlich, als, beginnend mit dem Harmel-Bericht von 1967, das Atlantische Bündnis dem Kozept einer gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz sein eigenes Entspannungskonzept gegenüberstellte — das übrigens unter Zustimmung der damaligen Bundesregierung und der Opposition. Dieses Konzept setzt den Bestand der engen Bindungen zwischen Westeuropa und Nordamerika als selbstverständliche Grundlage jeder Entspannung in Europa voraus.
    Es ging ferner von zwei Grundsätzen aus, nämlich dem Grundsatz, daß politische und militärische Sicherheit untrennbar sind, und dem Grundsatz, daß wirkliche Entspannung den Menschen unmittelbar zugute kommen und von ihnen getragen werden



    Bundesminister Genscher
    muß. Entspannung ist nach westlichem Verständnis ein Prozeß, der der Geschichte unterliegt, der den Status quo also nicht auf ewig festschreibt, sondern dynamisch die Möglichkeit neuer Entwicklungen offenhält. Das schließt für uns sowohl die Möglichkeit der deutschen Einheit wie auch die der Vollendung der europäischen Einigung ein.
    Es war entscheidend, daß dieses Konzept in der ersten Phase in Helsinki zur Wirkung kam. Als die zweite Phase im Herbst 1973 in Genf einberufen wurde, da trug ihr Mandat den westlichen Vorstellungen Rechnung. Die Teilnahme der Vereinigten Staaten und Kanadas an der Konferenz war sichergestellt; der Bereich der menschlichen Kontakte war als eines der drei Hauptthemen der Konferenz anerkannt. Und parallel zur Genfer Konferenz begannen die Wiener Verhandlungen über beiderseitige ausgewogene Truppenverminderungen.
    Deshalb, meine Damen und Herren, waren wir nicht nur berechtigt, sondern — wie die Bundesregierung meint — in Wahrnehmung unserer Interessen verpflichtet, die Konferenz auch als eine Chance für uns zu begreifen und entsprechend zu handeln.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Wir können heute sagen: die Konferenz hat den Status quo in Europa nicht festgeschrieben, und deshalb sollten wir ihn auch selbst nicht festreden, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    In Wahrheit hat die Konferenz ausdrücklich und in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht die Möglichkeit friedlicher und einvernehmlicher Grenzänderungen anerkannt. Sie hat damit sowohl die deutsche wie die europäische Option offengehalten.
    Die Diskussion über die friedliche Veränderbarkeit der Grenzen, die Beharrlichkeit, mit der wir und unsere Freunde gerade um diese Passagen gerungen haben, hat einen wichtigen und positiven Effekt über den Inhalt dieser Aussage im Dokument hinaus: Wir haben damit der europäischen und darüber hinaus der Weltöffentlichkeit erneut deutlich gemacht, daß wir unbeirrbar an unserer Politik festhalten, wie sie unser Grundgesetz legitimiert, wie sie in den Briefen zur deutschen Einheit niedergelegt ist, und deutlich gemacht, daß wir entschlossen sind, den Prozeß der europäischen Einigung fortzusetzen. Wir haben das in Übereinstimmung und mit Unterstützung aller Partner in der Gemeinschaft und im Bündnis getan — eine Haltung, für die ich an dieser Stelle unseren Freunden ausdrücklich danken möchte.

    (Beifall bei der SPD und der FDP sowie vereinzelt bei der CDU/CSU)

    Gleiches gilt, wo es auf die Interessen Berlins ankam, die wir in der Konferenz wahrzunehmen hatten. Zwar ist deren Schlußakte kein völkerrechtlicher Vertrag, dessen Geltung auf Berlin nach dem üblichen Verfahren zu erstrecken wäre. Um so mehr mußte auf andere Weise sichergestellt werden, daß alle Teilnehmerstaaten, vor allem diejenigen, die mit Berlin in besonderer Weise zu tun haben, sich dann auch an die politischen Verhaltensregeln halten, zu denen sie sich in der Schlußakte bekennen, wenn es um Berlin geht, wenn es darum geht, daß den Berlinern die Vorteile zukommen, die aus den Konferenzergebnissen hervorgehen; und das ist geschehen. Die Schlußakte macht deutlich, daß jene Vorteile eben nicht nur zwischen den Teilnehmerstaaten selbst gewährleistet sein sollen, sondern diese Staaten die Vorteile auch überall dort in Europa gewährleisten werden, wo man sie in Anspruch nehmen will. Es entspricht der Auffassung aller Teilnehmerstaaten, daß es keine weißen Flekken auf der Landkarte der Entspannung geben kann, soweit es sich um Gebiete handelt, für die sie in der einen oder anderen Weise Verantwortung tragen. Die Regierungschefs der neun europäischen Staaten haben in der gemeinsamen Erklärung des Europäischen Rates vom 17. Juli 1975 ausdrücklich festgestellt, daß die Ergebnisse der Konferenz überall in Europa, also auch in Berlin, zur Geltung kommen sollen.
    Die Konferenz hat, das wird heute niemand mehr bestreiten, die Rolle der Vereinigten Staaten und Kanadas in Europa bestärkt. Das Einverständnis aller anderen Staaten mit der Teilnahme dieser beiden Länder an der Konferenz war zugleich das Anerkenntnis der Verantwortung der USA und Kanadas in und für Europa.
    Die Konferenz hat das Atlantische Bündnis zum aktiven Partner des Entspannungsprozesses werden lassen. Neben der militärischen Aufgabe, das Gleichgewicht der Kräfte zu erhalten, übernahm das Bündnis eine zweite, eine politische und dynamische Aufgabe, nämlich: gemeinsam nach Fortschritten in Richtung auf spannungsfreiere Ost-West-Beziehungen zu suchen.
    Es ist ein bisher einmaliger Vorgang, daß die Partner eines Bündnisses auf der Grundlage gemeinsam in diesem Bündnis erarbeiteter Positionen multilaral auch mit den Staaten verhandeln, gegen die sie sich zur Verteidigung zusammengeschlossen haben, verhandeln über die Frage, wie die Konfliktgefahr verringert und mehr Stabilität gewonnen werden kann. Diese neue Rolle hat das Bündnis in seinem politischen Zusammenhalt gestärkt und ihm Gelegenheit gegeben, über zwei Verhandlungsjahre hinweg eben diesen Zusammenhalt unter Beweis zu stellen.
    Das gleiche können wir von der Europäischen Gemeinschaft sagen. Auch hier hat die Konferenz dem politischen Einigungsprozeß starke Impulse gegeben. Die politische Zusammenarbeit und die Solidarität der Neun haben in Genf ihre Probe bestanden.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Wenn einer der Neun ein wesentliches Interesse hatte, wurde dies auch zum Interesse der anderen Acht. Die Neun wurden in dieser Zeit zu einer politischen Einheit und zu einer politischen Kraft, die den Gang der Konferenz ganz entscheidend beeinflußt hat. Wir haben während der Konferenz ein Stück gemeinsamer europäischer Außenpolitik definiert und gemeinsam vertreten. Die Ihnen vorliegende Erklärung des Europäischen Rates — abgege-



    Bundesminister Genscher
    ben von den neun Regierungschefs — zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hat diese Entschlossenheit erneut unterstrichen. Sie spricht zugleich die Absicht aus, nach der Konferenz und auf der Grundlage ihrer Ergebnisse auch die europäische Entspannungspolitik gemeinsam, d. h. als Politik der Neunergemeinschaft zu gestalten. Die Gemeinschaft ist damit zu einem aktiven Partner des Entspannungdialogs geworden.
    Meine Damen und Herren, wir, die Deutschen, die vom gegenwärtigen Zustand in Europa hauptsächlich und schmerzlich betroffen sind, sollten als erste erkennen, was es bedeutet, wenn wir unsere Belange nicht allein, sondern in Gemeinschaft mit unseren europäischen Partnern und damit auch mit ihrer Unterstützung verfolgen können.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Auch die Rolle der neutralen und ungebundenen Staaten ist hervorzuheben. Das Konsensprinzip, nach dem die Konferenz arbeitet, hat diesen Staaten ein volles Mitspracherecht gesichert; sie haben es wirksam gebraucht. Sie haben das selbstverständlich im Sinne ihrer durch Neutralität und Ungebundenheit bestimmten außenpolitischen Interessen getan. Es hat sich aber erwiesen, daß überall dort, wo sie und wir dieselben Wertvorstellungen von Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und einer offenen Gesellschaft haben, die Gemeinsamkeit dieser Vorstellungen immer wieder eindrucksvoll zur Geltung kam.
    Schließlich sollte noch hervorgehoben werden, daß die 35 Teilnehmerstaaten der Konferenz sich der Probleme bewußt waren, die ihr Verhältnis zur übrigen Welt stellt. Das kommt an mehreren Stellen der Schlußakte zum Ausdruck, nicht zuletzt in dem Teil, der sich mit der Sicherheit und Zusammenarbei im Mittelmeerraum befaßt. Auch die schon zitierte Erklärung des Europäischen Rates nimmt darauf Bezug und hebt nochmals die Entschlossenheit hervor, auch die Beziehungen zu den nichteuropäischen Mittelmeerstaaten weiterzuentwickeln.
    Meine Damen und Herren, das Konferenzergebnis liegt Ihnen in Gestalt der Schlußakte vor; es ist bekannt. Ich will deshalb hier nur zu einigen Schwerpunkten Stellung nehmen.
    Die Schlußakte umschließt mit einigen einleitenden und Schlußbestimmungen die eigentlichen Sachergebnisse der Konferenz, und zwar in drei Hauptbereichen, die man in Genf „Körbe" genannt hat. Es geht um Fragen der Sicherheit in Europa, die Zusammenarbeit in den Bereichen von Wirtschaft, Wissenschaft, Technik sowie Umwelt sowie die Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen. Hinzu treten noch besondere Texte über Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittelmeerraum und — das ist von besonderer Bedeutung — über die Folgen der Konferenz.
    Die operativen Aussagen der Schlußakte beziehen sich einmal auf die Entschlossenheit der Teilnehmerstaaten, den Ergebnissen der Konferenz volle Wirksamkeit zu verleihen und die Vorteile, die aus diesen Ergebnissen hervorgehen, zwischen ihren Staaten und — ich wiederhole dies — in ganz Europa zu gewährleisten. Ich habe schon darauf hingewiesen, was das positiv für Berlin bedeutet.
    Zum anderen wird klargestellt, daß die Schlußakte kein völkerrechtlicher Vertrag ist, der nach Artikel 102 der Charta der Vereinten Nationen registrierbar wäre. Der Text läßt aber auch keinen Zweifel daran, daß die Teilnehmerstaaten das Dokument als ein Dokument von sehr hoher politischer Bedeutung betrachten.
    Nun zu den inhaltlichen Bestimmungen, zunächst zur Erklärung über die Prinzipien. Diese Prinzipien, die die Beziehungen zwischen den Teilnehmerstaaten leiten sollen, geben zu einem großen Teil geltendes allgemeines Völkerrecht wieder. Zum anderen enthalten sie Verhaltensregeln, wie sie von allen Staaten als angemessen und vernünftig akzeptiert werden. Insgesamt sind diese Prinzipien alle einander gleichgeordnet; jedes muß im Zusammenhang der anderen interpretiert und angewendet werden.
    Nach dem Prinzip der souveränen Gleichheit soll jeder Staat selbst über seine inneren Angelegenheiten entscheiden und seine auswärtigen Beziehungen unter Beachtung des Völkerrechts nach seinem Belieben gestalten. Das bestätigt nicht nur seine Freiheit, Verträge zu schließen, internationalen Organisationen beizutreten, auch Mitglied von Bündnissen zu sein, sondern auch sein grundsätzliches Recht — und hier kommt die Bestimmung, die für uns besonders bedeutungsvoll ist —, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht seine Grenzen zu einem anderen Staat einvernehmlich und friedlich zu verändern, also auch aufzuheben. Ich möchte noch einmal auf die Bedeutung dieser Aussage für die deutsche und die europäische Option hinweisen.
    Das Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen kann von vornherein dem nicht entgegenstehen, da es das Verbot der Grenzänderung unter Gewaltanwendung oder Gewaltandrohung zum Inhalt hat. Wir bekennen uns in diesem Sinne uneingeschränkt zu diesem Prinzip, so wie wir uns uneingeschränkt zum Gewaltverbot überhaupt bekennen.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Es ist deshalb auch unserer Haltung in der deutschen Frage nicht entgegengesetzt. Wir sollten uns deshalb auch davor hüten, die in diesem Prinzip enthaltene Absage an jeden Anschlag auf eine Grenze auch nur gedanklich in die Nähe unseres durch die Verfassung gebotenen und völkerrechtlich legitimen Ziels der friedlichen Verwirklichung der Wiedervereinigung zu bringen.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Von gleicher Bedeutung wie die Feststellung der friedlichen Veränderbarkeit der Grenzen ist für uns das deutlich formulierte Prinzip der Selbstbestimmung und die Aussage über die Unberührtheit bestehender Rechte und Verpflichtungen und der diesbezüglichen Verträge und Vereinbarungen. Damit ist klargestellt, daß die Konferenzergebnisse — einmal ganz abgesehen davon, daß sie keinen



    Bundesminister Genscher
    völkerrechtlichen Charakter haben — die Rechtslage in Deutschland nicht verändern können, daß die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Deutschland als Ganzes und auf Berlin in keiner Weise beeinträchtigt werden. Hier wird besonders deutlich, daß die Konferenzergebnisse dem Zustand in Deutschland eben keinen definitiven Charakter verleihen. Gleiches gilt für unsere Verträge, von denen ich in diesem Zusammenhang nicht nur die Verträge mit den osteuropäischen Staaten und den Grundlagenvertrag mit der DDR, sondern auch den Deutschland-Vertrag ausdrücklich nenne. In Helsinki werden die Regierungschefs und Staatschefs unserer drei Partner des Deutschland-Vertrages, also der Vereinigten Staaten, Frankreichs und Großbritanniens, mit dem Bundeskanzler zusammenkommen, so wie das auch vor anderen wichtigen internationalen Konferenzen üblich ist, und damit noch einmal sichtbar vor der ganzen Welt die gemeinsame Verantwortung für die deutsche Sache zum Ausdruck bringen. Namens der Bundesregierung möchte ich die Befriedigung über diesen erneuten Solidaritätsbeweis unserer Freunde hier zum Ausdruck bringen.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Im zweiten Teil des 1. Korbes findet sich das Dokument über vertrauensbildende Maßnahmen und wichtige Aspekte der Sicherheit und Abrüstung, das ebenfalls besondere Aufmerksamkeit verdient. Es trägt der Tatsache Rechnung, daß politische und militärische Sicherheit voneinander nicht zu trennen sind, auch nicht geographisch. Eine geographische Beschränkung hätte die Gefahr des Mißverständnisses mit sich bringen können, daß die Diskussion von Fragen der militärischen Sicherheit etwa grundsätzlich auf Mitteleuropa beschränkt sein müsse, daß es also in diesen Fragen für Mitteleuropa einen Sonderstatus gebe. Deshalb ist es so wichtig, daß die in der KSZE vereinbarten Maßnahmen zur Vertrauensbildung, etwa die Ankündigung von Manövern, für ganz Europa gelten, mit Ausnahmeregelungen nur für diejenigen Staaten, deren Gebiet über Europa hinausreicht. Sie schließen in ihrem Geltungsbereich einen substantiellen Teil der europäischen Gebiete der Sowjetunion ein.
    Im übrigen ist dem Zusammenhang zwischen politischer und militärischer Sicherheit, wie sie das Schwerpunktthema der KSZE war, noch auf andere Weise Rechnung getragen worden. Die Verhandlungen über beiderseitige ausgewogene Truppenverminderung in Europa, die in Wien stattfinden, begannen bewußt in zeitlichem Zusammenhang mit der zweiten Phase der KSZE.

    (Dr. Carstens [Fehmarn] [CDU/CSU] : Das war auch alles!)

    Neben den Fragen, die in erster Linie mit Sicherheit zu tun haben, stehen in den weiteren Kapiteln des Schlußdokuments die umfangreichen Aussagen über die Kooperation und die menschlichen Kontakte. Die Realisierung dieser Aussagen, die neben allgemeinen Leitlinien eine Fülle von ganz konkreten spezifischen Ansatzpunkten für die Intensivierung der Beziehungen bieten, wird ein integraler Bestandteil des Entspannungsprozesses sein, und gerade hier wird sich zeigen, meine Damen und Herren, wie weit dieser Prozeß geführt werden kann.
    In den Aussagen zur wirtschaftlichen, und wissenschaftlich-technologischen Zusammenarbeit sowie zur Zusammenarbeit im Umweltschutz wurde zum erstenmal anerkannt, daß die Unterschiede der wirtschaftlichen Systeme die Einführung eines Prinzips der gleichwertigen Gegenseitigkeit notwendig machen. In den an die Leitlinien anschließenden konkreten Vereinbarungen ging es unter anderem darum, für unsere Wirtschaft und unsere Geschäftsleute die zahllosen bürokratischen Hemmnisse zu verringern, wie sie für staatswirtschaftliche Systeme charakteristisch sind. In dieser und einer Vielzahl anderer Fragen sind in Korb 2 konkrete Verbesserungen zugesagt worden. Werden sie Wirklichkeit, so wird damit die wirtschaftliche Zusammenarbeit wesentlich gefördert werden.
    Die Ausweitung des Handels, die langfristigen Kooperationsvereinbarungen sowie die Vermehrung der Geschäftskontakte, wie sie in Korb 2 angestrebt werden, können über den unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzen hinaus auch eine günstige Auswirkung auf das gesamte politische Klima in Europa haben. Sie schaffen Interdependenz. Je dichter das Netz der Kooperation und damit auch der gegenseitigen Vorteile wird, um so größer wird das Interesse beider Seiten sein, diese Entwicklung nicht durch Verhalten in anderen Bereichen der Politik zu stören.
    Korb 3 schließlich befaßt sich mit den Maßnahmen zur Förderung der Kontakte, des Informationsaustauschs und des kulturellen Austausches zwischen den Menschen in Ost und West. Erinnern wir uns bei dieser Gelegenheit, meine Damen und Herren, noch einmal daran, daß die internationale Diskussion dieser Themen vor der Konferenz keineswegs eine Selbstverständlichkeit war. Das Thema der menschlichen Erleichterungen ist jetzt endgültig auf der europäischen Tagesordnung. Die Erklärungen in Korb 3 besagen, daß die Zusammenführung von Familien, persönliche Reisen, Jugendbegegnungen, Sporttreffen usw. gefördert werden sollen. Sie haben das Ziel, den Informationsaustausch zu verbessern und z. B. den Bezug ausländischer Zeitungen in allen Konferenzstaaten in breiterem Umfange als bisher zu ermöglichen und die Arbeitsbedingungen von Journalisten zu verbessern. Sie eröffnen schließlich die Möglichkeit, die kulturelle Zusammenarbeit zu erweitern.
    Bei Korb 3, meine Damen und Herren, geht es um Fragen, die das Leben und das Schicksal unzähliger Menschen unmittelbar berühren. Es geht darum, ob Menschen ihre Angehörigen besuchen können, ob Familien, die auseinandergerissen sind, zusammenkommen, ob Menschen, die einander lieben, heiraten können, ob die Menschen überall in Europa mehr voneinander erfahren, ob sie einander besser verstehen können. An den praktischen Auswirkungen gerade dieser Aussagen wird die Bundesregierung den Wert der Konferenzergebnisse messen.

    (Beifall bei der FDP und der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)




    Bundesminister Genscher
    Und, meine Damen und Herren, sie wird wie ihre Freunde den Willen jedes Teilnehmerstaates zu echter Entspannung danach beurteilen, wie er diese Zusagen erfüllt.

    (Erneuter Beifall bei der FDP und der SPD)

    Konzentrieren wir uns also nach der Konferenz auf die Frage der Durchführung der Konferenzbeschlüsse gerade im Bereich des Korbes III.
    Schließlich noch zu den Konferenzfolgen: Ursprünglich war die Schaffung eines permanenten Nachfolgeorgans in der Diskussion; es sollte nach den Vorstellungen seiner Initiatoren Kern und Ansatzpunkt eines künftigen gesamteuropäischen Sicherheitssystems sein. Es wird kein solches Folgeorgan geben. Statt dessen wird 1977 nach entsprechender Vorbereitung ein erstes Treffen von hohen Beamten stattfinden. Bei dieser Gelegenheit werden wir mit den anderen Teilnehmerstaaten zu prüfen haben, ob die Konferenzbeschlüsse in der erwünschten Weise Wirklichkeit geworden sind. Zugleich wird dabei festzustellen sein, wie diese Wirklichkeit das politische Klima in Europa zu beeinflussen vermochte. Wir werden uns dann auch schlüssig werden können, in welcher Form wir den multilateralen Entspannungsprozeß in Europa fortsetzen wollen. Eine Automatik wird es dabei nicht geben; jedes neue Treffen und jede neue Konferenz wird dann nach dem Konsensprinzip von jedem einzelnen der 35 Teilnehmerstaaten gutgeheißen werden müssen. Die praktischen Erfahrungen, die dann vorliegen, werden über die weitere Praxis entscheiden.
    Meine Damen und Herren, wenn wir die Verhandlungsergebnisse bewerten, so ist eine nüchterne Einschätzung des Charakters und des Erfolgswertes der Konferenzergebnisse erforderlich. Die Konferenzergebnisse sind nach Auffassung der Bundesregierung ein wichtiger und notwendiger Schritt innerhalb des komplizierten und Geduld erfordernden Prozesses der Entspannung. Sie in die Wirklichkeit umzusetzen wird nicht minder wichtig sein; das wird nicht weniger Beharrlichkeit erfordern als die Verhandlungen während der Konferenz selbst.
    Die Bundesregierung erwartet keine spektakulären Fortschritte in der Phase unmittelbar nach der KSZE, aber sie wird um kontinuierliche Fortschritte auf der Basis des Ergebnisses von Genf ringen. Meine Damen und Herren, hüten wir uns vor der Illusion, es könne eine Politik geben, mit der uns schon am Anfang des Entspannungsprozesses all das in den Schoß fällt, was wir am Ende als sein Ergebnis für möglich halten und wünschen.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Wenn sich also der Fortschritt nur in kleinen Schritten zeigen sollte, so müssen die Schritte doch konkret sein, d. h. spürbar für die Menschen.
    Für die Menschen in unserem Lande ist Entspannung kein abstrakter Begriff. Sie kann sich nur in Fortschritten für ungezählte Einzelschicksale ausdrücken, und das begründet die Pflicht für uns, die Instrumente zu nutzen, die diese Konferenz und ihre Ergebnisse uns bieten. Nicht nur wir, nicht nur die unter der Teilung leidenden Menschen bei uns werden die Formulierungen der Konferenztexte mit der
    Wirklichkeit vergleichen, und es gehört keine Phantasie dazu, die Unterschiede festzustellen. Aber gerade dieser Gegensatz zwischen Wirklichkeit und Forderung veranlaßt uns, die Chance von Helsinki zu ergreifen und im Interesse der Menschen auf die Realisierung der Beschlüsse hinzuwirken.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Meine Damen und Herren, Protest und Klage allein bringen uns nicht weiter; das haben wir lange genug erlebt.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Die Schlußakte von Helsinki wird kein völkerrechtlicher Vertrag, kein völkerrechtliches Abkommen sein, das eine neue Rechtssituation schafft. Worüber sich die 35 Teilnehmerstaaten geeinigt haben und was sie sich in feierlicher Form zu eigen machen, sind Regeln ihres zukünftigen politischen Verhaltens und damit Regeln von hohem politisch' moralischem Rang.
    Mit dieser Qualifizierung des Konferenzergebnisses schmälern wir ihre Bedeutung nicht; im Gegenteil: Wir bekennen uns zu diesen politischen Bindungen, und wir erwarten, daß die anderen es ebenso halten, daß sie diese Regeln als Richtschnur ihres zukünftigen Handelns betrachten. Wir können uneingeschränkt ja sagen zu diesen Regeln. Die jetzt formulierten Absichten verlangen von uns keine Änderung der Grundsätze unserer Politik; im Gegenteil, sie beschreiben die Politik, die wir auf Grund unserer Ideale und unseres Bildes vom Menschen als eines freien Individuums betreiben. Zusammenarbeit auf allen Gebieten, vertrauensbildende Maßnahmen, menschliche Erleichterungen, Gewaltverbot, auch hinsichtlich der Grenzen, aber die Möglichkeit friedlicher Veränderbarkeit: meine Damen und Herren, niemandem in unserem Lande kann eine solche Politik auch nur die geringsten Schwierigkeiten bereiten.
    Wie die Konferenzergebnisse keine Charta für ein Gesamteuropa darstellen, so schaffen sie auch kein sogenanntes gesamteuropäisches Sicherheitssystem. Die KSZE hat die Machtstruktur in dieser Welt und in Europa nicht verändert. Die Schlußakte ist kein Ersatz für das atlantische Bündnis. Die Bedrohung durch das militärische Potential der Staaten des Warschauer Pakts besteht ebenso fort wie die gesteigerten Rüstungsanstrengungen der Mitglieder dieses Pakts. Deshalb ist und bleibt die NATO Grundlage unserer Sicherheit.
    Das Bündnis ist für uns ebenso unverzichtbar wie die Präsenz der Vereinigten Staaten und Kanadas in Europa. Was es zu sehen gilt, ist der unauflösbare Zusammenhang zwischen Bündnis und Entspannung. Entspannung und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Ost und West sind überhaupt nur bei einem militärischen Gleichgewicht der Kräfte möglich. Das heißt: das Bündnis steht nicht nur nicht im Gegensatz zur Entspannung, es ist seine Voraussetzung und Grundlage. Wer im Westen Entspannung will, muß auch das Bündnis fördern. Von dieser Überzeugung wird sich die Bundesregierung auch in der Nach-KSZE-Phase leiten lassen.



    Bundesminister Genscher
    Vor uns liegt ein Dokument, das die Perspektive eröffnet, zu mehr Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu kommen. Kriterium für die endgültige Bewertung der Konferenz ist und bleibt aber die Durchführung der Beschlüsse. Die Konferenz ist für uns nicht Endpunkt, sondern Ausgangspunkt. Es muß sich nun zeigen, ob sich die Teilnehmerstaaten bei der Durchführung von der gleichen Haltung leiten lassen, die den positiven Abschluß der Konferenz ermöglichte. Die Bundesregierung ist bereit, das Ihre zur praktischen Durchführung der Konferenzbeschlüsse beizutragen, und sie ist entschlossen, auf diese praktische Durchführung durch alle Teilnehmerstaaten zu drängen. Sie tut das im Verein mit den anderen Staaten der Europäischen Gemeinschaft und im Verein mit ihren Bündnispartnern.
    Meine Damen und Herren, wir werden die Chance, die diese Konferenz bietet, nur dann nutzen können, wenn Klarheit bei der Bestimmung unserer Ziele, Entschlossenheit und Festigkeit bei ihrer Durchsetzung unser Handeln bestimmen. Das Dokument als solches birgt keine Gefahren in sich. Gefahren könnten sich nur dann ergeben, wenn Illusionen und nicht der klare Blick für die Realität unser künftiges Handeln bestimmen, wenn wir die Ziele unserer Politik aus den Augen verlieren, wenn ein trügerisches Sicherheitsgefühl den Verteidigungswillen einschläfert und damit der Sicherheit ebenso wie ausgewogener Leistung und Gegenleistung den Boden entzieht. Hier müssen sich Weitblick und Verantwortung der Demokratien bewähren. Und, meine Damen und Herren, wir sollten uns selbst, wir sollten unseren Partnern diese Fähigkeit nicht absprechen.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Ebensowenig aber können wir die gebotenen Möglichkeiten der Konferenz nutzen, wenn wir uns aus mangelndem Selbstvertrauen den Konferenzergebnissen und damit auch ihrer Verwirklichung und Durchsetzung verweigern.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Es würde unseren eigenen nationalen Interessen schaden, wenn wir aus der gemeinsamen Haltung unserer Verbündeten und Partner ausscherten.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Wir könnten unsere eigenen Interessen als Deutsche und Europäer nicht wahrnehmen, würden wir der Selbstisolierung unseres Landes gegenüber allen anderen Konferenzteilnehmern — einschließlich unserer Verbündeten — den Vorzug geben vor der aktiven Mitgestaltung des Entspannungsprozesses.
    Meine Damen und Herren, die zustimmende Haltung der Bundesregierung zu den Konferenzergebnissen steht in der Kontinuität der Politik der Friedenssicherung der Bundesrepublik Deutschland. Diese Politik gebietet, die Entspannung zu fördern. Diese Politik gebietet, die Chance der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa illusionslos und mit Festigkeit für die Menschen im geteilten Deutschland für die Menschen im geteilten Europa und für die Sicherung des Friedens auf dem Kontinent zu nutzen.
    Die Bundesregierung stellt sich dieser Verantwortung. Wir werden bei der Unterzeichnung in Helsinki nach dieser Einsicht handeln.

    (Anhaltender Beifall bei der FDP und der SPD)



Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Ich danke dem Herrn Bundesminister.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Marx.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Werner Marx


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin, meine verehrten Damen und Herren! Diese Debatte, zu der wir aus den Ferien nach Bonn gekommen sind, ist keine Ratifikationsdebatte. Dem Deutschen Bundestag liegt kein Vertrag mit völkerrechtlicher Wirkung und kein Zustimmungsgesetz vor.
    Der Bundesaußenminister hat soeben in seiner Rede mit Bedacht noch einmal auf diese Tatsache, die ich für meine Fraktion unterstreiche, hingewiesen. Aber die Texte von Genf, meine Damen und Herren, sind von politischer Bedeutung. Die Bundesregierung selbst weist ihnen politisch-moralische Wirkung zu. Sie nennt sie „Absichtserklärungen".
    Dies ist kein harmloser Ausdruck. Das haben wir bei den Absichtserklärungen kennengelernt, die im Frühjahr 1970 in Moskau formuliert worden sind.

    (Sehr gut! Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

    Damals sagte uns der damalige Außenminister, solche politischen Willensbekundungen seien völkerrechtlich nicht bindend. Sie verpflichteten nur jene Regierung, die sie unterschreibe.
    Wir halten fest, daß aus den damaligen Absichtserklärungen — den Sätzen 1 bis 4 des ersten Teils — der deutsch-sowjetische Vertrag wurde. Aus dem Satz 10 wurde die Konferenz, über die wir heute debattieren.
    Ich erinnere an dieser Stelle noch einmal an den Wortlaut, der, ohne daß auch nur ein Wort vorher mit unseren Verbündeten ausgehandelt und vereinbart worden wäre, damals zwischen Bahr und Gromyko ausgehandelt wurde. Er lautet — ich zitiere —:
    Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und die Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken begrüßen den Plan einer Konferenz über Fragen der Festigung der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und werden alles von ihnen Abhängende für ihre Vorbereitung und erfolgreiche Durchführung tun.
    Diese Aktion Bahrs hat die Bundesregierung gebunden, mehr noch: sie hat damals dem jahrelang mit großer Zähigkeit verfolgten sowjetischen Wunsch zum Erfolg verholfen; sie war auslösender Faktor für viele — und zögernde — Europäer und auch für die an der Sache zunächst kaum interessierten Amerikaner, nolens volens mitzumachen. Wir haben also heute — gewarnt durch die damaligen Erfahrungen — Grund genug, die Texte zu prüfen, ihre Bedeutung und Wirkung abzuschätzen. Wir tun es auch, weil wir wissen, wie der große Partner auf



    Dr. Marx
    der östlichen Seite die Texte versteht, und weil wir miteinander untersuchen wollen, was er aus den Texten machen kann und machen will.
    Für uns, meine Damen und Herren, handelt es sich also nicht um Zustimmung oder Ablehnung völkerrechtlicher Verbindlichkeiten, sondern um politische Wertungen von Abmachungen und sogenannten Absichtserklärungen.
    Unserer heutigen Debatte ging eine erste Befassung des Bundestages mit der ganzen weitschweifigen Materie bereits im Oktober des vergangenen Jahres auf Antrag und nach einer Großen Anfrage, die meine Fraktion eingebracht hatte, voraus. Wir knüpfen heute an die damals vorgetragenen Auffassungen und Beurteilungen an.
    Die Fraktion der CDU/CSU hat seither besonders lebhaft den Gang der Diskussionen in Genf verfolgt. Wiederholt waren Mitglieder unserer Fraktion am Ort der Konferenz. Dabei konnten wir feststellen, daß einige unserer, auch im vergangenen Oktober geäußerten Bedenken gemindert worden sind. Entscheidende Probleme aber sind nicht befriedigend geregelt worden. Das war offenbar auch gar nicht möglich, nachdem sich die Regierung auf die Konferenz und ihren Mechanismus eingelassen hatte. Trotzdem haben wir uns bemüht, durch kritische Einwände, durch eigene Vorschläge, durch Drängen und Korrigieren, durch Fragen und Mahnen die Verhandlungsposition der Bundesregierung zu unterstützen; so habe ich es für meine Fraktion im Oktober von dieser Stelle aus zugesagt.
    Herr Bundesaußenminister, Sie selbst haben unsere Einwände und Anregungen, sagen wir einmal, zumindest zu einem gewissen Teil gehört, aufgenommen, diskutiert und verwendet. Freilich waren Ihnen selbst eine Reihe einengender Grenzen gezogen; denn die deutsche Beteiligung an der Konferenz war für Sie vorgegeben durch die Festlegungen Bahrs in Moskau und wohl auch durch die der deutschen Offentlichkeit noch immer — Herr Kollege Brandt, ich höre, daß Sie nachher sprechen; vielleicht können Sie dazu etwas sagen — weithin unbekannten Festlegungen, die Sie selbst mit Herrn Bahr und Herrn Breschnew auf der Krim eingegangen sind.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, für unsere Bewertung des ganzen Unternehmens sind aber nicht nur die Texte wichtig, sondern auch die Lage unseres Landes, die immer erneut gefährdete Situation Berlins und die Entwicklung in Europa, auch die Entwicklung in der militärischen Rüstung im Warschauer Pakt. Bei den Texten kommt es auch auf die Absichten an, mit denen sie redigiert wurden; denn Vieldeutigkeit — das zeigt sich mit aller wünschenswerten Klarheit bei der nachfolgenden Diskussion über die Bedeutung der einzelnen Begriffe, der einzelnen Auslegungen der Ostverträge und des Berlin-Abkommens —, Mehrdeutigkeit führt eben nicht zu Entspannung und Ausgleich, sondern sie ist die neue Quelle neuer Konflikte.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Dies aber, meine Damen und Herren, „Quelle neuer Konflikte", darf unserer Überzeugung nach die KSZE in Genf keinesfalls werden.
    Allerdings gibt es viele Gründe, die uns befürchten lassen, daß sie es trotzdem wird. Man hat uns im Ausschuß gesagt, daß natürlich die verschiedenen Seiten in Genf bei der Abfassung der Texte nicht immer das gleiche, ja, mitunter sogar sehr Unterschiedliches gedacht und gewollt haben, und Diskussionen, die wir mit den Vertretern der einzelnen Delegationen in Genf geführt haben, haben dies in einer eklatanten Weise bestätigt. Deshalb rufe ich jetzt an dieser Stelle noch einmal das in Erinnerung, was der damalige Außenminister Walter Scheel in seiner Rede in Helsinki zu Beginn der ganzen Sache zu dieser fundamentalen Frage der Eindeutigkeit gesagt hat. Ich zitiere:
    Wir müssen Klarheit darüber schaffen, was wir tatsächlich meinen. Nur wenn wir die gleiche Sprache sprechen, mit denselben Worten dasselbe meinen, werden wir Erfolg haben. Und schließlich
    — so fügte Scheel hinzu —
    müssen wir das gleiche wollen.

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

    Daß sich die Bundesregierung an diese Maximen gehalten hätte, wird doch nun wirlich niemand behaupten können; denn die Texte haben in weiten Bereichen keinesfalls Klarheit geschaffen. Sie enthalten eben nicht zweifelsfrei, was die Beteiligten tatsächlich meinen. Sie verwenden zwar die gleichen Ausdrücke, die gleichen Wörter, die gleichen Floskeln; aber der Inhalt dieser Begriffe ist — wir wissen es doch aus der Diskussion der letzten Jahre — vielfältiger Ausdeutung fähig, ja, gegensätzlicher, ich sage: gefährlich gegensätzlicher Interpretation.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Schließlich, meine Damen und Herren: Es wäre ja schön, wenn es so wäre; aber es kann doch niemand behaupten, daß die Hauptkontrahenten, will ich einmal sagen, von einem gleichen Willen ausgegangen seien.
    Lassen Sie mich aus der Rede des damaligen Außenministers noch ein Zitat hinzufügen. Er sagte wörtlich:
    Wenn im Verlauf unserer Erörterungen klar würde, daß unsere Auffassungen über die Wirklichkeit noch zu weit auseinanderklaffen, dann, meine ich, wäre es ein Gebot der Ehrlichkeit, dies klar zu sagen. Das wäre keine Katastrophe für Europa, es wäre auch nicht das Ende des Entspannungsprozesses.
    Und er fährt später fort:
    Aber wir sollten der europäischen und der Weltöffentlichkeit deutlich sagen, daß wir noch Zeit benötigen. Wir müßten uns dann, um mit Metternich zu reden,



    Dr. Marx
    — und er zitiert ihn —„hinter der Zeit verschanzen und die Geduld zu unserer Waffe machen".

    (Graf Stauffenberg [CDU/CSU] : Hört! Hört!)

    Das sind wichtige, zeitlos gültige Sätze auch heute und für die künftige Politik.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die Bedingungen des ehemaligen deutschen Außenministers, sagen wir einmal, als Maßstab an die Schlußpapiere, die uns vorliegen, gelegt, machen deutlich, daß die Bundesregierung das wichtige von ihr damals selbst formulierte und von uns so geforderte und gestützte Ziel nicht erreicht hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Sie hat den Zusammenhang zwischen der Sicherheitskonferenz und jener Konferenz, die man noch „Konferenz für gegenseitigen ausgewogenen Truppenabzug" nennt, den Zusammenhang, der damals eine Voraussetzung für die Eröffnung der KSZE war, aufgegeben. Herr Bundesaußenminister, dies war ein folgenschwerer Fehler. Denn erst dort, wo es um harte Tatsachen, um militärische Rüstung, um Waffen, Gerät, Soldaten ging, wo man um Einklagbares, Meßbares, Fühlbares miteinander verhandelt, dort hätte sich die Bereitschaft zu faßbarer Sicherheit in Europa erweisen können.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Aber diese Nagelprobe hat die Bundesregierung nicht verlangt. Sie hat — verzeihen Sie den Ausdruck — mitgebastelt an Formeln, statt konkrete Maßnahmen einer kontrollierten Abrüstung zu ergreifen.

    (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU)

    Herr Bundesaußenminister, Sie sagten soeben, Sie hätten an dem Grundsatz der Verbindung zwischen MBFR, wie es in der Fachsprache heißt, also Konferenz für ausgewogenen Truppenabzug, und Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa festgehalten.
    Ja, am Grundsatz festhalten, ohne daß dies real spürbar wird. Dies allerdings ist eine Politik, die diese Fraktion nicht abzudecken bereit ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, ich sage offen: Hier liegt einer der wichtigen Gründe dafür, daß wir ein Sicherheitsergebnis — ich unterstelle einmal, das, was wir vor uns liegen haben, sei ein Sicherheitsergebnis —, das ohne Fortschritte in der militärischen Rüstung, ohne konkrete Vereinbarungen zur Abrüstung, zustande gekommen ist, nicht bejahen.
    Die Hebelwirkung, die Sie auf die Wiener Truppenreduktionsverhandlungen hätten ausüben können, ist nicht genutzt worden. Ein Blick auf diese Konferenz, die sich in Wien so mühsam dahinschleppt, die — wie alle sagen, die von der Sache etwas verstehen — in die Sackgasse gekommen ist, läßt mich einen Satz zitieren, den der Leiter der holländischen Delegation vor einigen Tagen ausgesprochen hat. Er sagte, daß der Osten immer noch nicht in positiver und konstruktiver Weise auf unsere Reduktionsvorschläge geantwortet hat. Dies sei sehr zu bedauern.
    Bei den Texten, die uns vorliegen, hat sich die Bundesregierung — der Bundesaußenminister hat dies jetzt noch einmal deutlich vorgetragen — auf das Konsensprinzip eingelassen, d. h. für jeden Satz, für jede Feststellung war der Wille, war die Zustimmung aller beteiligten Regierungen nötig. Ich meinerseits habe im Oktober bei der damaligen Debatte hier darauf hingewiesen, daß dadurch natürlich die Verantwortung der deutschen Bundesregierung besonders groß werde; denn, Herr Bundesaußenminister, Sie haben doch gewiß jede Formulierung, die wir jetzt in diesem umfangreichen Papier vor uns liegen haben, nur dann akzeptiert, wenn Sie mit ihr unter der besonderen Berücksichtigung der deutschen Fragestellung einverstanden waren. Nun, eine Prüfung der Texte ergibt aber, daß diese unsere Belange oft — ich sage: oft; natürlich nicht überall — in einem Schwall von Worten untergegangen sind.
    Herr Bundesminister, Sie haben mit großem Nachdruck auf die Zusammenarbeit der neun europäischen Staaten und der 15 NATO-Staaten hingewiesen. Bereits im Oktober hatten wir geantwortet, daß wir dies für einen wichtigen Fortschritt halten, von dem wir glauben, daß eine so entwickelte politische Methode uns in Europa, in wachsender Gefährdung, tatsächlich helfen kann.

    (Dr. Carstens [Fehmarn] [CDU/CSU] : Sehr richtig!)

    Aber Sie, Herr Bundesaußenminister, haben auch wörtlich gesagt, daß dort, wo einer der neun Staaten etwas ganz besonders Wichtiges hatte, die anderen acht Staaten ihm geholfen haben. Hier schulden Sie uns aber Auskunft darüber — wenn es so war — die deutschen Interessen, die wesentlichen Interessen unseren Landes, nicht stärker und sichtbarer berücksichtigt worden sind.
    Meine Damen und Herren, im Text gibt es — so darf ich einmal sagen — Allerweltsweisheiten, langatmige und mitunter kaum genießbare Passagen. Es gibt daneben eine Reihe vernünftiger Regelungen, die wir durchaus positiv würdigen. Manche Sätze sind so schön gelungen und enthalten so treffliche Aussagen, daß man ihnen nur von Herzen zustimmet möchte. Andere scheinen tatsächliche Erfolge westlicher Konferenzfähigkeit zu verbürgen, z. B. folgende Bestimmung, die ich aus dem Prinzip Nr. II zitieren will:
    Die Teilnehmerstaaten werden sich ... jeglicher Handlung enthalten, die eine Gewaltandrohung oder eine direkte oder indirekte Gewaltanwendung gegen einen anderen Teilnehmerstaat darstellt. Sie werden sich gleichermaßen jeglicher Gewaltmanifestation, die den Zweck hat, einen anderen Teilnehmerstaat zum Verzicht auf die volle Ausübung seiner souveränen Rechte zu bewegen, enthalten.
    Versteht die Bundesregierung diesen Satz — so fragen wir nach seiner Lektüre — als striktes Verbot einer — unter welchem Vorwand auch immer — angewandten Breschnew-Doktrin? Konkret: Wird



    Dr. Marx
    dieser wohlformulierte Satz auf dem schönen Papier von Genf stark genug sein, um die Sowjets auch künftig, nach all den bitteren Erfahrungen sage ich: künftig daran zu hindern, einen anderen Staat, z. B. einen brüderlichen Staat des eigenen Lagers, zu überfallen? Wird es nicht mehr möglich sein, daß man behauptet, die leninistische Philosophie lasse einen Rückfall sozialistischer Staaten in die Barbarei bürgerlichen Lebens nicht mehr zu und sie verlange daher — auch aus den Interessen der sowjetischen Macht heraus —, daß der abirrende Bruder mit militärischer Nachhilfe auf den Pfad der allgemeinen sozialistischen Tugend zurückgebracht wird? Ist also — dies ist für uns eine wichtige Frage; hier würden wir gern noch einmal die Interpretation, die verbindliche Interpretation der Regierung hören — mit diesem Satz erreicht, daß die Sowjetunion ihr eigenes Lager durch Gewaltandrohung oder durch Gewalteinsatz nicht mehr knebeln kann? Ist das Papier von Genf hinsichtlich des Gewaltverbots stärker als alle vorher und sogar völkerrechtlich abgeschlossenen und für die Sowjetunion verbindlich gemachten Gewaltverzichtsverträge? Wenn diese Frage von der Bundesregierung mit Ja beantwortet wird, dann ist uns dies sehr recht. Aber, meine Damen und Herren, niemand in diesem Raum kann vergessen, daß sich die Sowjetunion trotz aller Festlegungen, man enthalte sich der Androhung oder Anwendung von Gewalt, im Jahre 1953 in Mitteldeutschland, im Jahre 1956 in Ungarn, im Jahre 1968 in der Tschechoslowakei eben ganz anders verhalten hat, als sie vorher unterschrieben hatte. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich sagen: Wir bleiben natürlich nach all den Erfahrungen skeptisch. Denn wir haben ja auch unseren Lenin gelesen und seine Lehrsätze und Absichtserklärungen über die Verachtung, mit der man, wenn es möglich ist, mit Verträgen umgeht.

    (Jäger [Wangen] [CDU/CSU] : Sehr wahr!)

    Meine Damen und Herren, es gibt andere Passagen dieser Schlußakte — ich sage: für uns entscheidende Passagen —, die nicht einmal solche Fragen und freundlichen Deutungen zulassen; sie sind nicht akzeptabel. Ich meine jene Regelungen, auf die es vor allem offenbar den Sowjets ankam und die niemand sonst in Europa so sehr wie uns selbst betreffen. Sie werden den vitalen Interessen unseres geteilten Landes und seiner Menschen nicht gerecht.

    (Rawe [CDU/CSU] : Ist leider wahr!)

    Hier liegt, meine Damen und Herren, einer der Konflikte zwischen der Regierung und uns. Und die Regierung muß jetzt — das verstehen wir —, nachdem sie so lange verhandelt hat und nachdem so viel geduldiges Papier beschrieben worden ist, nachdem unsere Delegation in Genf im Rahmen der ihr zugegangenen Weisungen ordentliche Arbeit geleistet hat und sie, die Regierung, sich nun anschickt, nach Helsinki zu gehen, natürlich die ganze Sache loben. Unsere Aufgabe, die Aufgabe der parlamentarischen Opposition, ist eine kritische Begleitung und Beurteilung des Tuns der Regierung. Und wir nehmen für uns durchaus in Anspruch: Mancher
    Text ist erträglicher geworden, mancher wurde besser formuliert, weil wir unablässig drängten.

    (Bundeskanzler Schmidt: Ha, ha!)

    — Herr Bundeskanzler, Sie rufen: Ha, ha! —, z. B. in der Frage: Wie kann Berlin gesichert werden? In den Texten steht jetzt, was vorher nicht der Fall war — der Bundesaußenminister beruft sich im Ausschuß und hier darauf, daß dies ein großer Erfolg sei —: Sie gelten in ganz Europa. Niemand kann bezweifeln — Herr Bundeskanzler, auch Sie nicht —, daß wir mit größter Energie darauf gedrängt haben. Wir loben die Regierung, daß sie zumindest dieses Minimum zustande gebracht hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat uns wieder versichert, daß die Konferenz von Genf die deutsche Frage nicht berühre, daß alles offengeblieben sei und daß Berlin gesichert bleibe. Verzeihen Sie, wenn ich sage: Wir sind da skeptischer. Es kann ja sein — darin besteht ja das Wesen der parlamentarischen Auseinandersetzung —, daß man bei der Lektüre der gleichen Texte zu unterschiedlichen politischen Auffassungen kommt. Wir sind skeptischer hinsichtlich all der vielen Hoffnungen, die mit diesen Texten verbunden worden sind, vor allen Dingen dort, wo es unser eigenes Land und wo es Berlin betrifft. Meine Damen und Herren, wir können die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, daß andere es anders sehen als die Regierung und daß die Sowjetunion diese Konferenz aus Gründen angestrebt und jetzt mit vielerlei Druck zum Abschluß gebracht hat,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    die der Auffassung der Bundesregierung entgegenstehen. Denken Sie doch bitte daran, welchen Reiz die Bundesregierung auf Propagandisten der anderen Seite ausübt, wenn sie, was wir aus unserer eigenen Überzeugung heraus selbstverständlich unterstützen, sagt, die deutsche Frage sei offen geblieben. Die Sowjetunion begreift die Unterschrift von 35 Staatsmännern unter dieses Bündel von Papieren als Besiegelung dessen, was sie als militärische Eroberung und ideologisch-politisch gewaltsame Umformung in Ost-Mitteleuropa erzwungen hat. Für sie ist — man lese in sowjetischen Zeitungen — diese Konferenz ein Ersatzfriedensvertrag, für uns natürlich nicht, weder für irgendeinen in der Opposition noch für die Regierung.
    Wir halten fest — und dies ist ein wichtiger Teil, den auch wir, die Opposition, hier in die Ostdebatte, in die Auseinandersetzungen um die Ostverträge eingebracht haben — an jedem Wort des Briefes zur deutschen Einheit, und wir halten fest an jedem Wort der gemeinsamen Entschließung — gemeinsamen Entschließung! — des Deutschen Bundestages, und wir fühlen uns verpflichtet, dem zu folgen, was das oberste deutsche Verfassungsgericht zum innerdeutschen Grundvertrag gesagt hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Aber, meine Damen und Herren, die Sowjetunion hat damals schon die Ostverträge als eine endgültige Festschreibung der Teilung Deutschlands in



    Dr. Marx
    Europa verstanden. Und sie hat unsere offiziellen
    Schriftstücke behandelt wie lästiges und unnützes
    Archivmaterial. Das kann man doch nicht vergessen.
    Was mich aber — darf ich das bitte sagen — doch sehr besorgt macht, ist die Tatsache, daß in der sozialdemokratischen Zeitung „Vorwärts" gerade jetzt ein schauerlicher Artikel erschienen ist, in dem, meine Herren, einer Ihrer treuesten journalistischen Freunde die eben genannte Bundestagsresolution, die wir miteinander beschlossen haben, herunter macht, der sie als „schrecklich" bezeichnet und der sagt — hören Sie bitte genau zu —, wer im Geist der Verträge Ostpolitik machen wolle — jetzt zitiere ich —,
    muß die Resolution wie das Urteil
    — er meint das Bundesverfassungsgerichtsurteil — ignorieren.

    (Hört! Hört! bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, um die zynische Gebrauchsanweisung für eine schädliche und unaufrichtige Politik, die ich darin sehe, zu vervollständigen, wird in dem gleichen Artikel von dem gleichen Autor im „Vorwärts" empfohlen, daß man bei dieser Mißachtung aber so geschickt sein solle, daß man weder mit der Entschließung — wie es dort heißt — noch mit dem Urteil von Karlsruhe kollidieren, also zusammenstoßen, dürfe.
    Meine Damen und Herren, solche Stimmen werden von dem östlichen Partner gerne gehört. Sie betreiben dessen Politik.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/ CSU — Börner [SPD] : Unerhört! — PfuiRufe von der SPD)

    — Meine Damen und Herren, ich möchte doch an dieser Stelle, weil ich sehe, daß Herr Börner, der sonst die Parolen ausgibt, „unerhört" und „pfui" ruft, sagen: Sie können sich doch nicht auf die Seite eines Mannes stellen, der uns allen vorschlägt, wir sollten eine Ostpolitik treiben vorbei an der Entschließung und in der Negierung der auch von Ihnen, Herr Börner, und Ihrer Fraktion hier unterzeichneten, hier gemeinsam beschlossenen Entschließung des Bundestages. Dies können Sie doch aufrichtigerweise nicht tun.

    (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf des Abg. Börner [SPD])

    Ich habe den Artikel ja nicht geschrieben, aber Sie werden doch zugeben, daß es richtig ist, wenn ich sage und wiederhole, daß man damit die Politik der anderen Seite unterstützt.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren! Wir wissen, wie die andere Seite — wir sehen schon erste Anklänge; ich komme nachher darauf zurück — die Genfer Papiere interpretieren will und wie sie ihrer Auslegung vieldeutiger Texte den nötigen Nachhall — vielleicht auch dadurch, daß man ein bißchen die militärischen Muskeln spielen läßt — verschaffen will.
    „Vieldeutige Texte" habe ich gesagt, vieldeutig deshalb, weil es der anderen Seite gelungen ist, ihre
    Behauptungen von der Unverletzbarkeit der Grenzen, auf die keine Anschläge unternommen werden dürfen, gut plaziert in das Prinzip III zu bringen. Herr Bundesaußenminister, Sie haben gesagt, es sollte keiner, auch nicht in Gedanken, der Versuchung unterliegen, die Formulierung „Anschläge" auch nur in die Nähe unserer Wiedervereinigungspolitik zu bringen. Sie haben unsere vollständige Unterstützung. Aber Sie müssen bitte zugeben, daß z. B. die sowjetische Seite für „Anschläge" einen Ausdruck hat, der weitaus schillernder als der deutsche, der englische und der französische ist. Sie werden, wenn Sie Herrn Poljanow in der „Iswestija" von gestern lesen, finden, daß dort die gleiche Formel „Anschläge" verwendet wird, nämlich: eine Politik, die der anderen Seite nicht gefällt, wird als „Anschlag auf Frieden und Fortschritt" bezeichnet. Bitte, Herr Bundesaußenminister, wir sind es nicht, die den Begriff „Anschläge" auch nur in die Nähe unserer Wiedervereinigungspolitik bringen. Das ist doch die andere Seite. Lassen Sie sich doch von den Herren Ihres Hauses die Unterlagen dafür zur Verfügung stellen! Sie sind viel zu reichhaltig, als daß man bereit sein könnte, daran vorbeizugehen.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Dies ist das Problem!)

    Nach langem und zähem Ringen, wobei die deutsche Delegation sich besonders angestrengt hat, ist eine Formulierung fertiggestellt worden, wonach die Teilnehmerstaaten der Auffassung sind — ich zitiere —, „daß ihre Grenzen in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht durch friedliche Mittel und durch Vereinbarungen geändert werden können". Als diese Formulierung gefunden und registriert war, wie man in Genf sagt, hat man sich hier gebärdet, als ob dies ein großer Triumph sei. Wir sind zufrieden, daß es eine Formel gibt — eine Formel, die lediglich Selbstverständlichkeiten aussagt. Diese Selbstverständlichkeiten zu wiederholen, war bis in die letzten Konferenztage hinein außerordentlich umkämpft. Aber ich darf noch hinzufügen, daß die friedliche Grenzänderung nun eben doch nicht an das Selbstbestimmungsrecht gebunden wurde. Diese Tatsache kann die Bundesregierung kaum als ihren Erfolg verkaufen.
    Meine Damen und Herren, Sie sagen, die Konferenz sei keine Konferenz über Deutschland gewesen. Richtig. Aber sie darf natürlich auch nicht eine Konferenz ohne die gebührende Berücksichtigung unserer deutschen Interessen sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Aber — daran wird hoffentlich niemand in der Bundesregierung zweifeln — sie war, wie das Prinzip III zeigt, in ihrer ganzen Vorbereitung und Durchführung eindeutig auf Deutschland hin gezielt.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

    Mit dem ominösen Satz, man müsse sich — ich zitiere wieder — „jeglicher Forderung oder Handlung enthalten, sich eines Teils oder des gesamten Territoriums eines Teilnehmerstaates zu bemächtigen", will die Sowjetunion jede Diskussion über die



    Dr. Marx
    deutsche Wiedervereinigung ersticken und, falls sie doch geführt werden sollte, als Verletzung der Prinzipien der KSZE angreifen.
    Sprechen wir es offen aus: nach sowjetischer Auslegung — und die ist eben für uns wichtig, weil dies der andere große Partner ist, der bei diesen Verträgen eine sehr wichtige Rolle spielte — wäre eine Wiedervereinigung nur noch im Wege der sogenannten Konföderation beider Staaten in Deutschland möglich. Was Ulbricht im Jahre 1958, wenn ich recht erinnere, in einem Interview mit der „Neuen Ruhr-Zeitung" und der „Neuen Rhein-Zeitung" verlangte, nämlich eine deutsche Konföderation, ist jetzt dank der formidablen Geschicklichkeit dieser und der vorhergehenden Regierung die einzige denkbare Möglichkeit in den Augen der Sowjets geworden. Dieser Gedanke mag für andere bequem sein. Für uns ist er unerträglich.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die Genfer Texte haben in sowjetischen Augen aber eine weit über die deutschen Belange hinausgehende Wirkung, nämlich die Endgültigkeit jener durch Zwang hergestellten Ordnung, die von der östlichen Vormacht in Osteuropa gegen das Völkerrecht, sogar gegen viele Abmachungen von Jalta durchgesetzt worden ist.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU)

    Jede nationale und freiheitliche Regung in Osteuropa, die sich gegen die Okkupation z. B. Bessarabiens und der Nordbukowina, der Karpatho-Ukraine, Ostpolens, des nördlichen Ostpreußens, der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen richtet, wäre ein Verstoß gegen die Genfer Übereinkünfte. Dort wird — ebenso wie in Mitteldeutschland — bei Beibehaltung des totalitären Systems niemand sagen können, friedliche Grenzveränderungen seien nach Übereinkunft der Betroffenen möglich. Man weiß doch, daß die Menschen dort schweigen müssen und ihnen jede Chance genommen ist, ihr Selbstbestimmungsrecht auszuüben und ihre Menschenrechte wahrzunehmen.

    (Sehr wahr! bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, zwar sind Gewaltverzicht und Okkupationsverbot, rechtliche Gleichheit und territoriale Integrität, Freiheit und politische Unabhängigkeit, Menschen- und Individualrechte, Religions-, Gewissens-, Gedanken- und Überzeugungsfreiheit, Selbstbestimmung und Menschenwürde im Prinzipienkatalog feierlich garantiert. Das Ganze ist damit festlich drapiert. Aber angesichts der harten Tatsachen in einem Teil Europas bringt die Wiederholung dieser schön klingenden Formeln, ohne daß man über Möglichkeiten verfügt, die andere Seite zu veranlassen, nicht nur zu schreiben, sondern sich auch so zu verhalten, wie sie schreibt, keine neue politische Wirklichkeit.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Was in der Charta der Vereinten Nationen, in den Statuten der UNESCO, in den Menschenrechtspakten bereits als Grundlage menschlichen und staatlichen Zusammenlebens verankert ist, ist leider nur zu einem geringen Teil verwirklicht worden; zum
    großen Teil blieb es Papier. Warum? Weil die Sowjetunion alle diese hehren Forderungen, Prinzipien, Erklärungen und Verpflichtungen zwar unterschrieben, aber nicht verwirklicht hat, weder im eigenen Lande noch in den von ihrem System überzogenen Staaten Ostmitteleuropas noch in dem von ihr geschaffenen Teil Deutschlands.
    Meine Damen und Herren, der Westen hat dem sowjetischen Konferenzziel mit Nachdruck — der Herr Bundesaußenminister hat vorhin darauf hingewiesen; auch diesen Nachdruck, Herr Kollege Genscher, unterstützen wir — sein eigenes entgegengestellt: Freizügigkeit für Menschen, Informationen, Ideen und Meinungen in ganz Europa. Das haben wir in diesem Hause als Zielvorstellung einer CDU/ CSU-Politik vorgetragen und oft diskutiert. Der Westen hat diese Formulierung dann übernommen, und es lohnte sich, zu dieser Konferenz zu gehen, um darum zu ringen. An dieser Stelle zitiere ich noch einmal den Außenminister, der sagte:
    Niemand hat ein größeres Interesse als wir Deutsche daran, daß die Konferenz ihr Ziel erreicht, die Beziehungen und die Kontakte auch zwischen den Menschen in ganz Europa zu verbessern.
    Herr Bundesaußenminister, selbstverständlich ist dies ein wichtiges und großes Ziel. Selbstverständlich haben wir dies — auch von uns aus — als die Meinung des ganzen Westens bezeichnet. Um einen Erfolg in dieser Richtung zu erringen, haben wir in der Oktoberdebatte ja gesagt, diese Konferenz sei eine Chance. Erlauben Sie, daß ich aus meiner damaligen Rede jetzt noch einen Satz wiedergebe — ich zitiere —:
    Wenn man ... sagen ... müßte, dieses Mehr an Freiheit in Europa ... sei nicht zu erreichen ..., weil die östliche Seite jede Forderung danach ohnehin als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten, als. Infiltration, als Export ideologischer Konterbande diffamiert, dann sollte das ganze Unternehmen rasch und ohne feierliche Unterschrift beendet werden.
    Jedes Wort, das wir damals gesagt haben, gilt angesichts der Texte des sogenannten Korbes 3 auch heute noch.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, die Bundesregierung sagt, die sowjetischen Wünsche seien bei weitem nicht erfüllt worden. Das ist richtig. Manche Hoffnungen, die man in Moskau mit der Konferenz verbunden hatte, sind nicht realisiert worden. Bei einer Konferenz von 35 Staaten unter dem Konsensprinzip kann das ja auch gar nicht anders sein. In der ersten Hälfte des Juni zeigte die Sowjetunion aber, daß sie genügend Vorteile und Zugeständnisse eingesammelt hatte, um auf ein rasches Konferenzende zu drängen. Alles andere, was sie jetzt zwar nicht im ersten Anlauf erreicht, aber keineswegs aufgegeben hat, will sie dann in späteren Konferenzen durchdrücken. Ein wichtges Etappenziel ist erreicht. Die gewünschten Platzvorteile sind gesichert. Nun kann die Propaganda beginnen und zugleich der Versuch des Westens und der Neutralen abgewehrt werden,



    Dr. Marx
    konkrete Festlegungen für die Menschen, für ihren unbehinderten Verkehr in Ost und West, für freie Informationen und einem umfassenden gleichgewichtigen Kulturaustausch zu erreichen.
    Meine Damen und Herren, als die deutsche Seite dem Drängen nach einem raschen Abschluß, dem, wie wir es genannt haben, Überrumpelungsmanöver Widerstand leistete und unter Ihrer Losung, Herr Kollege Genscher, „Klarheit geht vor Tempo" auf Weiterverhandlungen drängte, da häuften sich sofort die Angriffe auf diejenigen, die, wie der sowjetische Außenminister sagte, künstliche Probleme schüfen. Damit war natürlich die Opposition, aber, Herr Bundesaußenminister, damit waren auch Sie, damit war Ihr Kollege Leber gemeint. Sie, Herr Kollege Genscher, werden in vielen Verlautbarungen der anderen Seite als Bremser bezeichnet, als Mann, der sich, wie es dort heißt, in zunehmende Isolierung hineinmanövriere. Sehen Sie, so rasch können unsinnige Vorwürfe konstruiert werden, so rasch können fingerfertige Propagandisten diejenigen, die sich dem sowjetischen Druck und Sog erwehren wollen, diffamieren und als isoliert abstempeln. Einige in diesem Hause, meine Damen und Herren, und manche draußen sollten sich eigentlich zu schade sein, die dümmliche Formel, daß derjenige sich isoliere, der aus seiner eigenen wohlverstandenen Verantwortung nicht im allgemeinen bequemen Strom mitschwimmt, nachzuplappern.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, was ist nun im sogenannten Korb 3 — mehr Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Meinungen — herausgekommen? Offen gesagt, der Westen hat das gesteckte Ziel nicht erreicht, der Durchbruch ist ihm nicht gelungen. Die Sowjetunion — ich sage es noch einmal — hat längst unterschriebene, aber nie befolgte Festlegungen aufs neue als humanitäre Erwägungen zum Gegenstand von Verhandlungen und Kompromissen gemacht. Was herauskam — lesen Sie bitte noch einmal die Texte — ist durchweg enttäuschend. Da sind Übereinkünfte über Formeln, aber nicht über Sachverhalte getroffen worden. In unseren Ohren — Herr Kollege Brandt, ich übernehme eine Formulierung von Ihnen, die Sie allerdings in ganz anderem Zusammenhang gebraucht haben — nimmt sich dieser „Formelkram" merkwürdig, ja, mitunter zynisch aus. Meine Damen und Herren, es handelt sich um einen wahren Supermarkt von Attrappen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Herr Kollege Stücklen wird zu diesem Korb 3, zu diesen weithin dubiosen und vagen Erklärungen, hier noch sprechen. Ich füge aber noch einmal hinzu, was ich auch öffentlich gesagt habe: Was dabei herausgekommen ist, geht weit hinter die Bestimmungen der Vereinten Nationen zurück. Auch das muß man festhalten.

    (Jäger [Wangen] [CDU/CSU] : Sehr wahr!)

    Meine Damen und Herren, allein schon die Formel „wohlwollend" ruft bei uns Erinnerungen an den Vertrag mit der CSSR wach, einen Vertrag, den Sie, Herr Kollege Genscher, als einen Teil des
    Entspannungsprozesses oder einen Vertrag, der den Entspannungsprozeß gefördert habe, bezeichnet haben. In dem deutsch-tschechoslowakischen Vertrag ist die „wohlwollende Prüfung" von Anträgen auf Reisen und Familienzusammenführungen zugesagt worden. Die Bundesregierung hatte sich das damals als besonderes Verdienst angerechnet. Aber, meine Damen und Herren, leider muß man sagen, es ist unbestreitbar richtig, daß seit der Einführung dieser Formel weit weniger Deutsche aus der CSSR herüber dürfen als früher, bevor es einen Vertrag gegeben hat. Deshalb, meine Damen und Herren, weigern wir uns auch bei dem dritten Hauptteil der KSZE von humanitären Regelungen zu sprechen. Vielmehr sprechen wir — und ich glaube, dies ist viel exakter — von Hoffnungen auf verringerte Unmenschlichkeit.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, was von manchen dieser Gelöbnisse zu halten ist, daß man ungehinderter Informationen erhalten könne, haben wir jüngst — und ich nenne nur diese beiden — an zwei Vorfällen wieder deutlich gemacht erhalten. Ich denke einmal an die Weigerung der Tschechoslowaken, unserem Kollegen Kunz, nur weil er Berliner Abgeordneter ist, der, wie jeder von uns, mit Diplomatenpaß reist, ein Visum zu verschaffen. Herr Kollege Mattick, falls Sie nachher sprechen, wäre ich dankbar, wenn Sie vielleicht als Abgeordneter dieses Hauses, als einer der ältesten Abgeordneten, als Sprecher Ihrer Fraktion, als Leiter Ihres Arbeitskreises für Außenpolitik diesem Hause etwas mitteilen könnten, welche Erfahrungen Sie gemacht haben, seit es diese Art von Entspannungspolitik gibt, wenn Sie Anträge gestellt haben, um als Berliner Bundestagsabgeordneter in osteuropäische Staaten zu fahren.
    Zum zweiten, meine Damen und Herren, nenne ich die erstaunlichen Zensuren, denen die positiven Stellen in den Reden des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in dem sowjetischen Massenmedien während seines Moskau-Aufenthaltes unterworfen wurden. Aber offenbar, Herr Kollege Brandt, haben die Sowjets Sie richtig eingeschätzt: Sie haben es sich gefallen lassen, daß an Ihnen selbst, obwohl Gast des mächtigsten Mannes der Sowjetunion, obwohl kräftig umworben, ein Exempel statuiert wurde, was man nämlich im Lande Lenins unter Informationsfreiheit versteht und wie man künftig in einer erwünschten Art der Volksfront mit dem ideologischen Gegner und taktischen Partner umzugehen gedenkt.
    So wichtig man die Genfer Texte auch nehmen mag: die Konferenz selbst paßt nicht, meine Damen und Herren, zur europäischen Wirklichkeit, denn während man in Genf um subtile Passagen verhandelt, während man Satzteile hin- und herschiebt, den Stellenwert einzelner Formulierungen untersucht und eifrig die Gebetsmühlen der Entspannungsterminologie dreht, während dieser Zeit eilt der Kontinent selbst immer neuen Spannungen entgegen.
    In Portugal zum Beispiel — jeder kann das täglich beobachten — wird in praxi das reine Gegen-



    Dr. Marx
    teil der feierlichen Friedens- und Entspannungsbeschwörungen betrieben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Dort, an einem wichtigen Scharnier der atlantischen Welt an der Südwestecke Europas, wird sich jetzt erweisen, was diese Entspannung und was alle die vielen feierlichen und hehren Versicherungen von Genf wirklich wert sind.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, niemand sollte glauben, wir würden uns in die warmen Tücher der Entspannungsillusion einhüllen lassen, wenn zur gleichen Zeit im Lande eines Verbündeten nach dem Absterben der dortigen Diktatur jetzt die kommunistische Internationale, kräftig mit Geld und Rat und Tat aus dem Ostblock versorgt, zugreift, um die zarte Pflanze demokratischer pluralistischer Entwicklungen zu ersticken. Was in Portugal in den letzten Monaten und Wochen vor sich gegangen ist, widerspricht eklatant den braven Deklamationen von Genf, es bestätigt aber die spezifische, die kommunistische Interpretation der Genfer Papiere. Es zeigt, wie im handgreiflichen Falle Entspannung und Zusammenarbeit in Europa wirklich aussehen können. Es zeigt, daß die Sowjetunion, ihre Freunde und Helfer nicht zögern, während sie in Genf von Friedfertigkeit sprechen, den Bürgerkrieg in einem Lande zu aktivieren, das weit in der westlichen Hemisphäre liegt.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, dies ist eine ganz ernste Sache. Wir alle sind ja Zeugen dieser Vorgänge der Ausschaltung demokratischer Parteien in Portugal, der Negierung jener Wahlergebnisse, die trotz erheblichem Druck noch ein relativ verläßliches Spiegelbild des politischen Willens der Portugiesen bilden, der Vernichtung der Pressefreiheit, der partiellen Zerstörung des Eigentums, des Triumphes politischer und ökonomischer Stupidität, mal im Rock des Politfunktionärs, mal in der Uniform des Soldaten vorgetragen. Meine Damen und Herren, das alles macht die Erklärungen von Genf zu einem ganz dubiosen Papier. Das macht sie zu Formeln der Täuschung, und es ist möglich, daß viele das verstehen als Instrumente einer falschen Beurteilung und Beruhigung.
    Meine Damen und Herren, es sind die gleichen Hände, die in Genf Papiere mit Friedensformeln beschreiben, in Lissabon aber in den Spalten aller Zeitungen, jetzt auch der sozialistischen Zeitung von Herrn Rego, der „República", den Klassenkampf anheizen. Es sind die gleichen Geister, die in Genf von Gedanken- und Koalitionsfreiheit reden und die das dann in Helsinki unterzeichnen, die in Lissabon westliche Demokraten, Liberale und Sozialisten als Feinde der Entspannung und Zusammenarbeit diffamieren

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

    und sie mit allen möglichen Formen grober und subtiler Gewalt ausschalten, wenn es um die Ausübung der ihnen zukommenden legitimen Rechte geht.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, ich habe mich in diesen Tagen oft gefragt, ob unsere Regierung tatsächlich bereit sein könnte, ihre volle Zufriedenheit mit den Genfer Papieren zu erklären. Ich habe mich gefragt, ob sie frohgestimmt nach Helsinki reist, obwohl sie doch weiß, daß Berlin ständig unter Druck bleibt. Während der Konferenz haben die Sowjets den Westmächten eine Note ins Haus geschickt, in der die Abreden des hier in diesem Hause lange besprochenen und gerühmten Berlin-Abkommens einfach übergangen werden; eine Viermächteverantwortung für Berlin als Ganzes — so sagt diese so, wjetische Note — gebe es schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Er wird also, bevor die Konferenzdokumente unterschrieben sind — damit nur jeder weiß, was er hinterher erwarten kann —, offen das in Frage gestellt, was uns vor einigen Jahren noch als Erfolg geboten wurde.
    Es wird auch — Herr Kollege Brandt wird es wohl bezeugen können — die Formel des Petersberger Treffens mit Herrn Breschnew von der „strikten Einhaltung und vollen Anwendung" des Viermächteabkommens auf der anderen Seite nicht mehr wiederholt. Ich weiß, Herr Kollege Brandt, daß Sie diese Formel in Moskau gebraucht haben, wohl auch als Antwort auf eine Rede von Breschnew; aber die Wiedergabe dieser Ihrer Rede in sowjetischen Zeitungen enthält diese Ihre dort gebrauchte Formel so, wie sie die Pressestelle Ihrer Partei, der SPD, hier verbreitet hat, nicht, sondern statt dieser Formel ist eine andere hineingebracht worden, die offensichtlich der Seite Ihrer Gesprächspartner eher paßte.
    Meine Damen und Herren, Sie, Herr Außenminister, haben gesagt, Berlin — von dem wir immer gesagt haben, es sei der Prüfstein für Entspannung in Europa — dürfe nicht zu einem weißen Fleck auf der KSZE-Landkarte werden. Aber es steht zu befürchten, daß es zu einer Grauzone wird und daß in Berlin, statt zusätzliche Sicherheit zu gewinnen, zusätzliche Gefährdung möglich wird. Wo — zeigen Sie es uns bitte! — ist für die praktische Berlin-Politik, für die eindeutige Sicherung der Stadt, für die volle Bewahrung des Inhalts — und jetzt übernehme ich einmal die Formel „Buchstabe und Geist" — des Berlin-Abkommens mit den KSZE-Papieren ein Vorteil errungen worden?
    Ich habe mich gefragt, ob man übersehen will, daß während des Genfer Spektakulums fertig formulierte Verträge zwischen Bonn und Moskau einfach liegenbleiben, weil Moskau nicht will, daß sie auch auf Berlin erstreckt werden, ob man vergessen machen will, daß bei den Vereinten Nationen die Vertretung West-Berlins durch die Bundesregierung vom Ostblock ständig als unrechtmäßig gerügt wird, ja, daß dort sogar mit geharnischten Sowjetnoten begonnen wurde, den Namen unseres Landes in „Bundesrepublik Deutschlands" — Genitiv: Deutschlands! — umzuändern.
    Meine Damen und Herren, in einer Sitzung des Auswärtigen und des innerdeutschen Ausschusses hat gestern — ich nehme nicht an, daß ich damit Vertraulichkeit breche — der Herr Bundesminister Franke treuherzig und gutgläubig

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)




    Dr. Marx
    — dies ist eine versöhnliche Geste, Herr Kollege Franke, daß die Fraktion der CDU/CSU bei „treuherzig und gutgläubig" auch klatscht —, aber, so füge ich hinzu, offenbar durch Erfahrungen nicht belehrbar ausgeführt, jetzt, nach den Unterschriften unter die Genfer Papiere, werde es keiner Seite mehr möglich sein, sich nur jene Teile herauszunehmen, die ihr besonders gefallen.

    (Lachen bei der CDU/CSU)

    Und er hat hinzugefügt, dies gehe auch nicht, weil eine gemeinsame politisch-moralische Bindung vorhanden sei. Verzeihen Sie, ich würde gern ausrufen: O heilige Einfalt!

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Der innerdeutsche Minister, Herr Minister Franke, Sie, der Sie jeden Tag die ganze Fülle des Elends auf dem Tisch haben, der Sie sich jeden Tag mit nichts anderem beschäftigen müssen als mit der Tatsache, daß sich die früher erweckten Hoffnungen eben nicht erfüllt haben, daß Ihnen Tausende von Leuten schreiben, weil sie hoffen, daß das früher hier von dieser Stelle Mitgeteilte nun auch Realität werde, — ausgerechnet Sie, Herr Kollege Franke, können doch nicht wirklich glauben, es gebe jetzt in dieser geschichtlichen Phase eine von der anderen Seite akzeptierte gemeinsame politischmoralische Bindung. Fassen Sie doch bitte einmal in Moskau und in Ost-Berlin nach. Begreifen Sie doch endlich, meine Damen und Herren, daß für viele Leute, die die Koexistenz zur Grundlage ihrer Außenpolitik gemacht haben, die friedliche Koexistenz die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist.
    Meine Damen und Herren, nehmen Sie doch bitte die propagandistische Sprachregelung von Radio Moskau, Datum: vorgestern, zur Kenntnis. Dort versucht die östliche Seite, ihre „Teile", Herr Franke, die ihr besonders gefallen, herauszunehmen, und sie sagt nicht, wie es im Text, der uns vorliegt, heißt: Alle Prinzipien werden — ich zitiere — „gleichermaßen und vorbehaltlos angewendet", sondern dort wird gesagt, es gebe ein „Kernstück" dieser Charta der friedlichen Koexistenz in Europa, und daneben, neben dem Kernstück, gebe es „Leitsätze" der Entwicklung politisch-wirtschaftlicher Zusammenarbeit, und — man höre! — daneben gebe es — ich zitiere — „Formeln" auf dem Gebiete der Kultur, des Bildungswesens, der Information und der Kontakte. Und es wird hinzugefügt: „ohne allerdings" — ich zitiere —„die innere Ordnung der Souveränität der Staaten zu berühren."

    (Hört! Hört!)

    Meine Damen und Herren, mit einer solchen Betrachtungsweise sind unsere Vermutungen und Befürchtungen bereits vor der Unterzeichnung bekräftigt, die Meinung der Regierung, repräsentiert durch Herrn Kollegen Franke, ist widerlegt, und Radio Moskau selbst beginnt, die Texte gegen Buchstaben und Geist, gerade erst ausgehandelt, zurechtzustutzen.
    Meine Damen und Herren, in Genf wurde auch, und zwar bis zur letzten Stunde, über freiwillige Manöverankündigungen verhandelt. Man nennt das dort „vertrauensbildende Maßnahmen". Ich will über die Einzelheiten dieser Sache nichts sagen, aber ich finde, daß das Wort Vertrauen im Blick auf die deutschen Zustände, im Blick auf die Entwicklung in Europa, im Blick auf die Tatsache, daß in unserem Lande nach all den Beteuerungen von Entspannung und Friedfertigkeit immer noch auf Deutsche geschossen wird , — ich finde die Formulierung des Wortes „Vertrauen" für regelrecht überspannt. Meine Damen und Herren, Vertrauen kann dort begründet werden, wenn die Zusagen der sowjetischen Seite in Berlin z. B. eingehalten werden und wenn man nicht versucht, in Portugal eine kommunistische Diktatur zu errichten.
    So zeigt sich hier besonders augenfällig, daß die Konferenz über Sicherheit auch geeignet ist, falsche Hoffnungen zu erwecken; und es zeigt sich ja, daß eine ganze Reihe von führenden politischen Persönlichkeiten, darunter der Außenminister soeben in seiner Rede, vor dem Irrglauben warnen müssen, nach Genf und Helsinki seien Wachsamkeit und Verteidigungsbereitschaft nicht mehr nötig.
    Wenn wir die Veränderungen in der Welt und in Europa, wenn wir den Vormarsch der totalitären Macht, die unablässige Steigerung militärischer Machtentfaltung — das muß man ja hinzufügen! — in Europa, in der Mitte, an seinen Flanken, wenn man die gewaltige Rüstung der sowjetischen Flotte, der Luftwaffe, der atomaren Raketen beachtet, wenn wir dies alles als einen Ausdruck imperialer Macht und ideologischer Zielsetzung ansehen und dazu dann die Papiere von Genf legen, dann verstehen wir die Doppelstrategie sowjetischer Politik.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Aber ich vermute, daß man merkt, wie sehr in westlichen Ländern das Maß von Klarheit und Einsicht in diese Politik wächst.
    Nun, meine Damen und Herren, in den letzten Monaten sind manche Stimmen der sonst Stummen aus den Tiefen des östlichen Raumes ans Ohr des erschrockenen Westens gedrungen: Appelle von vielen Tausenden deutscher Deportierter aus weiten Teilen der Sowjetunion, Appelle, adressiert an die KSZE: „Helft uns, und vergeßt uns nicht!", Appelle von Wissenschaftlern, Künstlern, Dichtern und Musikern, Appelle an die KSZE: Helft uns, und vergeßt uns nicht!
    Und einer, meine Damen und Herren, nämlich Alexander Solschenizyn, hat die Welt bezüglich der KSZE aufgerüttelt. Da rümpfen, wie ich sehe, einige die Nasen, einige, die im Wohlstand leben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Da ist ihnen manche kräftige Erinnerung an die Wirklichkeit in weiten Teilen Europas zu unbequem, da ist ihnen der Aufruf, diese KSZE jetzt nicht zu unterschreiben, zu hart.
    Aber, meine Damen und Herren, wir sollten jenen zuhören, die mutiger sind als viele unter uns, auch mutiger als ich. Wir sollten ihre Erfahrungen ver-



    Dr. Marx
    stehen und ihre Kenntnisse nicht in den Wind schlagen.
    Deshalb trage ich Ihnen zum Schluß einige Sätze einer Rede von Solschenizyn vor, die jeden von uns auf allen Seiten dieses Hauses, auf den Bänken der Regierung und auf den Bänken der Opposition, angeht. Es handelt sich nicht um Textkritik der KSZE. Es handelt sich — das ist viel wichtiger, viel dringender, drängender und beschwörender — um Bitten, die einer, der herausdurfte, für Millionen ausdrückt:
    Es muß abgerüstet werden, nicht nur in bezug auf den Krieg, sondern in bezug auf jegliche Gewaltanwendung. Es darf kein Apparat zur Kriegsführung mehr zurückbleiben, aber auch nicht zur Gewaltanwendung. Das heißt, nicht nur jene Waffen müssen beseitigt werden, mit denen Nachbarn vernichtet werden, sondern auch jene Waffen, mit denen die eigenen Landsleute unterdrückt werden. Das ist keine Entspannung, wenn wir heute hier
    — er spricht von Amerika aus —
    mit Ihnen die Zeit angenehm verbringen können, während dort Menschen schmachten und zugrunde gehen ... Entspannung ... darf nicht auf Lächeln begründet sein, nicht auf mündliche Zugeständnisse. Sie muß wie auf einem Felsen ruhen ... Es müssen feste Garantien dafür gegeben sein, daß die Entspannung nicht eines Nachts oder eines Morgens abgebrochen wird. Aber dafür ist notwendig, daß es eine Kontrolle über die andere Seite gibt, die in den Entspannungsprozeß einbezogen ist. Eine Kontrolle durch die Offentlichkeit, durch die Presse, durch ein freies Parlament. Solange es eine solche Kontrolle nicht gibt, gibt es auch keine Garantie.
    Ich bedanke mich.

    (Langanhaltender, lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)