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ID0717900400

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    Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 179. Sitzung Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1975 Inhalt: Erklärungen der Präsidentin und der Fraktionen zum 17. Juni Frau Renger, Präsident 12555 A Dr. Carstens (Fehmarn) CDU/CSU 12557 B Wehner SPD 12559 C Mischnick FDP 12561 B Nächste Sitzung 12562 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten 12563* A Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 17. Juni 1975 12555 17 9. Sitzung Bonn, den 17. Juni 1975 Beginn: 10.30 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordneter) entschuldigt bis einschließlich Dr. Abelein 17. 6. Dr. Achenbach * 20. 6. Adams * 20. 6. Dr. Aigner * 20. 6. Dr. Artzinger * 20. 6. Baier 20. 6. Dr. Bangemann * 20. 6. Dr. Barzel 17. 6. Dr. Bayerl * 20. 6. Dr. Beermann 20. 6. Behrendt * 20. 6. Dr. Blüm 20. 6. Blumenfeld * 20. 6. Dr. Böger 21. 6. Böhm (Melsungen) 17. 6. Dr. Burgbacher * 20. 6. Dr. Corterier * 20. 6. van Delden 20. 6. Dr. Dregger 17. 6. Dr. Evers 17. 6. Fellermaier * 20. 6. Flämig * 20. 6. Frehsee * 20. 6. Dr. Früh * 20. 6. Gerlach (Emsland) * 20. 6. Härzschel * 20. 6. Dr. Jahn (Braunschweig) * 20. 6. Kater 20. 6. Dr. Kempfler 17. 6. Dr. Klepsch * 20. 6. Krall * 20. 6. Kroll-Schlüter 17. 6. * Für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Lange * 20. 6. Lautenschlager * 20. 6. Dr. Lenz (Bergstraße) 17. 6. Lücker * 20. 6. Lutz 20. 6. Dr. Meinecke (Hamburg) 20. 6. Memmel * 20. 6. Dr. Mende 17. 6. Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller 20. 6. Müller (Mülheim) * 20. 6. Mursch (Soltau-Harburg) * 20. 6. Dr.-Ing. Oldenstädt 17. 6. Frau Dr. Orth * 20. 6. Picard 20. 6. Dr. Ritgen 20. 6. Röhling 17. 6. Frau Schleicher 20. 6. Schmidt (München) * 20. 6. Dr. Schneider 20. 6. Frau Schroeder (Detmold) 20. 6. Dr. Schulz (Berlin) * 20. 6. Schwabe * 20. 6. Dr. Schwörer * 20. 6. Seefeld * 20. 6. Spitzmüller 17. 6. Springorum * 20. 6. Dr. Starke (Franken) * 20. 6. Dr. Stavenhagen 17. 6. Strauß 17. 6. Suck * 20. 6. Dr. h. c. Wagner (Günzburg) 20. 6. Walkhoff * 20. 6. Walther 20. 6. Frau Dr. Walz * 20. 6. Frau Dr. Wex 17. 6. Dr. Wörner 17. 6. Wolfram 17. 6. Dr. Zimmermann 20. 6.
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    Rede von Herbert Wehner


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieser Tag ist ein Tag des Gedenkens. Der 17. Juni des Jahres 1953 war für viele in unserem getrennten Land ein Tag der Erwartung.
    Wir wollen aufrichtig sein: Um den Weg zum gemeinsamen Ziel des Zusammenlebens unseres getrennten Volkes in einem gemeinsamen demokratischen Staat ist bei uns vor dem 17. Juni des Jahres 1953 und nach diesem aufrüttelnden Ereignis leidenschaftlich gerungen worden. Wir dürfen bei allem sachlichen Gegeneinander das Gedenken an die Opfer des Standrechts vom Juni 1953 nicht zum Eigentum einer Partei werden lassen.
    Das Kuratorium Unteilbares Deutschland stellt zum heutigen Tag mit Recht fest und mahnt:
    Für uns ist der 17. Juni 1953, dieser leidenschaftliche, aber vergebliche Versuch von Deutschen in der DDR, persönliche und politische Freiheitsrechte zu erwirken, kein Tag des Hasses. Er ist ein Tag der Mahnung, das friedliche Ringen um die Gewährleistung der freien Selbstbestimmung für alle Deutschen nicht aufzugeben.
    Dieser Gedenktag lehrt uns die Notwendigkeit der Einsicht.
    Die Teilung Deutschlands ist gegen den Willen der Deutschen, aber nicht ohne deutsche Schuld zustande gekommen. Das System der Mächte, das sich als Antwort auf den unmenschlichen Nationalsozialismus schließlich ergeben hat, wird die Grundstruktur des europäischen Kontinents für eine überschaubare Zukunft bleiben. Gegenwärtig leben wir Deutschen in zwei völlig gegensätzlichen gesellschaftlichen und politischen Ordnungen. Gerade deshalb müssen wir auf die Sicherung des Friedens und den Abbau der Spannungen hinarbeiten.
    Diese Sätze sind der Erklärung des Kuratoriums Unteilbares Deutschland zum 17. Juni 1973 — 20 Jahre danach — entnommen. Sie sind meines Erachtens auch heute und bleiben weiterhin gültig. Der Sinn dieser Sätze ist nicht Resignation, ihr Sinn ist die Einsicht in die Notwendigkeit unseres eigenen Beitrags für den Frieden zum Wohl unseres Volkes.
    Der Erste Sekretär des Zentralkomitees der SED in der DDR, Erich Honecker, hat vor einigen Tagen in einer Rede zur Vorbereitung des IX. Parteitages seiner eigenen Partei beziehungsreich gesagt:



    Wehner
    Überall wird man mit der Zeit verstehen lernen müssen, daß wir nicht mehr in den fünfziger Jahren leben.
    Er sagte das nach einer kritischen Bemerkung an die Adresse nicht näher bezeichneter Vertragspartner, in der er unterstrich — ich zitiere ihn noch einmal —:
    Selbstverständlich müssen alle Versuche, abgeschlossene Verträge nicht einzuhalten oder uns durch Verleumdungskampagnen von unserer konstruktiven Politik ablenken zu wollen, auf entschiedenen Widerstand stoßen.
    Daß wir — um das Wort noch einmal aufzugreifen — nicht mehr in den fünfziger Jahren leben, gilt doch wohl für alle Seiten.
    In den fünfziger Jahren, und zwar eine Woche nach der Verhängung des Standrechts der Besatzungsmacht im Juni 1953, hatte der damalige Ministerpräsident der DDR gesagt — ich zitiere ihn —:
    Die gegenwärtige Situation ist das Ergebnis einer fehlerhaften Politik unserer Partei und der daraus resultierenden falschen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Maßnahmen durch die Regierung. Das ist vollkommen klar.
    So bekräftigte er diese Feststellung.
    Jetzt, in den siebziger Jahren, gibt es einen Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. In seiner Einleitung heißt es:
    . . . ausgehend von den historischen Gegebenheiten und unbeschadet der unterschiedlichen Auffassungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage,
    geleitet von dem Wunsch, zum Wohle der Menschen in den beiden deutschen Staaten die Voraussetzungen für die Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu schaffen,
    sind die vertragschließenden Seiten übereingekommen, diesen Vertrag zu schließen.
    Dazu können auch wir sagen: Überall wird man mit der Zeit verstehen lernen müssen, daß wir nicht mehr in den fünfziger Jahren leben.
    Es gibt Ereignisse, die uns in der Erinnerung durch unser ganzes Leben begleiten. Die Ereignisse des 17. Juni 1953 sind solcher Art. Aber die Erinnerung heißt nicht Wiederholung einer Situation, in der nicht nur wir, sondern alle nicht ausgereicht haben, die Ursachen zu überwinden.
    Wir können nicht in einem Zustand permanenter Anklageverlesungen nebeneinander leben. Im Gedenken an den guten Willen derer, die im Juni 1953 im anderen Teil Deutschlands demonstrierten und streikten, sollte die Achtung für die unter anderen Verhältnissen lebenden und arbeitenden Menschen des anderen deutschen Staates mitschwingen. Sie haben unter schwierigen Bedingungen Hervorragendes geleistet.
    Wir haben in der nationalen Frage, wie man das nennt, nicht dieselbe Auffassung wie die drüben regierende SED. Keine Seite vermag der anderen ihre eigene Auffassung aufzunötigen. Wer, wie es kürzlich in einem Satz hieß, darauf pocht, er verfüge über Mittel, der anderen Seite begreiflich zu machen, daß die Seite, die das so sagt, recht habe, der irrt. Wir sind nicht mehr in den fünfziger Jahren. Wenn wir uns nicht in bloßer Rechthaberei ergehen, wenn wir den Menschen drüben unseren Respekt nicht versagen und die Mühen des Miteinandersprechens nicht scheuen, stellen wir die Aufrichtigkeit unserer Auffassung über gutnachbarliche Beziehungen unter Beweis.
    Es handelt sich nicht darum, die Grenzen politischer Grundauffassungen zu verwischen. Ich bin mir z. B. bewußt, daß SED — Sozialistische Einheitspartei Deutschlands — und SPD — Sozialdemokratische Partei Deutschlands — einander ausschließen. In dem von der SED geführten, regierten Staat ist für die SPD keine legale, ungehinderte politische Wirkungsmöglichkeit. Die SED kennt nur ehemalige Mitglieder der SPD. Diese sind entweder in die SED eingegliedert, oder sie existieren außerhalb des nach der dortigen Verfassung und ihrer Handhabung gegebenen Bereichs für das Wirken politischer Menschen. Es kann auch keine sogenannte Aktionseinheit von SPD und SED geben — und wird sie nicht geben.
    Aber in den Jahrzehnten der Nachkriegsentwicklung hat sich die Notwendigkeit eines, wenn möglich und wieweit möglich, vertraglich geregelten Verhältnisses zwischen den beiden Staaten im getrennten Deutschland ergeben. Sie ist uns aufgezwungen, wollen wir nicht als sogenannte Alternative einen ständigen Kalten-Kriegs-Zustand bei lediglich punktuellen Verständigungen über Verhaltens- oder Verfahrensregelungen im Verhältnis zwischenstaatlicher Art auf uns nehmen und die Menschen darunter zusätzlich beladen.
    Doch dies wäre vor allem angesichts der umstrittenen Position Berlins permanent Ursache ernsthafter Krisen und fortwährender Beunruhigung der Menschen. Wenn ich von einer umstrittenen Position Berlins spreche, so bleiben wir dabei — denn sonst bräche man nicht nur zusammen und zurück in die 50er Jahre, sondern es käme noch schlimmer —, daß Vier Mächte für das, was man damals nach der Kapitulation Deutschland als Ganzes und Berlin im besonderen genannt hat, eine besondere Verantwortung tragen; sie steht sogar in der Charta der Vereinten Nationen.
    Dem von den Vier Mächten, die für die Sicherheit in Berlin verantwortlich sind, nach jahrelang vergeblichen Versuchen schließlich doch zustande gebrachten und unterzeichneten Berlin-Abkommen ist — man kann es drehen und wenden, wie man will; jede Seite wird zu dieser Einsicht kommen müssen —eine Schlüsselrolle zuzumessen. Das gilt für die Lebensverhältnisse der Menschen in Berlin wie für die Entwicklungsfähigkeit der vertraglichen Regelungen zwischen den zuständigen Stellen im getrennten Deutschland wie für das zur Entspannung in Europa und darüber hinaus wesentliche Verhält-



    Wehner
    nis der vier Signatarmächte, die — ich betone es — verantwortlich sind, und zwar ausschließlich verantwortlich sind, wie sie deklariert haben, für die Sicherheit in Berlin und Berlins. Daran werden wir uns und werden wir sie halten.
    Wenn — um noch einmal Honeckers Satz in Erinnerung zu bringen — man überall mit der Zeit wird verstehen lernen müssen, daß wir nicht mehr in den 50er Jahren leben, sollte es auch möglich sein, einem verunglückten Türkenkind in Berlin (West) das Leben zu retten, statt aus einem Unglück einen Staatsprestigestreit zu machen. Es wird Zeit, in den Fragen, die regelbar sind, zur Sache zu kommen und Mitmenschlichkeit nicht mehr im Prestige- und Abgrenzungseifer — welche Motive beide immer haben mögen — notleidend sein und bleiben zu lassen. Weil die Gewährleistung des Friedens im Lebensinteresse beider Seiten im getrennten Deutschland liegt, ja, auch im Lebensinteresse der auf beiden Seiten Regierenden liegt, muß es möglich sein und werden, daß man einander auch anders als gepanzert und vermint gegenübertritt.
    Die Verantwortlichen der DDR haben in den letzten zwei Jahren erkennbar manches Leid lindern und einiges sogar heilen helfen. Sie haben erheblich mehr getrennte Familien zueinanderfinden und -kommen lassen. Das ist dankenswert. Es wäre gut, wenn dies ein Zeichen dafür wäre, daß wir nicht mehr in den 50er Jahren leben, und wenn es auf einem auch nach menschlichem Ermessen wahrscheinlich dornenvollen Weg nicht das letzte Beispiel entsprechender Art bliebe. — Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.

    (Anhaltender Beifall bei der SPD und der FDP)



Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mischnick.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Wolfgang Mischnick


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Die deutsche Wirklichkeit ist so kompliziert, daß Meinungsverschiedenheiten darüber unvermeidlich sind, was jeweils am besten zu tun sei. In der Art, wie diese Meinungsverschiedenheiten ausgetragen werden und wie gemeinsame Aussagen und Bemühungen versucht werden, kann der deutsche Wille aber überzeugender zum Ausdruck kommen als durch wohlklingende Formeln." Es waren führende Vertreter aller Parteien des Deutschen Bundestages, die sich diese, wie ich meine, vernünftige Erkenntnis zu eigen gemacht und am 17. Juni 1973 gemeinsam in eine Erklärung des Kuratoriums „Unteilbares Deutschland" eingebracht haben. Aber — deswegen sollte uns jede Form der Zufriedenheit fernliegen — mit einer kurzzeitigen rhetorischen Gemeinsamkeit allein ist nichts gewonnen.
    Entscheidend für weitere Fortschritte in der Deutschlandpolitik ist ein Mindestmaß an gemeinsamer Zielrichtung und grundsätzlicher, Parteigrenzen übergreifender Kooperation im schwierigen Alltagsgeschäft. Wenn sich alle Parteien dieses Hauses nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Form ihrer Darstellung darauf einigen könnten, daß bei allen notwendigen Auseinandersetzungen um Bemühungen auf deutsch-deutscher Ebene die Sorge um das Wohl des Menschen -- nicht etwa die Sorge um das Wohlergehen einer Gruppe, einer Partei oder des einzelnen, der dazu Stellung nimmt — im Mittelpunkt zu stehen hat, wäre viel gewonnen. Die Tragik des 17. Juni 1953 besteht ja nicht nur darin, daß zum erstenmal seit über 100 Jahren Deutsche in großer Zahl, die sich in offener Auseinandersetzung, im offenen Aufbegehren und unter Einsatz ihres Lebens für Freiheit und Demokratie engagiert haben, in einem besetzten Land scheiterten, ja, scheitern mußten; Tragik und sogar schon fast Ironie wird sichtbar — und auch dies muß man an einem solchen Tage feststellen —, wenn wir uns selbstkritisch die Frage stellen, wie es geschehen konnte, daß dieser Einsatz dann bei uns in der Bundesrepublik Deutschland lange Jahre Anlaß zu ausschließlich rhetorischen Reaktionen in würdevollem Rahmen ohne jegliche praktische Konsequenzen war.
    Carlo Schmid hat in einer Gedenkfeier zum 17. Juni einmal treffend so formuliert:
    Wir dürfen nicht wie 1848 die Opfertat in den Scheiterhaufen der Gedenkfeiern verrauchen lassen. Nichts lähmt mehr die Energien eines Volkes als der Weihrauch, den es sich selber streut.
    Es gab damals keine Deutschlandpolitik, es gab nur Lähmung, Stillstand und schließlich einschneidende Verschlechterungen. Der Bau der Berliner Mauer im Jahre 1961, die vorangegangenen schweren Krisen um Berlin, die Eskalation von Aggressivitäten, die vielen Toten, die wachsende Unsicherheit der Bewohner West-Berlins, die unterbrochenen Telefonverbindungen, die gestörten Verkehrsverbindungen zur Bundesrepublik Deutschland, die erschwerten und für Westberliner schließlich unterbundenen Besuchsmöglichkeiten, die Einführung eines Paß- und Sichtvermerkszwanges: Die Kluft in Deutschland wurde tiefer und tiefer, die Pflege menschlicher Beziehungen immer schwieriger. Die so glatt von der Zunge gehenden Beschwörungen der Einheit standen in wachsendem Widerspruch zur ständig stärker werdenden Auseinanderentwicklung.
    Deshalb war die Zeit überreif zum Handeln, um der Menschen willen, die sich trotz der gegensätzlichen Staats- und Gesellschaftsformen zusammengehörig fühlten und fühlen. Ihnen mußte die Begegnung ermöglicht werden, der Austausch von Gedanken, Gefühlen und Meinungen erleichtert werden. Gerade wem es Ernst ist mit der Forderung, die mögliche staatliche Einheit für morgen oder übermorgen nicht zu verbauen, dem muß es heute Ernst sein mit der Begegnungsmöglichkeit der Menschen, denn sie stellen den Staat erst dar, ohne sie kann es ihn nicht geben, weder die gemeinsame Nation noch deren Organisation in einem Staat.
    Wir Freien Demokraten wurden von denen, die viele Jahre der deutschlandpolitischen Passivität den Vorzug gaben, oft mit Verdächtigungen überzogen, als wir Ende der 60er Jahre den Entwurf eines Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vorlegten. Wer heute die seit 1969 zurück-



    Mischnick
    gelegte Wegstrecke überblickt und die auf vertraglicher Basis gebauten Brücken zwischen den beiden deutschen Staaten begutachtet, der wird zugeben, daß erst eine konsequent betriebene Vertragspolitik eine Wende zum Besseren brachte, wohlgemerkt: zum Besseren, noch lange nicht zum Guten. Bis dahin ist es noch weit. Es würde mich freuen, wenn die Schwierigkeiten und die Rückschläge auf dieser schier endlos erscheinenden Distanz niemanden mehr zu überheblichen Besserwisserreaktionen oder gar zu jener selbstgefälligen Mischung aus böser Unterstellung und stiller Häme verleiten würden.
    Kritik tut not, kleinliche Miesmacherei schadet. Wer wirklich davon überzeugt ist, daß auf dem Boden der geschlossenen Verträge vorangegangen werden muß — und wer ist es nicht in diesem Parlament! —, der muß auch die Bereitschaft zur Kooperation zwischen Regierenden und Opponierenden einbringen, und zwar gerade dann, wenn der Bundesrepublik Deutschland Steine in den Weg gerollt und Fortschritte im Prozeß der Normalisierung erschwert werden. Manchmal hat man allerdings den Eindruck, daß einigen bei uns, die sich lauthals über die Steine im Weg beschweren, ohne beim Wegräumen zu helfen, womöglich die ganze Richtung nicht paßt.
    Wenn das so ist, dann möge man das sagen, damit man offen darüber sprechen kann. Aber es gibt — dies ist die Erfahrung der letzten 20, 22 Jahre — keine Alternative dazu, über Verträge, über die Politik der Entspannung, über vertragliche Regelungen zu einem besseren Ergebnis zu kommen.
    Auch vorübergehende ost-westliche Dissonanzen um Berlin stellen die Richtigkeit dieses Prinzips nicht in Frage. Im Gegenteil, gerade durch die vertraglichen Regelungen ist Berlin auch bei öffentlich ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten rechtlich so sicher, wie es zu keiner Zeit vor Abschluß des Viermächteabkommens war. Der zwischen dem Bundeskanzler Brandt und dem sowjetischen Parteiführer festgehaltene Grundsatz der strikten Einhaltung und vollen Anwendung des Abkommens gilt für uns unverändert. Unverändert bleibt es bei der Sicherheit der Verkehrsverbindungen, bei den millionenfach genutzten Besuchsmöglichkeiten, beim kleinen Grenzverkehr, beim konsularischen Schutz der Berliner durch unsere Auslandsvertretungen auch im Ostblock, bei der stets wahrgenommenen Möglichkeit der Einbeziehung West-Berlins in Vertragswerke und Vereinbarungen, die von der Bundesrepublik Deutschland mit der Sowjetunion und anderen sozialistischen Staaten geschlossen werden.
    Der Hinweis auf die mittlerweile erreichten Verbesserungen wäre unvollständig ohne die ausdrückliche Hervorhebung der unspektakulären, aber äußerst hilfreichen Alltagsarbeit, die unsere Ständige Vertretung in Ost-Berlin leistet. In Fragen der Rechtshilfe, der Familienzusammenführung, auch der Häftlingsbetreuung hat die durch den Grundvertrag geschaffene Einrichtung bereits vieltausendfach mit Rat und Tat geholfen. Sie gibt ein Beispiel dafür, daß eine auf Verständigung angelegte Politik praktischen Nutzen für den einzelnen Bürger bringt.
    An dieser Orientierung wird und muß auch künftighin festgehalten werden. Wir werden darauf achten, daß bei jedem weiteren Schritt im Ausbau der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten und bei der Pflege der Bindungen mit WestBerlin Solidarität und Gewissenhaftigkeit dominieren. Sie sind Voraussetzung für die Wahrung eines Vertrauensverhältnisses, ohne das Vertragspartner gerade bei erkennbaren Gegensätzen nicht auskommen können. Gegenseitigkeit setzt Zuverlässigkeit voraus. Auf unserer Seite steht sie nicht in Frage.
    Ich bin aber auch in diesem Stadium nicht bereit, wegen einiger Ungereimtheiten in den Äußerungen der Gegenseite das Fundament, das die Verträge geschaffen haben, zur Disposition zu stellen. Das sollten auch jene bei uns bedenken, die allzu schnell bereit sind, spezifisch osteuropäische Interpretationen dadurch zu verstärken, daß sie sie aufgreifen und als Argumentationswaffe gegen die Politik der Regierung der Bundesrepublik Deutschland einsetzen. Ich unterstelle dabei nicht einmal böse Absicht, sondern vermute dahinter eher die politisch denkbar ungünstige Neigung, sich selbst ins Bockshorn jagen oder aufs Glatteis führen zu lassen. Man sollte diese Haltung ein für allemal ablegen und sich gemeinsam um konkrete Schritte bemühen, die ,den menschlichen Beziehungen dienen, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen stärken und damit so viel wie möglich an nationaler Substanz erhalten. Dies ist nämlich in Wahrheit der Kern des Auftrages, den uns der 17. Juni 1953 gibt.
    Der Deutsche Bundestag hat am 11. Mai 1973 mit der Verabschiedung des Grundvertrages die Voraussetzungen einer realistischen Politik für Deutschland geschaffen. Es ist an uns, energisch und zäh die Chance zu nutzen, die in der Politik des Ausgleichs und der Entspannung liegt. Richtschnur bleibt für uns der politische Auftrag, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das ganze deutsche Volk in freier Selbstbestimmung über seine staatliche Ordnung entscheiden kann.

    (Anhaltender Beifall bei der FDP und der SPD)