Ich würde natürlich das Studium der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" immer als sorgfältige Informationsarbeit bewerten. Trotzdem sind Sie hier entweder einem Mißverständnis des Korrespondenten oder einer schiefen Darstellung aufgesessen. Tut mir leid. Ich glaube, das läßt sich nicht mehr aufklären. Ich habe ja vorhin schon versucht, Sie zu informieren.
Nun hat der Kollege Barzel gesagt — und da hat er recht —, die ökonomische Lage in unserem Lande werde nicht dadurch besser, daß man auf die noch viel schlechtere Lage in der Weltwirtschaft hinweise. Das ist gewiß richtig. Nur muß, Herr Kollege Barzel, eben auch verstanden werden, daß sich die ökonomische Lage in unserem Lande keineswegs unabhängig von der Weltwirtschaft entwickelt und auch nicht davon unabhängig beeinflußt werden kann und daß deshalb der Zusammenhang mit der Weltwirtschaft insgesamt, mit dem Partner Amerika, zu einem gewissen, kleineren Maße mit Japan, aber vor allen Dingen mit den neun Partnern in der EG außerordentlich stark ins Gewicht fällt, heute sehr viel stärker als vor zehn oder zwanzig Jahren. Es wird auch den Engländern im Laufe der nächsten Jahre so ergehen, daß sie in sehr viel stärkerer Weise als bisher von der konjunkturellen Entwicklung der Gesamt-EG beeinflußt werden. Infolgedessen liegen hier Handlungsbegrenzungen, Aktionsparameter vor, die man erkennen muß.
Um ein großes Wort abzuwandeln, das bei ganz anderen Verhältnissen in einem ganz anderen Lande geprägt worden ist: Stabilität der Vollbeschäftigung
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plus Stabilität der Preise in einem Lande allein ist nicht mehr möglich; jedenfalls nicht in einem Land wie die Bundesrepublik Deutschland,
die 23 % ihres Bruttosozialprodukts exportieren muß und in ihrer Beschäftigung auf Absatz dieser 23 % ihres Bruttosozialprodukts draußen in der Welt angewiesen ist.
Weil das so ist, deswegen irren Sie sich auch, wenn Sie in einer leicht nonchalanten Weise Zahlungsbilanzprobleme für etwas Unwichtiges erklären.
— Doch, das haben Sie getan. Dann müssen Sie sich auch die Antwort anhören. Sie haben auch gemeint: Die Ölkrise und die Zahlungsbilanzen seien gar nicht schuld,
sondern der Wille fehle und die Vernunft fehle. So haben Sie gesagt.
Sie haben dazu Herrn Ortoli zustimmend zitiert. Nun will ich weder dessen Willen und Vernunft noch unseren eigenen Willen oder unsere eigene Vernunft qualifizieren. Nur, Sie kriegen die Tatsache, daß die neun EG-Länder zusammen 1973 einen Zahlungsbilanzüberschuß von einer Milliarde Dollar hatten, dieses Jahr zusammen aber ein Defizit von 20 Milliarden Dollar haben, durch bloßen Willen nicht aus der Welt.
Es gehört vielmehr ein den ganzen Globus umspannendes System dazu, um die Überschüsse aus den Ölländern in unsere EG-Länder zurückzubringen, damit die Zahlungsbilanzdefizite finanziert oder ausgeglichen werden können. Herr Kollege Barzel, es ist nicht so, wie Sie vielleicht denken, daß nämlich das Problem schon gelöst sei, weil Sie an Ihrer Tankstelle schon lange wieder Benzin bekommen, freilich ein bißchen teurer als früher. Das Problem bleibt ungemein schwerwiegend. Sie werden sehen, daß eine Reihe unserer Partnerstaaten in der EG tatsächlich weniger importieren als früher, weil für sie die Möglichkeiten, in fremder Währung zu bezahlen, von der Zahlungsbilanz her kleiner geworden sind. Deshalb haben wir uns ja auch auf vielfältige Weise angestrengt, diesen Partnerstaaten mit den Devisen-Reserven der deutschen Volkswirtschaft zu helfen.
Sie haben auch den Dialog mit den Vereinigten Staaten vermißt. Dies habe ich nun wirklich überhaupt nicht mehr verstanden. Da waren in den letzten Tagen die Mitglieder der Kommission beim amerikanischen Präsidenten, da waren der deutsche Außenminister und der deutsche Bundeskanzler bei ihm, da werden eine Woche später der französische Präsident und einen Monat später der englische Premierminister bei ihm sein — alle nach Abstimmung innerhalb Europas —, und Sie fragen, wo der Dialog mit den Vereinigten Staaten sei!
— Was heißt „der Gemeinschaft"? Ich bitte Sie! Ich habe doch zuerst gesagt: Die Kommission war auch drüben. Glauben Sie aber im Ernst, daß das Gewicht eines Kommissars aus der Brüsseler Kommission in Washington größer sei als dasjenige Giscards oder Wilsons oder des deutschen Bundeskanzlers?
Machen Sie sich doch nichts vor! Das sind doch bestenfalls Wünsche, die Sie für später einmal haben können.
Solange sich die Kommission nicht auf vom Volk erteilte Mandate der Komissare stützen kann, wird es doch dabei bleiben, daß der vom Volk gewählte französische Präsident oder die Politiker der parlamentarischen Demokratien in Europa, die sich in ihrer Arbeit auf ein direktes Mandat stützen können, draußen in der Welt mehr Gewicht haben als jemand, der durch neun Kabinettsbeschlüsse — ich sage dies nicht abwertend — in sein Amt berufen wird.
Der Dialog mit den USA findet wirklich in einer intensiven Weise statt. Ich denke, auch Sie sollten davon Notiz nehmen, daß sich die Besorgnis und die Gefahr zunehmender Spannungen zwischen zweien unserer Partner im Augenblick verringern.
Was den Nahen Osten angeht, so haben wir es mit einem sehr diffizilen und sehr heiklen Gegenstand zu tun. Es ist einer der Gegenstände, die im Auswärtigen Ausschuß ausgebreitet werden können. Herr Carstens oder Herr Barzel — einer von beiden war es — hat zu Recht von einer gefährlichen Situation gesprochen. Wir sollten hier den Kreis etwas kleiner ziehen, damit wir dann offen darüber reden können.
Herr Kollege Barzel hat eine sehr scharfe Kritik an all dem geübt, was neun europäische Regierungen gemeinsam beschlossen haben. Er hat das, was beschlossen wurde, in seiner Darstellung an dem gemessen, was nicht beschlossen wurde. Als er merkte, daß das ein bißchen zu weit ging, hat er gesagt: Ich kritisiere natürlich nur meine eigene Regierung; die anderen acht Regierungen haben wohlgetan.
So kann man es natürlich auch machen, Herr Barzel. Sie müssen dann nur sagen — dies hat auch Herr Carstens nicht gesagt —, was nach Ihrer Meinung gestern und vorgestern in Paris konkret hätte beschlossen werden sollen
und wie Sie die Zustimmung Italiens, die Zustimmung Irlands, Dänemarks, Hollands oder Belgiens erzielt hätten.
Sie dürfen hier vor diesem Hause und vor der deutschen Öffentlichkeit, die zuhört, nicht den Eindruck erwecken, als ob wir bereits in einer Wirtschafts- und Währungsunion seien. Sie dürfen nicht den Eindruck erwecken, als ob die Brüsseler Institutio-
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nen die rechtlichen oder auch nur tatsächliche Möglichkeiten hätten, über die Budgetpolitik von neun Staaten, über die doch in den Parlamenten und nicht in der Kommission entschieden wird, oder über die Steuerpolitik in neun Staaten, über die doch hier im Bundestag und in den acht anderen Parlamenten, nicht aber in Brüssel entschieden wird, in Brüssel zu entscheiden. So ist es doch nicht! Auch über die Kreditpolitik der neun Staaten wird nicht in Brüssel, sondern von den neun Zentralbanken entschieden. Einige davon sind völlig unabhängig von ihrer Regierung — so z. B. die Bundesbank in Deutschland —; andere sind etwas abhängiger. Sie dürfen nicht, wie Sie es getan haben, den Eindruck erwecken, daß in Brüssel alle Instrumente zur Verfügung stünden.
— So haben Sie es aber gesagt.
Sie haben uns hier Ihre Nußknackerrealität vorgeführt, und das war sicherlich ein Beispiel, das lehrreich ist für alle, und da soll man bohren, ob das nicht geändert werden kann. Nur, Herr Barzel, nicht einmal in diesem Punkte haben Sie positive Substanz geboten; in den großen Punkten schon erst recht nicht. Sie haben nicht gesagt, wer was wann wo mit wem regeln soll.
Es ist das gute Recht einer Opposition, immer bloß Forderungen aufzustellen. Aber da Sie ja die Hoffnung haben, eines Tages doch auf jene Bänke zurückzukehren, von denen aus man, wie ich heute erfahren habe, keine Zwischenrufe machen soll, kann ich Sie nur auf Grund von Erfahrungen, die wir im Laufe der letzten zehn Jahre gemacht haben, davor warnen, sich in der Opposition dazu verleiten zu lassen, zu meinen, alles gehe und alles könne man versprechen; man brauche nur die Forderung auszusprechen, und dann habe man schon die Zustimmung von acht anderen EG-Ländern. Sie könnten später in große Enttäuschung geraten. — Aber Sie werden so bald gar keine Chance haben, Herr Barzel.
Nun möchte ich gern zu dem Punkt kommen, in dem ich Herrn Barzel recht geben möchte. Es war sein letzter Punkt.
Ich habe ihn zum zweitenmal so reden hören. Ich habe nicht nur Herrn Barzel so sprechen hören, sondern andere in meiner eigenen Partei wohl auch, und ich bin seit einer Reihe von Wochen und Monaten dabei, darüber sehr ernsthaft nachzudenken. Herr Barzel sagt, wenn ich ihn richtig verstehe: es genügt nicht, das Richtige zu tun; selbst
wenn Ihr alles, was Ihr tut, richtig machtet, würde
es — Ihr macht natürlich nicht alles richtig, sagt er
— nicht genügen, denn außerdem muß noch das Warum und das Wozu deutlich werden oder die geistigen Grundlagen oder die Perspektiven — wie immer Herr Barzel das genannt hat. Ich würde von mir aus auch die moralischen Grundlagen hinzufügen wollen.
Ich glaube, Herr Barzel, daß Sie in einem erheblichen Maße recht haben. Ich glaube, daß bei einem großen Teil in unserer Gesellschaft doch ein gewisses Bedürfnis da ist, nicht nur zu wissen, sondern auch mit einer gewissen Wiederkehr zu hören und zu lesen von den sittlichen Grundlagen, auf denen Politik gemacht wird, und von dem geistigen Himmel, der sich über sie spannt, und von den hinten in der Perspektive vielleicht nur klein erscheinenden Zielen, auf die sie hingeführt wird. Da mögen Sie recht haben.
Es bleibt dies trotzdem eine mißliche Sache, zumal für die Generation, der wir beide angehören, die wir ja in den ersten paar Jahren unseres Erwachsenenlebens in einer so schrecklichen Weise mit dergleichen falschmünzerischen Provenienz gefüttert worden sind, so daß sich jedenfalls in mir eine große Abneigung dagegen gebildet hat.
Ich bin darüber hinaus auch sehr im Zweifel, ob eine Bundesregierung — erkennend, daß an dem, was Herr Barzel sagt, auch etwas Richtiges ist — sich zu einer Art Vorphilosophierer machen darf. Das war jetzt nicht abschätzig gemeint, aber wir haben ja auch auf diesem Felde Erinnerungen. Herr Professor Erhard hat seine spezifischen Erinnerungen auf diesem Felde.
— Sicherlich, Herr Kiesinger auch, Herr Adenauer auch.
— Verehrte Freunde, Sie müsssen es doch auch einmal ein bißchen spüren, wenn jemand ernsthaft versucht, Ihren Gesprächsfaden aufzunehmen. Das ist doch nicht der Ort, um nun Polemik dazwischenzustreuen!
Die Polemik an ihren Platz; dies ist ein ernsthafter Gedankenaustausch, den sollte man nicht stören. Aber von mir aus können wir es auch heute damit beenden. Ich wollte meinem innenpolitischen Gegner Barzel in diesem Punkte jedenfalls zeigen, daß ich gewillt bin, seine Anregung des Nachdenkens wert zu finden, und daß ich darüber nachdenke.
Im übrigen, meine Damen und Herren, werden Sie es mir nicht verargen, daß ich der Opposition ansonsten sage: was ihre Stellungnahme zu Amerika angeht, da haben Sie gesagt: na ja, wir können es leider nicht bekritteln, aber wir hätten es gern
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noch viel schöner; und was Europa angeht, haben Sie gesagt: na ja, es ist zwar kein Fehlschlag, aber wir hätten es gerne noch viel schöner.
— Ja, noch größer! Bei der DDR haben Sie gesagt: Vorleistungen. Im Grunde ist das alles, Herr Carstens, bloße Formalopposition. Sie müssen alles kritisieren, weil Sie das für Ihre Pflicht halten. Nur: Es fehlt Ihnen die Substanz dazu.