Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Der Herr Bundesaußenminister, Kollege Genscher, hat es für richtig gehalten, an den Beginn seiner Intervention ein Lob über die Ergebnisse von Paris in eine Relation zu setzen zu dem beklagenswerten Zustand, daß die Ergebnisse der Sozial- und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland anders beurteilt würden als draußen. Herr Kollege Genscher, ich meine, es ist doch ganz leicht zu sehen, daß ein solcher Einstieg eigentlich fehl am Platz ist; denn wir leben halt hier. Wir haben hier unsere Probleme, und wir wollen hier mit Arbeitslosigkeit und mit Inflation fertig werden. Wir sind hier gewählt und müssen hier unseren Wählern Rechenschaft geben und tragen unsere Sorgen so vor, wie sie die Mehrheit des Volkes — ausweislich der letzten Wahlen — in dieser Zeit doch empfindet.
Wenn sich nun auch Kollege Genscher in einer gewissen koalitionspolitischen Anpassung dem Bundeskanzler insofern nähert, als er sich die These zu eigen macht, woanders sei es noch schlimmer — meine Damen und Herren, ich wiederhole, was ich eingangs der Debatte zur Regierungserklärung des neuen Kanzlers vor einem halben Jahr gesagt habe: Mit der Ausrede, woanders ist es noch schlimmer, kommt keiner von uns im beruflichen Leben durch. Hier wird von jedem Qualitätsarbeit verlangt, auch von einer Regierung, und nicht das Erfinden von Ausreden.
Nun, zu dem Teil wird ja am Freitag und in der nächsten Woche hier ausgiebig zu sprechen sein.
Ich möchte mich deshalb gleich dem zuwenden, dessen sich der Herr Bundesaußenminister eben berühmt hat. Er hat an vielen Stellen — übrigens ähnlich wie der Bundeskanzler — gerühmt: Hier haben wir einen Anteil, und da haben wir einen Anteil. Na, werden wir mal sehen, wie taktvoll es die Partner empfinden, denen man im deutschen Parlament überall bestätigt, wo sie den Anteil haben an der Festlegung der britischen, an der amerikanischen, an der französischen Position. Das soll uns nicht Sorge machen. Aber wenn Sie wirklich daran Anteil haben, sagen wir dazu: Na schön. Es stört uns überhaupt nicht, das auch einzuräumen. Nur, es muß doch der Opposition erlaubt sein, die Regierung, wenn sie nun von so großen Westreisen wiederkommt, zu fragen nach den Ergebnissen in Relation zu den eigenen Vorschlägen und Vorstellungen. Sie sind doch ausgezogen nach Westen, um nun, nachdem im Westen ein Jahr vertan war, endlich zur Solidarität zu kommen und zu einer gemeinsamen Politik in Sachen
Inflation, Energie und Arbeitslosigkeit. Das war doch der Punkt, zu dem Sie ausgezogen sind!
Es ist doch einfach wahr — so steht es in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" —, daß das erste Echo zu den französischen Vorschlägen in der Sache der Institutionen, Herr Kollege Bangemann, deren Sie sich heute berühmen, weil sie in Paris durchgegangen sind, aus Bonn Nörgelei war und der Bundeskanzler vor der Auslandspresse in Bonn sagte: „nicht hilfreich". Jetzt sind diese französischen Vorschläge durchgekommen. Da in Paris auf den Gebieten, die uns auf den Nägel brennen, nur mangelhafte Ergebnisse erreicht worden sind, berühmen Sie sich um dieser Punkte.
— Herr Bundeskanzler, Sie rufen mir — obwohl so etwas nicht üblich ist — zu: „Quatsch"
Das ist natürlich ein starkes Argument! Da wir uns aber so gut kennen, nehme ich das nicht so besonders ernst.
Ich würde mich ja freuen, wenn Sie dem Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" aus dieser Woche, der sich auf diese Frage bezieht, hier entgegentreten könnten.
Ich glaube, daß die Einlassungen der Regierung zu den Problemen der westlichen Länder doch ein ganzes Stück zu selbstgerecht sind. Ich fürchte, wir müssen am Ende dieses Jahres feststellen, daß wir im Hinblick auf das Ziel, im Westen zu mehr Solidarität, zu einer erfolgreicheren Arbeitsteilung und zu mehr Erfolg im Kampf gegen die neuen Herausforderungen zu kommen, doch nicht die Schritte getan haben, die notwendig und möglich waren.
Herr Bundesaußenminister und auch Herr Bundeskanzler, ich meine, Ausgangspunkt für die Erörterung der Maßstäbe zur Beurteilung der Dinge könnte doch das sein, was der Präsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Herr Ortoli, am 31. Januar 1974, also zu Beginn dieses Jahres gesagt hat. Dieses Motto hat uns doch Ihr Amtsvorgänger, Herr Kollege Genscher, in seiner letzten Europarede, mit der er sich überhaupt aus diesem Hause verabschiedet hat, als das Leitmotiv hinterlassen. Was hat Herr Ortoli damals gesagt? Ich zitiere die zwei Sätze so, wie sie der frühere Außenminister hier zitiert hat:
Europa macht eine schwere Belastungsprobe durch ... [Diese] trifft Europa inmitten einer Krise, einer Krise des Vertrauens, einer Krise des Willens und einer Krise des klaren Verstandes.
Es ist zunächst einmal wichtig, festzuhalten, daß eine Krise, eine Belastungsprobe für Europa entstanden ist, daß aber nicht die Ölscheichs und andere die Ursache für die Krise der Europäischen Gemeinschaft sind. Als Gründe werden nicht irgendwelche Techniken, irgendwelche Konferenzen, ir-
9250 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. Dezember 1974
Dr. Barzel
gendwelche neuen Papiere und Verbalismen angeführt, sondern die Faktoren Vertrauen, Willen und klarer Verstand. Ich fürchte, daß unter diesen Maßstäben das Urteil, das wir hier vom Kanzler und vom Außenminister über ihr eigenes Wirken in Paris und an den anderen westlichen Plätzen gehört haben, doch zu selbstgerecht ist. Eine bescheidenere, wahrheitsgemäßere und ehrlichere Darstellung auch in diesem Hause hätte den deutschen Interessen — gerade im Hinblick auf die soziale und ökonomische Lage in der Bundesrepublik Deutschland — besser entsprochen.
Meine Damen und Herren, ich möchte hier nicht unerwähnt lassen, — mein Kollege Zimmermann und auch der Kollege Carstens haben dies schon gesagt; ich möchte es aber noch einmal wiederholen daß sich Versäumnisse rächen. Ihrem Vorgänger, Herr Bundeskanzler, habe ich doch Debatte auf Debatte vorgeworfen, konkret und belegt vorgehalten — wir haben auch diesbezügliche Vorschläge gemacht, die man alle noch in den Protokollen des Parlaments nachlesen kann — —
— Herr Kollege Wehner, nicht nur dort, sondern auch bei dem von uns beiden verehrten Kollegen Monnet.
— Lieber Herr Kollege Wehner, es freut mich, wenn es mir wenigstens gelungen ist, Ihre Aufmerksamkeit zu dieser mittäglichen Stunde zu erwecken.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch einmal wiederholen, daß wir der Vorgängerregierung vorgeworfen haben, sie habe den europäischen Motor, der früher in Bonn stand, zugunsten eines Moderators ausgebaut. Jetzt erleben wir, daß die Bundesregierung sich eines europäischen Erfolges rühmt, obwohl wir doch festzustellen haben, daß die Gemeinschaft, um es grob zu zeichnen, dabei ist, sich von der Gemeinschaft zu einer intergouvernementalen Zusammenarbeit zu denaturieren. Wo ist denn das alles, was hier diskutiert worden ist, z. B. über den Dialog der Gemeinschaft mit den USA, geblieben? Wo ist denn in Ihren Papieren von Washington von diesem Dialog mit der Gemeinschaft die Rede? Es ist immer nur die Rede von der Abstimmung und der Koordinierung von Politik, und das ist nicht die Gemeinschaft, wie wir sie wollen, wie sie im EWG- ertrag niedergelegt ist.
Meine Damen und Herren, die Entscheidungen, die Sie in der Koalition — vor allen Dingen der Kollege Wehner — im Mai dieses Jahres herbeigeführt haben, basierten auf der „Angstlücke", wie Sie das nannten, die die Politik der Regierung Brandt Scheel erzeugt hatte. Diese „Angstlücke" dieses Stück Unsicherheit, dieses Stück Unmut, Ungewißheit, ist doch nach sechs Monaten nicht weg. Und einer der Gründe dieser Angstlücke ist doch der liederliche Umgang dieser Koalition mit der
Westpolitik. Das kann hier nicht geleugnet werden. Sie haben doch nicht nur unsere Vorschläge zur ökonomischen Politik, sondern auch unsere Vorschläge zur Westpolitik überhört.
— Ich freue mich ja, wenn Sie sich nun auch wieder daran beteiligen. Wir sind hier zwar nicht sehr viele, aber ich würde auch Ihnen gern sagen, Herr Kollege: die wichtigeren und netteren Kollegen sind im Saal versammelt, nicht wahr?
Meine Damen und Herren, bevor wir uns dem Papier zuwenden, das jetzt eine Rolle spielt, muß es doch erlaubt sein, uns dies in Erinnerung zu rufen: Wir haben eine Gipfelkonferenz in Paris im Oktober 1972 gehabt. Sie war kurz vor der Bundestagswahl Sie wurde von der Regierung damals für so wichtig gehalten, daß der Ausschuß zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung zusammentreten mußte. Wir haben damals gehört, wie der Bundeskanzler Brandt sagte, jetzt sei aber die Stabilitätsgemeinschaft beschlossen worden, und das vornehmste Ziel sei nun die Herstellung der Europäischen Union.
Meine Damen, meine Herren, wir sind von solchen Sprüchen und von solchem Verbalismus gebrannte Kinder.
Wenn ich Ihnen nun aus der Wirklichkeit der europäischen Tage folgendes sagen darf:
Ich habe Ihnen in der letzten Europadebatte ein Papier aus dem Ministerrat vorgelesen, das ich peinlich fand. Da war so unter der Überschrift „Was meint Kohärenz in der politischen Union?" — Herr Wischnewski, Sie erinnern sich — dann geregelt, daß man 15 Minuten Pause machen durfte, und dann das mit den vier Mitarbeitern usw.
Meine Damen und Herren, auf Grund dieses „vornehmsten" Beschlusses von Paris, der sich in den Papieren von gestern, Herr Kollege Genscher, wiederfindet, ist die Rede von der Europäischen Union. Und hier habe ich nun ein Papier des europäischen Rates vom 21. Juni 1974; das ist also fast zwei Jahre später. Und da fragt der Rat — in einem Fragebogen!; ich will hier gar nicht die Einleitung bringen, die ist mir zu peinlich — die Mitgliedsländer --ich zitiere —:
Was ist unter dem in Ziffer 16 der Pariser Erklärung erscheinenden Ausdruck eigentlich zu verstehen? Handelt es sich a) um alle den Mitgliedsstaaten gemeinsamen Interessen, handelt es sich um ...
Und so geht das sechs Seiten lang. Das heißt, zwei Jahre nach einem solchen verbalen Beschluß fragt man überhaupt erst einmal bei den Mitgliedsländern an: was habt ihr eigentlich gemeint? Das ist ein
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. Dezember 1974 9251
Dr. Barzel
Stück europäische Realität. Da können Sie natürlich sagen: es sind doch noch fünf — oder inzwischen acht — andere da. Nur, meine Damen und Herren, wo ist eigentlich die Haltung der Bundesregierung, die in diesen Sachen dann wenigstens klar definieren würde, was ihre, die deutsche politische Zielvorstellung ist? Das sagt der Bundeskanzler nicht. Im Gegenteil, er kommt heute hierher und erklärt, es sei sowieso falsch, solche Perspektiven zu nennen. Der Herr Kollege Carstens hat dies hier gebührend und völlig zutreffend kritisiert. Es gibt also auf der deutschen Seite keine Sicht der Perspektive, keine Initiative.
Und wenn dann eben die Probleme zusammenschrumpfen zu den Problemen der Zahlungsbilanzen, wenn das der einzige Gesichtspunkt wird, dann wird man eben nicht die richtigen Schritte tun, die jetzt nötig und möglich sind; man geht nicht auf ein Ziel zu, wenn man davon nicht spricht und es nicht hat.
Der Kollege Wehner hat sich über den Kollegen Carstens mokiert. Ich glaube, siebenmal hat er kritisiert, daß der Vorsitzende unserer Fraktion ein „vorläufiges" Votum zu dem Kommuniqué abgegeben hat. Herr Kollege Wehner, ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist; bei uns ist es so geblieben, daß dann, wenn ein Papier morgens um halb neun auf den Tisch kommt und der Fraktionsvorsitzende um halb zehn dazu redet, er also kaum Gelegenheit hatte, dies zu lesen, und viel weniger, es mit seinen Kollegen zu diskutieren und eine Meinung der Fraktion demokratisch herbeizuführen, er hinkommt und solide, wie sich das gehört, sagt: das ist vorläufig meine Meinung. Das sollte man hier dann eigentlich nicht kritisieren.
Wir anerkennen — dies ist heute morgen gesagt worden — die Tatsache der Konferenz und einige ihrer Ergebnisse. Ich will dazu nichts wiederholen. Aber ich möchte doch ein paar Punkte aus diesem Kommuniqué in die kritische Behandlung des Deutschen Bundestages hier einführen. In Ziff. 3 heißt es:
Um den Zusammenhang der Gemeinschaftstätigkeiten und die Kontinuität der Arbeit zu gewährleisten, werden die Außenminister als Rat der Gemeinschaft mit einer impulsgebenden und koordinierenden Rolle betraut.
Ja, meine Damen und Herren, das ist doch eine peinliche Plattitüde. Wie lange arbeiten eigentlich die Außenminister schon? Wie lange gibt es den Ministerrat? Wie kann man so etwas unterschreiben, nachdem man jahrelang dort tätig ist, daß man künftig „impulsgebend und koordinierend" betraut werden wird? Dies sind doch wieder nur Absichten und gute Vorsätze.
Ich nehme ein anderes Beispiel, nämlich Ziff. 5:
Die Regierungschefs halten es für erforderlich, die Solidarität der Neun sowohl durch Verbesserung der Gemeinschaftsverfahren als auch durch Entwicklung neuer gemeinsamer Politiken auf noch zu bestimmenden Gebieten und durch Zuweisung der zu diesem Zweck erforderlichen
Handlungsbefugnisse an die Organe zu verstärken.
Was heißt das eigentlich konkret, präzise, praktisch? So könnte man doch beginnen, wenn wir auf einer grünen Wiese wären und anfingen, über Europa nachzudenken. Aber dieses Europa, von dem Herr Ortoli gesprochen hat, ist in der Krise. Diese Antwort ist weder präzise noch konkret; sie ist eine völlig undifferenzierte und zu nichts verpflichtende Absichtserklärung.
Wie lauten die Sätze, auf die es der deutschen Seite — ich sage: mit Recht, Herr Bundeskanzler — vor allem ankam, die Sätze, auf die man hierzulande wartet, die Verpflichtung der Solidarität in Fragen der Inflation und der Arbeitslosigkeit? Ich zitiere die Ziff. 17:
Die Regierungschefs bestätigen, daß die Bekämpfung der Inflation und die Sicherung der Arbeitsplätze Ziel der Wirtschaftspolitik bleiben.
Das ist die Aussage.
Damit dann keiner etwa auf die Idee kommt, daß hier eine Gemeinschaft mit Kompetenzen und Beschlußmöglichkeiten existiert, heißt der nächste Satz:
Die Zusammenarbeit der Sozialpartner wird einen wesentlichen Faktor für den Erfolg einer solchen Politik darstellen.
Das ist sicher richtig. Aber kommen hier nicht vielleicht zunächst einmal die Regierungen? Kann nicht vielleicht diese Gemeinschaft selbst etwas tun?
— Wir kommen darauf, Herr Bundeskanzler.