Ich möchte um Ihr Verständnis dafür bitten, Herr Kollege Corterier, nachdem wir den Herrn Bundeskanzler nicht durch Zwischenfragen unterbrochen haben, daß Sie auch mich nicht durch Zwischenfragen unterbrechen.
— Das werden Sie nicht bestreiten wollen,
daß wir den Herrn Bundeskanzler nicht durch Zwischenfragen unterbrochen haben, Herr Kollege Schäfer.
Es ist sehr zu bedauern, daß die Regierung in dieser wichtigen Frage der direkten Wahl des Europäischen Parlaments von Anfang an zögerlich operiert hat. Es wäre zu begrüßen gewesen, wenn gerade die deutsche Regierung sich für dieses große und von allen Parteien lange Zeit gemeinsam getragene Ziel der europäischen Einigung stärker, als sie es getan hat, eingesetzt hätte.
Sicherlich ist in der Person des belgischen Ministerpräsidenten Tindemans ein engagierter Europäer gefunden worden, dem es obliegen wird, Vorschläge für die Gesamtentwicklung der Europäischen Gemeinschaft zu machen. Aber auch hier werden wir an frühere Gipfelkonferenzen erinnert, bei denen man gleichfalls eine Einigung in den Sachfragen nicht erzielte und daher auf Verfahrenslösungen auswich, ohne daß in der Folgezeit etwas Nachhaltiges geschah.
Die in den Kommuniqué zum Ausdruck kommende Tendenz, das Einstimmigkeitsprinzip abzubauen, ist sicherlich zu begrüßen. Doch fällt es mir schwer, auch bei mehrfachem Lesen des Textes zu erkennen, worin denn nun eigentlich der Fortschritt gegenüber den Luxemburger Beschlüssen von 1965 liegt, bei denen ja bekanntlich die Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen auch vorgesehen und offengelassen worden war.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. Dezember 1974 9225
Dr. Carstens
Wir haben aus dem Munde des Bundeskanzlers gehört, daß einzelne Länder aufgefordert werden — ich komme damit zum wirtschafts- und konjunkturpolitischen Teil des Kommuniqués —, ihre innere Nachfrage zu fördern, und daß in diesem Zusammenhang auf die Anstrengungen verwiesen wird, die die Bundesrepublik unternimmt.
Hierzu möchte ich namens der CDU/CSU-Fraktion eindeutig folgendes sagen. Wir werden hier am Freitag dieser Woche in einer Debatte zu den von der Bundesregierung geplanten wirtschafts- und konjunkturpolitischen Maßnahmen Stellung nehmen. Wir werden diese Maßnahmen kritisch daraufhin durchleuchten, ob sie den beiden entscheidenden Gesichtspunkten, nämlich der Wiedergewinnung von Geldwertstabilität und der Bekämpfung der immer stärker um sich greifenden Arbeitslosigkeit, gerecht werden. Keinesfalls werden wir der Bundesregierung gestatten, sich für sachlich nicht begründete Entscheidungen ein Alibi bei der Gipfelkonferenz der Europäischen Gemeinschaft zu suchen.
Die Hoffnung, daß es auf der Pariser Konferenz zu einer Einigung in den energiepolitischen Fragen kommen würde, ist leider enttäuscht worden. Ein Appell zur Einigkeit — Herr Bundeskanzler, wie sie ihn auch hier wiederholt haben — ersetzt die Einigung über Sachfragen nicht. Der Satz in dem Kommuniqué, daß die Regierungschefs dem bevorstehenden Treffen von Staatspräsident Giscard d'Estaing und Präsident Ford eine große Bedeutung beimessen, ist nach unserem Eindruck auch nicht eine Entscheidung in der Sachfrage, die so dringend nötig wäre. Dieser Fehlschlag ist um so mehr zu bedauern, als die Entwicklung im energiepolitischen Bereich weiterhin Anlaß zu großen Besorgnissen gibt. Dies hängt nicht zuletzt mit der andauernden Spannung im Nahen Osten zusammen.
Lassen Sie mich einige Worte zu der Situation im Nahen Osten sagen. Die Gefährlichkeit dieser Lage wird von niemandem unterschätzt. Die Möglichkeiten der Einwirkung auf die Entwicklung durch die deutsche Politik sind begrenzt, begrenzt im Verhältnis zu den Einwirkungsmöglichkeiten der beiden Supermächte. Dennoch — darüber sollte sich niemand einer Täuschung hingeben — trifft auch die Bundesrepublik Deutschland und damit die Bundesregierung eine Verantwortung für die Entwicklung in diesem Raum insofern, als es an uns liegt, deutlich zu machen, welches unsere Vorstellungen über die Konfliktsituation sind, in der sich der Nahe Osten befindet.
Die deutsche Position muß ausgehen von der Überzeugung, daß nur durch eine friedliche politische Lösung den Völkern dieser Region und der Welt insgesamt gedient ist.
Jeder neue Krieg bringt die Gefahr schwerer Zerstörungen, die Gewißheit weiterer blutiger Opfer mit sich, und man kann mit voller Sicherheit vorhersagen, daß ein neuer Krieg nicht ein einziges der Probleme lösen wird, vor denen der Nahe Osten steht.
Die bisherige Erfahrung zeigt, daß nach jedem Nahostkrieg die bestehenden Schwierigkeiten größer und nicht geringer geworden sind.
Ein eindringlicher Appell an alle beteiligten Parteien, den Frieden zu wahren, die Feindseligkeiten nicht zu eröffnen und die anstehenden Probleme mit friedlichen Mitteln zu lösen, sollte daher die erste Erklärung sein, die namens der Bundesrepublik Deutschland an die Länder dieser Region gegeben wird.
Zum zweiten sollten wir sagen, daß nach unserer Auffassung alle in diesem Raum lebenden Völker ein Recht auf nationale Existenz, ein Recht auf ein Leben in gesicherten und allgemein respektierten Grenzen und ein Recht auf Selbstbestimmung haben. Nur der Respekt aller Beteiligten vor diesen fundamentalen Forderungen, die für das Zusammenleben der Völker auf der ganzen Welt gelten, kann die Grundlage einer friedlichen Lösung bieten.
Ich sage dies im Bewußtsein der besonderen Beziehungen, die zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel bestehen. Ich sage dies aber auch im Bewußtsein der guten Beziehungen, die über Jahrzehnte hinweg zwischen unserem Land und den arabischen Staaten bestanden haben und die nach unseren Vorstellungen in Zukunft ausgebaut und vertieft werden sollten.
Zum dritten aber ist ein konstruktiver Beitrag für die Spannungen in diesem Raum nur dann und nur dadurch möglich, daß die Sprecher der Bundesregierung, wo immer sie auftreten, die Grundsätze der deutschen Politik gleichartig und gleichlautend formulieren.
In Zeiten gefährlicher Spannung gibt es kein schlechteres politisches Verhalten, als daß man je nachdem, wo man sich befindet, und je nachdem, welchen Adressaten man jeweils vor sich hat, nuancierte, gefärbte oder veränderte eigene Erklärungen abgibt.
So haben wir es bedauert und bedauern wir es weiter, daß in dem deutsch-sowjetischen Kommuniqué über den Besuch des Bundeskanzlers in Moskau nur von den legitimen Rechten des palästinensichen Volkes, aber nicht von dem Lebensrecht Israels die Rede ist.
Die vage Ausrede, die der Herr Bundesminister des Auswärtigen hier vor einigen Wochen zu diesem Komplex gefunden hat, daß nämlich die Lebensrechte Israels dadurch erfaßt seien, daß man in dem Moskauer Kommuniqué auf die Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen Bezug genommen habe, befriedigt in gar keiner Weise.
Wir haben jetzt in den letzten Tagen feststellen müssen, daß der deutsche Botschafter von Wechmar, der vor den Vereinten Nationen eine Rede hielt,
9226 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. Dezember 1974
Dr. Carstens
auch wieder eine unausgewogene Stellungnahme abgab, die dann Veranlassung dazu bot, daß alle möglichen Sprecher der Bundesregierung hier in Bonn das zu interpretieren, zu erklären, oder zu ergänzen versuchten, was Herr von Wechmar gesagt hat.
Meine verehrten Herren auf der Regierungsbank, Sie treiben, wenn Sie wahrscheinlich auch von guten Absichten erfüllt sind, in dieser Frage keine gute Politik. Sie müssen sich überlegen, was Sie namens der Bundesrepublik Deutschland sagen wollen, und das müssen Sie überall, wo Sie auftreten, in gleicher Weise sagen.
Der Bundeskanzler hat im Rahmen seiner Ausführungen auch auf seine Reise nach England Bezug genommen. Gestatten Sie mir dazu auch einige wenige kommentierende Sätze. Er hat auf dem Labour-Kongreß dafür geworben, daß Großbritannien als Mitglied in der Europäischen Gemeinschaft verbleibt. Wie man annehmen darf, wollte der Bundeskanzler der britischen Labour-Party dabei nahelegen, daß England vollwertiges, gleichberechtigtes Mitglied der Europäischen Gemeinschaften bleiben solle. Gegen diesen Versuch, den großen britischen Partner bei der europäischen Stange zu halten, ist sicher nichts einzuwenden. Er steht allerdings im merkwürdigen Widerspruch zu den Erklärungen, die der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, Herr Kollege Brandt, der inzwischen leider gegangen ist, wenige Tage zuvor abgegeben hatte und in denen er den Engländern und einer Reihe anderer Mitglieder der EG nahegelegt hatte, sich mit einer Rolle im zweiten Glied der Gemeinschaftsentwicklung zufriedenzugeben, solange sie noch nicht in der Lage seien, die vollen Verpflichtungen eines Mitglieds zu übernehmen.
Diese Widersprüchlichkeit der Erklärungen des Bundeskanzlers einerseits und des Vorsitzenden der SPD andererseits, die sich, nebenbei gesagt, an vielen anderen Beispielen auch noch nachweisen lassen würde, wurde hier wieder einmal besonders deutlich, und ich muß sagen, es ist ein Umstand, der den Erklärungen des Bundeskanzlers im Ausland sicherlich keinen besonderen Nachdruck verleiht.
Leider ist es im Anschluß an die Rede des Bundeskanzlers in London zu einem unangenehmen Zwischenfall gekommen. Einer der Teilnehmer des Labour-Party-Kongresses, ein Abgeordneter des britischen Unterhauses, John Ryman, hat über den Bundeskanzler eine in Form und Inhalt beleidigende Äußerung getan, indem er ihn einen „überheblichen Hunnen" nannte. — Ich möchte diese Gelegenheit benutzen, um diese beleidigende Äußerung über den Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland
durch einen britischen Unterhausabgeordneten auch im Namen der CDU/CSU-Fraktion zurückzuweisen.
— Ich nehme an, meine Damen und Herren von der! SPD-Fraktion, daß Sie wenigstens in diesem Punkte mit mir einer Meinung sind.
Die Gespräche, die der Bundeskanzler in Washington führte, hatten den Zweck, die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland zu festigen und außerdem die Schwierigkeiten, die sich zwischen den Partnern der Europäischen Gemeinschaft einerseits und den Vereinigten Staaten andererseits in Fragen der internationalen Politik ergeben haben, zu überbrücken.
Die Bemühungen des Bundeskanzlers in beiden Richtungen finden die volle Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion. In der Tat ist die Stärkung des Nordatlantischen Bündnisses und innerhalb dieses Bündnisses der Ausbau der festen, engen und vertrauensvollen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland ein Kernstück der deutschen Politik — so wie die CDU/CSU in den Jahren, als sie die Verantwortung für die deutsche Außenpolitik trug, sie immer verstanden und immer praktiziert hat.
Leider muß man auch hier feststellen, daß der Bundeskanzler, wenn er diese Politik verfolgt, sich im Widerspruch zu Teilen seiner eigenen Partei befindet. Noch sind uns die Szenen hier in diesem Hohen Hause lebhaft in Erinnerung, als der Bundesverteidigungsminister über die zunehmende Aufrüstung der Warschauer-Pakt-Staaten
und über die Notwendigkeit verstärkter Verteidigungsanstrengungen im westlichen Bündnis, besonders in Deutschland, sprach: seine Rede wurde von eisigem Schweigen der beiden Koalitionsfraktionen aufgenommen. Ich denke, wir alle erinnern uns noch daran.
Aber noch weit schlimmer ist die fortwährende Hetze, die von linken Gruppen in unserem Lande gegen die Vereinigten Staaten als eine kapitalistische Großmacht, als eine Nation, die für die Ermordung unschuldiger Menschen verantwortlich sei, betrieben wird. Diese Hetze vergiftet die Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Es wäre sehr zu wünschen, wenn der Bundeskanzler in den Reihen seiner eigenen Partei endlich dafür sorgte, daß diese Art von lebensgefährlicher Zerstörung der Grundlagen der deutschen Außenpolitik durch linksorientierte Gruppen — einschließlich sozialdemokratischer Gruppen — unterbleibt.
Daß diese Sozialdemokraten dabei Arm in Arm mit Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland marschieren, will ich nur am Rande erwähnen.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. Dezember 1974 9227
Dr. Carstens
Aber ich möchte — lassen Sie mich doch vielleicht zu Ende reden, meine Herren, dann werden Sie gleich hören, was ich meine — doch nicht unterlassen darauf hinzuweisen, daß gegen eine Kundgebung, die die CDU morgen in Duisburg durchführen wird, von einer Gruppe linksgerichteter Politiker eine Gegenkundgebung veranstaltet werden soll. Dabei treten wieder in trautem Verein Sozialdemokraten und Kommunisten gemeinsam auf.
Herr Bundeskanzler, hier liegt ein großes, wichtiges Betätigungsfeld für Ihre Energie!
Ich setze die Anstrengungen in keiner Weise herab, die Sie zur Festigung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses unternehmen. Sie haben aus dem, was ich gesagt habe, entnommen, daß die CDU/CSU diese Ihre Anstrengungen unterstützt. Aber Sie wären gut beraten, wenn Sie Ihr Augenmerk darauf richteten, daß die Basis, auf der Sie politisch stehen, angenagt wird durch Kräfte, die das Atlantische Bündnis und die Freundschaft mit den Vereinigten Staaten zerstören wollen.
Gestatten Sie mir noch ein weiteres Wort über die publizistische Darstellung, die der Bundeskanzler selbst von seiner und über seine Amerikareise gegeben hat. Er sagte im Fernsehen, daß wir in der Bundesrepublik wirtschaftliche Stabilität hätten und daß er das seinen amerikanischen Partnern hätte mitteilen können. Hierzu ist leider anzumerken, Herr Bundeskanzler — für den Fall, daß es Ihnen entgangen sein sollte —, daß die Zahl der Arbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland mittlerweile 800 000 beträgt und daß dies die höchste Zahl von Arbeitslosen in dieser Jahreszeit ist, die die Bundesrepublik Deutschland seit 20 Jahren gehabt hat. Wie Sie es fertigbringen, unter diesen Umständen von wirtschaftlicher Stabilität zu sprechen, bleibt unerfindlich, um so unerfindlicher, als Sie, wie Sie sich vielleicht auch noch erinnern werden, den Wahlkampf des Jahres 1972 hauptsächlich mit der Parole geführt haben, wer die SPD wähle, wähle eine Partei, die die Sicherheit der Arbeitsplätze garantiere.
Ich möchte auch einige Bemerkungen zu den innerdeutschen Beziehungen machen, zu denen der Bundeskanzler zu Beginn seiner Ausführungen gesprochen hat. Die Bundesregierung bezeichnet die Zurücknahme des Zwangsumtausches für Rentner seitens der DDR-Behörden und die Verbesserung der Besuchsmöglichkeiten für Westberliner in der DDR — Besucher können in Zukunft in größerem Umfange ihren Pkw mitnehmen und können sich auch innerhalb des gesamten Gebietes der DDR bewegen — als einen Erfolg ihrer innerdeutschen Politik. Die Verbesserung der Besuchsmöglichkeiten sind in der Tat eine Verbesserung und sind neu. Was aber den Zwangsumtausch angeht, so ist es notwendig, sich zu erinnern, welche Entwicklung diese Frage genommen hat.
Im Herbst 1972 wurde der Grundvertrag unterzeichnet, der dann im Frühjahr 1973 ratifiziert wurde. Er sollte ebenso wie der Verkehrsvertrag der Erleichterung der Kontakte zwischen den Menschen im geteilten Deutschland dienen. Kaum aber war der Grundvertrag ratifiziert, griff die DDR in den Bereich der menschlichen Kontakte in brutaler Weise ein, indem sie die Zwangsumtauschsätze für Besucher aus West-Berlin und aus der Bundesrepublik Deutschland verdoppelte und diese erhöhten Umtauschsätze zugleich auch für Rentner neu einführte, die bisher von jeder Umtauschpflicht befreit waren. Damit verstieß die DDR in eindeutiger Weise gegen den Grundvertrag und den Verkehrsvertrag. Sie verstieß außerdem gegen ausdrückliche Zusagen, die die DDR-Behörden dem Berliner Senat gegeben hatten. Es war daher die einmütige Auffassung der CDU/CSU, der Bundesregierung und des Berliner Senats, daß diese einseitige Maßnahme zurückgenommen werden müßte, bevor man über weitere Leistungen der Bundesregierung an die DDR überhaupt verhandelte.
Noch am 6. Dezember dieses Jahres — vor wenigen Tagen — sagte der Regierende Bürgermeister von Berlin dazu folgendes:
Seit einiger Zeit werden in verstärktem Maße Gerüchte im Zusammenhang mit dem Zwangsumtausch verbreitet, so als würde Ost-Berlin jetzt endlich die Rentner von dieser Maßnahme befreien. Ich kann und will dazu nur dreierlei sagen:
1. Wenn man dies jetzt tut, dann ist das nichts weiter als die Rückkehr zur Geschäftsgrundlage des Vereinbarten, und es wird Zeit, daß auch die DDR-Führung lernt, daß Verträge allgemein, besonders aber die Vereinbarungen im Rahmen des Viermächteabkommens strikt eingehalten werden müssen.
2. Wir wissen nicht, ob und wann Ost-Berlin seine Haltung revidieren will. Deshalb beteilige ich mich nicht an Spekulationen dieser Art, und ich bleibe skeptisch bis zum Beweis des Gegenteils. Aber wir alle würden uns freuen, wenn zum Weihnachtsfest gerade für unsere Rentner diese Erleichterung möglich wäre.
3. Das alles hat mit den Fragen des innerdeutschen Handels nichts zu tun.
Hier kann es keine Geschäfte geben;
Am Tage darauf, am 7. Dezember, erteilte das „Neue Deutschland" Herrn Schütz eine schneidende Antwort. Es teilte nämlich mit, daß zwischen Beamten der Bundesrepublik und der DDR eine Vereinbarung über eine Verlängerung des Überziehungskredits ausgehandelt und paraphiert worden sei und daß dieser Kredit künftig für weitere fünf Jahre bis zu einer Höhe von 850 Millionen DM in Anspruch genommen werden könne. Der Kredit ist bekanntlich zinslos. Daraus ergibt sich bei einer Zugrundelegung eines normalen Zinssatzes von 7 °/o, daß die Einräumung dieses Kredits an die DDR einem Gegenwert von etwa 400 Millionen DM entspricht. Daß unter diesen Umständen der DDR die Befreiung der Rentner vom Zwangsumtausch leichter fiel, ist unschwer zu erkennen.
Zu diesem unglaublichen Vorgang ist folgendes zu sagen.
Erstens. Die Bundesregierung ist von den von ihr selbst mehrfach erhobenen Forderungen wieder einmal abgewichen.
Sie hat über den Kredit verhandelt und die Vereinbarung paraphiert, bevor der Zwangsumtausch für Rentner aufgehoben worden war.
Zweitens. Sie hat die unselige Praxis ihrer Vorgängerin, der Regierung Brandt, wiederaufgenommen und für ein und dieselbe Leistung, nämlich für die Freistellung der Rentner vom Zwangsumtausch, zweimal einen Preis bezahlt,
nämlich einmal bei Abschluß des Grundvertrages, der, wie wir doch alle wissen, der DDR entscheidende Vorteile brachte, und zum zweitenmal durch die Gewährung des Überziehungskredits von 850 Millionen DM für fünf Jahre.
Drittens. Sie hat durch dieses außerordentliche Entgegenkommen noch nicht einmal erreicht, daß wenigstens der Zustand wiederhergestellt wurde, der vor Abschluß des Grundvertrages bestand und den nicht zu verschlechtern sich die DDR verpflichtet hatte. Denn zwar sollen ab 20. Dezember die Rentner vom Umtausch befreit werden; aber alle anderen Besucher der DDR werden auch künftig einer höheren Zwangsumtauschquote unterliegen, als sie sie vor Abschluß des Grundvertrages zu entrichten hatten.
Die „Stuttgarter Zeitung" schreibt dazu am 10. Dezember — ich zitiere wieder wörtlich —:
Alles dies ist ein Lehrstück für stümperhafte Arbeit, und zwar an der Regierungsspitze. Hier ist nicht koordiniert und vorher überlegt worden, was die Bundesregierung will, was sie riskieren kann und mit welcher Absicht sie Verhandlungen beginnt. Wer so mit den hart gedrillten Politikern aus der DDR umgeht, der braucht sich nicht zu wundern, wenn er für seine Blessuren auch noch bezahlen muß.
Dieser vernichtenden Stellungnahme habe ich nichts hinzuzufügen. Wenn ich diesen Satz, Herr Bundeskanzler, hier zitiere, dann weise ich zugleich Ihre Unterstellung zurück, als ob DDR und Opposition der Bundesregierung
bei dem Versuch, zu innerdeutschen Vereinbarungen zu kommen, in gleicher Weise Schwierigkeiten bereiteten. Die CDU/CSU hat allen Anlaß, meine Damen und Herren, dieser Bundesregierung ebenso wie ihrer Vorgängerin bei ihren Verhandlungen mit der DDR auf die Finger zu sehen, und sie wird das auch tun.
Viertens. Sehr merkwürdig bleibt in diesem Zusammenhang das von der Bundesregierung gewählte Verfahren. Wer hat eigentlich Herrn Kleindienst die Weisung erteilt, das neue Abkommen zu paraphieren? War es der Bundeskanzler, wie die Presse sagt, war es der Bundeswirtschaftsminister, dem Herr Kleindienst untersteht, war es vielleicht der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen? Ich weiß es nicht.
Hier wird deutlich, daß die Führung der Verhandlungen mit der DDR auf seiten der Bundesregierung mangelhaft organisiert ist. Eine klare Verantwortung für diesen komplexen und komplizierten Bereich ist nicht zu erkennen. In einem der wichtigsten Bereiche der Politik fehlt es an klaren Zuständigkeiten und an der notwendigen Koordinierung.
Fünftens. Wie hat die Bundesregierung, so muß die CDU/CSU-Fraktion weiter fragen, sichergestellt, daß sich das von der DDR bisher so erfolgreich gespielte Spiel nicht wiederholen wird? Mit anderen Worten: Was geschieht, wenn die DDR die Zwangsumtauschquoten erneut erhöhen oder andere Erschwerungen im Besucherverkehr einführen würde?
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. Dezember 1974 9229
Dr. Carstens
Wir verlangen dazu eine klare Antwort seitens der Bundesregierung.
Sechstens. Warum wurde der Berliner Senat über die Verhandlungen, die Herr Kleindienst führte, nicht unterrichtet? Ist dies die Art und Weise, so möchte ich fragen, in der die Bundesregierung die Forderung nach Festigung der Bindungen Berlins an den Bund zu erfüllen gedenkt? Hier liegt ein schweres Unterlassen der Bundesregierung — einerlei, wen dafür die Verantwortung treffen mag — vor.
Siebtens. Als katastrophal muß die Informationspolitik der Bundesregierung in dieser Angelegenheit bezeichnet werden.
Dadurch, daß die Bundesregierung einen eklatanten Fehlschlag ihrer Politik auch noch als Erfolg hinzustellen versucht, bringt sie sich um jede Glaubwürdigkeit.
Die Bundesregierung weist darauf hin — dies ist auch zutreffend —, daß die DDR außer der Zurücknahme des Zwangsumtausches und den verbesserten Besuchsmöglichkeiten für Westberliner in der DDR eine Reihe von Projekten für den Verkehr zwischen der DDR und West-Berlin, zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland in Aussicht gestellt hat. Diese Verkehrsprojekte beziehen sich auf Straßenverbindungen, auf wirtschaftliche Kooperation, auf die Stromversorgung Berlins, auf Schleusen und Kanäle in West-Berlin u. a. m. Alle diese in Aussicht gestellten Projekte sind als solche natürlich zu begrüßen. Nur handelt es sich zunächst eben lediglich darum, daß solche Maßnahmen oder Vereinbarungen in Aussicht gestellt werden. Es bleibt abzuwarten, wann und wie sie realisiert werden. Nach den Erfahrungen mit dem direkten Telefonverkehr zwischen den beiden Teilen Deutschlands muß auch die Frage gestellt werden, wieviel diese Vereinbarungen, selbst wenn sie abgeschlossen sind, wert sind. Denn bekanntlich ziehen die DDR-Behörden die Herstellung dieser Fernsprechverbindungen über den fest zugesagten Termin vom 31. Dezember dieses Jahres hinaus, obwohl die Bundesregierung die auf sie in diesem Zusammenhang entfallenden Zahlungen bereits voll geleistet hat.
Aber vor allem, meine Damen und Herren, bleibt abzuwarten, welche weiteren Forderungen, insbesondere finanzieller Art, die DDR in diesem Zusammenhang an die Bundesregierung stellen wird. Hierzu ging uns gestern abend folgende ddp-Meldung zu — ich zitiere —:
Die Bundesrepublik muß nach Ansicht der DDR sämtliche Kosten für die Verbesserungen der Verkehrswege von und nach West-Berlin übernehmen, die Ost-Berlin am Montag in einem Verhandlungskatalog angeboten hat.
Nach einer Schätzung der „Süddeutschen Zeitung" von heute morgen werden diese Kosten alles in allem auf 3 Milliarden DM veranschlagt.
Ich fasse zusammen: Die Zurücknahme der Zwangsumtauschquote für Rentner ist zu begrüßen, Wir alle werden uns freuen, wenn jetzt eine größere Anzahl von Rentnern ihre Verwandten und Freunde in Ost-Berlin und in der DDR besuchen kann. Aber der Zustand, der vor Ratifizierung des Grundvertrags bestand, ist noch nicht wiederhergestellt worden. Auch heute noch stehen die Besucher, die in die DDR reisen wollen — was die Zwangsumtauschquote angeht —, schlechter da, als sie vor der Ratifizierung des Grundvertrages gestanden haben. Vor allem hat die Bundesregierung wieder einmal gegen das fundamentale Prinzip verstoßen, daß man für ein und dieselbe Leistung nicht zweimal einen Preis zahlen darf.
Die heutige Debatte hat Gelegenheit gegeben — und bietet weiter Gelegenheit —, zu den wichtigsten Fragen der deutschen Außenpolitik Stellung zu nehmen. Der Gesamteindruck ist nicht befriedigend.
Die Regierung bietet kein einheitliches Bild. In Fragen der Europapolitik gehen Bundeskanzler und Vorsitzender der SPD verschiedene Wege; in Fragen des Atlantischen Bündnisses kämpft der Bundeskanzler gegen starke Widerstände in seinen eigenen Reihen, was seinen Anstrengungen ein gut Teil an Glaubwürdigkeit nimmt.
Der deutschlandpolitische Kurs der Regierung ist zwiespältig. Ihm fehlt jede klare Linie. Die jetzige Bundesregierung widerholt die Fehler ihrer Vorgängerin und zeigt sich den östlichen Verhandlungspartnern nicht gewachsen.
Zu der Krise im Nahen Osten gibt die Bundesregierung oder geben ihre Sprecher, je nachdem, wo sie sich äußern, unterschiedliche Erklärungen ab und belasten dadurch die Beziehungen sowohl zu Israel wie zu den arabischen Staaten.
Ich will die Anstrengungen, Herr Bundeskanzler, die Sie in den letzten Tagen im Interesse des Bündnisses und im Interesse der europäischen Einigung unternommen haben, in keiner Weise herabsetzen — ich wiederhole es —; aber Erfolg in der Politik setzt mehr voraus, nämlich langfristig geplantes, konsequentes und vor allem einheitliches Vorgehen aller in einer Regierung zusammengefaßten Kräfte. Hieran fehlt es dieser Bundesregierung in entscheidender Weise.
Sie zeigt damit auf außenpolitischem und deutschlandpolitischem Gebiet die gleiche Schwäche und Unsicherheit, die ihre Tätigkeit im wirtschaftspolitischen und im innerpolitischen Bereich — ich nenne nur die Stichworte Bekämpfung von Terror und Bekämpfung von Radikalismus — kennzeichnet. Darüber wird in den nächsten Sitzungen des Deutschen Bundestages weiter zu sprechen sein.
9230 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 135. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. Dezember 1974