Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin dankbar, daß ich dem Parlament unverzüglich über die heute nacht zu Ende gegangenen Beratungen der Regierungschefs und der Außenminister der neun EG-Staaten berichten kann. Ich möchte zugleich die Ergebnisse der Gespräche darlegen, die Herr Genscher und ich in der letzten Woche mit Präsident Ford und Außenminister Kissinger hatten, zumal diese in engem Zusammenhang mit dem Pa-
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riser Treffen stehen. Ein weiteres wichtiges Ereignis der letzten Tage ist sodann die neue Entwicklung im Verhältnis zur DDR, die ich dem Bundestag unterbreiten möchte, und ich beginne mit diesem Gegenstand.
In der Regierungserklärung vom 17. Mai haben wir gesagt:
Wir werden trotz aller Schwierigkeiten und Rückschläge in dem Bemühen nicht nachlassen, die gegenseitigen Beziehungen zu verbessern.
Die Bundesregierung hat sich nach diesem Satz gerichtet; dies ist ihr nicht leicht gemacht worden, weder von seiten der DDR noch von seiten der Opposition im Deutschen Bundestage.
Die Bundesregierung hat sich gleichwohl nicht beirren lassen, sondern den einmal eingeschlagenen Weg kontinuierlich fortgesetzt. Es waren viele Anläufe und Verhandlungsgänge auf verschiedenen Ebenen notwendig, um das zu erreichen, was jetzt auf dem Tisch liegt.
Im Juni diesen Sommers hat ein Kreis von Bundesministern zusammen mit dem Präsidenten der Bundesbank und dem Vertreter des Regierenden Bürgermeisters von Berlin über die Prioritäten für unsere Verhandlungsvorstellungen beraten. Nach jener Beratung bestand Übereinstimmung unter anderem darüber, daß die Wiederherstellung der Geschäftsgrundlage beim Mindestumtausch die Voraussetzung aller weiterführenden Verhandlungen sein müsse, zum anderen daß Stromversorgung und Verkehrsverbund von West-Berlin als erste Priorität in einer Liste neuer Verhandlungen mit der DDR zu stehen haben würde und daß sodann der Swing eine wesentliche Bedeutung für den Umfang und für die Abwicklung des innerdeutschen Handels habe.
Auf dieser Grundlage, die ich hier nicht vollständig darstellen kann, wurden dann im Laufe des Monats Juli Stellungnahmen der Bundesressorts zu Einzelfragen ausgearbeitet. Im August fanden Sondierungen mit der DDR statt. Anfang September wurde das Ergebnis der Sondierungen in einem Briefwechsel zwischen Herrn Honecker und mir zusammengefaßt. Der Briefwechsel enthielt die Zusagen und Angebote der DDR, wie sie jetzt am letzten Montag bekanntgegeben wurden, mit Ausnahme damals einer befriedigenden Regelung des Mindestumtauschs. Mitte September kam dann der gleiche Kreis im Bundeskanzleramt zusammen — er hat ein paarmal getagt —, um den erreichten Stand zur Kenntnis zu nehmen und die weitere Linie festzulegen. Anschließend hat es zahlreiche Gespräche gegeben zwischen dem Leiter unserer Ständigen Vertretung, Staatssekretär Gaus, und den zuständigen Personen, Ministern, Beamten der DDR, darunter dreimal mit Herrn Honecker.
Ein erster Erfolg wurde Ende Oktober mit der Senkung der Sätze für den Mindestumtausch durch die DDR erreicht. Herr Honecker teilte mir diesen Beschluß schriftlich mit. Ich habe geantwortet, daß ich jene Maßnahme der DDR als einen Fortschritt würdigte, daß ich mich aber ohne eine Befreiung der
Rentner vom Mindestumtausch nicht in der Lage sähe, dem Beginn der vorgesehenen Verhandlungen zwischen den Regierungen über Fragen des beiderseitigen Interesses zuzustimmen.
Ich erhielt dann Ende November eine verbindliche Zusage von Herrn Honecker, daß die Befreiung der Rentner vom Mindestumtausch am 10. Dezember verkündet und am 20. Dezember in Kraft treten würde. In einem Gespräch der zuständigen Ressortminister haben wir daraufhin beschlossen, ad referendum mit der DDR einen Text für einen Briefwechsel über die Weiterführung des Swing abzustimmen, über den das Kabinett noch zu beschließen haben würde. Die DDR hat sodann am 9. Dezember offiziell mitgeteilt, daß die Rentner mit Wirkung vom 20. Dezember an vom Mindestumtausch befreit sein würden und daß sie bereit sei, über eine seit September abgestimmte umfangreiche Liste von gemeinsam interessierenden Fragen zu verhandeln.
Die Koalitionsparteien, die Bundesregierung und der Senat von Berlin haben inzwischen das Ergebnis begrüßt. Das Kabinett wird heute über die Unterzeichnung der Swing-Vereinbarung, über die Aufnahme von Verhandlungen über Fragen des Verkehrs, der Stromversorgung, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, des nichtkommerziellen Zahlungsverkehrs usw. entscheiden.
Lassen Sie mich das hiermit skizzierte Ergebnis mit drei Bemerkungen bewerten.
Ad eins: In Übereinstimmung mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin halte ich die Mitteilungen, die uns nunmehr von seiten der DDR zugegangen sind, für das Positivste, das seit Abschluß des Viermächteabkommens und seiner Zusatzvereinbarungen für die Berliner erreicht worden ist.
Wenn auch die weiter vorgesehenen Verhandlungen zum Erfolg führen, dann werden Bindungen zwischen Berlin und dem Bund in Bereichen weiter entwickelt, um die man sich vorher viele Jahre lang vergeblich bemüht hatte.
Zum zweiten: Es war dabei nicht nur die weitreichende Senkung der Sätze für den Mindestumtausch durch die DDR, sondern auch die vollständige Wiederherstellung der Befreiung der Rentner vom Mindestumtausch im Vorwege klargestellt. Das Ergebnis fördert die Besuche in die DDR, insbesondere von Berlinern bei ihren Familienangehörigen in Ost-Berlin. Dazu kommen die Erleichterungen bei der Benutzung von privaten Kraftwagen sowohl für die Bundesbürger als auch für die Berliner. Dazu kommt weiter die Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen für Westberliner nunmehr für das gesamte Gebiet der DDR.
Drittens. Für die Bundesrepublik und für Berlin gleichermaßen wichtig ist die Aufrechterhaltung und der Ausbau des Handels mit der DDR, des sogenannten innerdeutschen Handels. Der Überziehungskreditrahmen, Swing genannt, ist dafür ein Instrument, auf das wir auch heute noch nicht verzichten
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können und wollen. Es ist ein Instrument, das in unserem eigenen Interesse gehandhabt wird.
Angesichts einiger mich sehr erstaunender Stimmen der letzten Tage darf ich die Opposition wohl darauf hinweisen, daß die Regierung Kiesinger im Dezember 1968 die Dynamisierung des Swing beschlossen hat, d. h. unmittelbar nach der Beteiligung der DDR am Einmarsch in die Tschechoslowakei. Sie haben das damals getan.
Ich will es ja nicht kritisieren, ich fand es damals richtig, ich finde es heute richtig, weil es im Interesse unserer eigenen Bürger liegt.
Seit diesem Beschluß der Bundesregierung Kiesinger /Brandt Ende 1968 ist der Warenaustausch erheblich gestiegen. Uns kann nur daran liegen, diese Entwicklung fortzusetzen, und keineswegs daran, die Entwicklung umzukehren. Politisch und wirtschaftlich bleibt dieser Handel ein bedeutendes Band zwischen den beiden deutschen Staaten. Wenn wir jetzt trotzdem eine Höchstgrenze für den Swing verabredet haben, über die hinaus der Swing nicht steigen kann, dann in dem Bestreben, auf längere Sicht zu einer Balance, zu einem Ausgleich in diesem Handel zu gelangen.
Die Verhandlungen, die darüber hinaus bevorstehen, werden das Verhältnis zueinander und auch ' die wirtschaftliche Bindung der beiden deutschen Staaten aneinander weiter fördern. Das bezieht sich vor allem auf die Verbesserung und den Ausbau der Verkehrswege auf der Straße, auf der Schiene und zu Wasser. Übrigens wird ein Abkommen über den Abtransport des Mülls aus Westberlin noch heute unterzeichnet.
Mir ist unverständlich, daß gegenüber diesem Gesamtergebnis, wie es heute vorliegt und gestern für jedermann durchsichtig und erkennbar vorlag, durch die Opposition jetzt noch Kritik geübt wird.
— Herr Professor Carstens, es kommt ja nicht darauf an, ob es uns paßt, es kommt darauf an, welchen Eindruck Sie auf die Bürger auf beiden Seiten dieses unseren Vaterlandes machen wollen.
Im übrigen, Herr Carstens, war doch Ihre Kritik zunächst aus sehr durchsichtigen, taktischen Gründen erfolgt. Dabei sind Sie auch auf eine teilweise Indiskretion im „Neuen Deutschland" hereingefallen. Dafür habe ich Verständnis, dafür hatte ich auch am Wochenende noch Verständnis. Mir liegt nichts ferner, als etwa das Verhalten der DDR zu beschönigen, zumal ja doch die neuen Mindestumtauschregelungen nur eine frühere Lage — und das noch nicht einmal ganz — wieder hergestellt haben.
— Ich entnehme Ihren Zwischenrufen, meine Damen und Herren von der Opposition, daß Sie genau wissen, wie man so etwas macht.
Ich möchte diesen Komplex abschließen und Sie bitten, auch das folgende zur Kenntnis zu nehmen und zu bewerten. Es waren dies schwierige und zeitraubende Verhandlungen mit der DDR, die wir unternommen haben, um die DDR von einem Weg abzubringen, der das Verhältnis zwischen unseren beiden Staaten und darüber hinaus die Entspannungspolitik in Europa hätte gefährden können. Man kann dergleichen nicht mit öffentlichen Anklagen und maximalen Forderungen, auch nicht mit Verhandlungen auf dem Marktplatz erreichen. Auch in der DDR gibt es Kräfte, denen allerdings die Konfrontation lieber ist als die Kooperation; auch dort ist Prestige im Spiel.
Daß man sich schließlich so weit hat einigen können, war nicht das Ergebnis des sogenannten Drucks, den auszuüben die Opposition uns stetig empfiehlt, sondern es war das Ergebnis von Bemühungen auf beiden Seiten, die übereinstimmenden Interessen in den Vordergrund zu stellen und für die Beziehungen fruchtbar zu machen. In diesem Sinne wird die Bundesregierung auch zukünftig an der Ausfüllung des Grundlagenvertrages arbeiten, auch wenn es in Zukunft abermals dann und wann Rückschläge oder sogar schwere Rückschläge geben sollte.
Nun zum zweiten Komplex. Die Gespräche, die Bundesminister Genscher und ich in den Vereinigten Staaten geführt haben, waren nicht nur nützlich, sondern auch sehr erfreulich, notabene sehr herzlich. Präsident Ford wird uns in absehbarer Zeit einen Gegenbesuch machen, der ihn auch nach Berlin führen wird.
Der Schwerpunkt unserer Besprechungen lag angesichts der schwierigen Lage der Weltwirtschaft bei der Koordinierung der Konjunktur- und der Energiepolitik. Wir stimmten in dem Urteil überein, daß die Weltwirtschaft in eine Rezession geraten ist und daß es darauf ankommt, eine Depression zu verhindern. Präsident Ford hat uns versichert, daß er für sein Land eine solche Entwicklung nicht zulassen werde.
Wir haben unseren amerikanischen Freunden die Grundzüge des konjunkturpolitischen Programms erläutert, das heute und morgen im Kabinett beraten werden wird und das einen Aufschwung in Stabili-tat zum Ziele hat. Unsere Freunde haben dieses Programm, zumal angesichts unserer deutschen Überschußposition und angesichts unserer in der ganzen Welt unerreicht niedrigen Preissteigerungsrate, eindeutig begrüßt.
Präsident Ford und seine wirtschaftspolitischen Mitarbeiter haben unsere Auffassungen geteilt, daß es in der derzeitigen Konjunkturlage ganz besonders auf eine Stimulierung der Investitionstätigkeit
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ankommt. Die erstmalige Beteiligung von je zwei herausragenden Unternehmern und Gewerkschaftsvorsitzenden an dieser Delegation hat die wirtschaftlichen Gespräche sehr befruchtet, die über viele Stunden gegangen sind, und hat übrigens in Washington wie in New York einen sehr starken Eindruck hinterlassen.
Ich darf einfließen lassen, daß die Arbeitslosenrate in den Vereinigten Staaten gegenwärtig auf 6,5 °/o gestiegen ist. Wenn die Regierung der Vereinigten Staaten in der Konjunkturpolitik trotzdem noch nicht in gleichem Maße und in gleicher Richtung vorgeht wie wir, so steht man in Washington natürlich unter dem Eindruck einer amerikanischen Preissteigerungsrate, die doppelt so hoch ist wie bei uns. Es werden jedoch dieselben Überlegungen wie bei uns angestellt, Überlegungen in dieselbe konjunkturpolitische Richtung. Die monetäre Restriktion wurde bereits gelockert; der Diskontsatz wurde bereits gesenkt.
Wir haben übereingestimmt, daß unsere Länder für die weitere weltwirtschaftliche Entwicklung besondere Verantwortung tragen. Auch in den Grundzügen einer künftigen international abgestimmten Energiepolitik und in der Frage des Rückflusses der Devisenüberschüsse, der Einkommensüberschüsse der Ölländer — meist Recycling genannt — ergab sich Übereinstimmung. Ich will keine Prognose abgeben, bin aber jetzt hinsichtlich des Erfolges des in dieser Woche bevorstehenden Gespräches zwischen dem amerikanischen und dem französischen Präsidenten auf Martinique optimistischer als vor den Reisen nach Washington und nach Paris.
Zu dem außenpolitischen Teil der Gespräche in Washington möchte ich unsere selbstverständliche gemeinsame Auffassung hervorheben, daß der politische Zusammenhalt und eine starke Verteidigungsbereitschaft unerläßliche Voraussetzungen bleiben müssen für weiteres Bemühen in der Ost-West-Entspannung. Auf der Grundlage dieser Voraussetzungen müssen Fortschritte in der Rüstungsbegrenzung erzielt werden. Präsident Ford hat Herrn Kollegen Genscher und mir in diesem Zusammenhang sehr ausführlich seine Begegnung und ihre Ergebnisse mit der Führungsspitze der Sowjetunion dargelegt, wobei der positive Charakter, die positive Bedeutung der in Wladiwostok erreichten SALT-Etappe uns deutlich geworden ist.
Wir haben natürlich auch den Stand der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa erörtert und stimmten darin überein, daß in jüngster Zeit Fortschritte erzielt wurden, die Einigung über wichtige Texte jedoch noch aussteht. Gleichzeitig haben wir unsere Meinung über andere aktuelle Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ausgetauscht: über die Lage im Nahen Osten sehr ausführlich, über die Lage auf Zypern. Herr Bundesminister Genscher steht zur Verdeutlichung, zumal im Auswärtigen Ausschuß, sicherlich gern zur Verfügung.
Was nun den dritten Komplex, nämlich das Treffen der Regierungschefs in Paris angeht, so war das eine Arbeitssitzung und erbrachte ein Arbeitsergebnis. Dies ist in meinen Augen keine Einschränkung, sondern ein Positivum. Regierungschefs und Außenminister haben in intensiver Beratung die wichtigsten gegenwärtigen Probleme der europäischen Einigung erörtert und Lösungsansätze gefunden. Die Europäische Gemeinschaft hat bewiesen, daß sie sich weder in bürokratischer Kleinarbeit erschöpft noch in hohlen Deklamationen verliert, sondern daß sie nüchtern und wirklichkeitsbezogen vorangeht.
Dabei waren sich alle Teilnehmer in Paris über den Ernst der weltwirtschaftlichen Situation im klaren. Die Erhöhung der Energiepreise, welche die inflationistischen Tendenzen und die Zahlungsbilanzdefizite der allermeisten Staaten verstärkt und Einkommenseinbußen ausgelöst hat, kann — darin stimmen die Neun überein — zur Ursache einer tiefgreifenden Rezession werden. Die Europäische Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten sind aber zusammen mit den Vereinigten Staaten von Amerika in der Lage — auch darüber waren wir uns klar —, diese Bedrohung abzuwehren, wenn wir gemeinsam eine abgestimmte und konsultierte, nicht notwendigerweise in jeder Einzelheit parallele, sondern komplementäre, im Ziel konvergierende Wirtschaftspolitik verfolgen. Unser Prinzip des Aufschwungs in Stabilität hat auch in Paris allgemeine Zustimmung gefunden. Dabei ist das Wort „Zustimmung" noch ein sehr zurückhaltender Ausdruck. Sie werden das in dem heute in Paris zu veröffentlichenden Kommuniqué fast wörtlich so wiederfinden.
Wie ich schon andeutete, muß man natürlich den unterschiedlichen wirtschaftlichen Situationen in den einzelnen Mitgliedstaaten Rechnung tragen. Die Staaten mit Zahlungsbilanzüberschüssen — wie etwa Holland und wir — müssen eine Wirtschaftspolitik zur Kräftigung ihrer internen Nachfrage und zur Sicherung eines hohen Beschäftigungsstandes führen, ohne dabei dem Preisauftrieb neue Nahrung zu geben. Die Staaten mit erheblichen Zahlungsbilanzdefiziten müssen in erster Linie ohne Rückfall in Protektionismus — eine befriedigende Beschäftigung und die Verbesserung ihrer Zahlungsbilanz anstreben. Dabei eröffnet ihnen die erstrebte Konjunkturbelebung in den Überschußländern neue Aussichten für den Export. Sie müssen sich allerdings besonders intensiv darum bemühen, dem Preisauftrieb in ihren Volkswirtschaften entgegenzutreten und seiner Herr zu werden.
Wir haben in Paris auch die Umrisse unseres Konjunkturprogramms dargelegt und, wie ich schon sagte, die Zustimmung aller Beteiligten gefunden. Die Bundesregierung wird nunmehr ihr Konjunkturprogramm in der Gewißheit beschließen, in Übereinstimmung mit ihren Partnern in Amerika und in Europa zu handeln.
Sie wird es zugleich in dem Bewußtsein beschließen, damit die Lösung der Schwierigkeiten anderer zu erleichtern. Auch die übrigen Regierungschefs haben natürlich ihre wirtschaftspolitischen Absichten erläutert. Holland und Belgien sind dabei, sich in gleicher Richtung wie die Bundesrepublik Deutsch-
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land zu bewegen, Holland bereits mit drei Wochen Vorsprung.
Ich habe bei dieser Gelegenheit natürlich über die wirtschaftspolitischen Gespräche mit Präsident Ford berichtet, ebenso über die Übereinstimmung mit ihm in der Notwendigkeit, die Investitionstätigkeit zu fördern, der Arbeitslosigkeit entgegenzutreten und Maßnahmen zu ergreifen, um das Vertrauen in die kreditpolitische und die wirtschaftliche Entwicklung zu stärken. Auf Wunsch der in Paris versammelten Regierungschefs wird Präsident Giscard d'Estaing — übrigens war dies ein Vorschlag von Premierminister Wilson — gegenüber Präsident Ford in wenigen Tagen die nunmehr gemeinsame Überzeugung der Neun zum Ausdruck bringen, daß Amerika und Europa in Abstimmung miteinander die akuten weltwirtschaftlichen Risiken bekämpfen sollten.
Ein anderes wichtiges Thema der Pariser Besprechungen war natürlich die Energiesituation. Auch hier hatten die Washingtoner Gespräche eine nützliche Vorklärung gebracht. Wir waren uns in Paris einig, daß die Gestaltung der gemeinschaftlichen Energiepolitik und die Tätigkeit der Internationalen Energieagentur in engem Zusammenhang miteinander voranschreiten sollten, und stimmten darin überein, daß der Dialog zwischen Öl-Erzeugerstaaten und -verbraucherstaaten aufgenommen werden muß. Der Erfolg dieses Dialogs muß unter anderem durch angemessene Vorbereitung innerhalb der Gemeinschaft und mit den übrigen Verbraucherländern gewährleistet werden.
Wenn in diesen Tagen der französische und der amerikanische Präsident zusammentreffen, so gehen die europäischen Regierungschefs dabei von der Erwartung aus, daß jene eine Einigung über die Grundlinien des gemeinsamen Vorgehens erzielen können, und wir haben auch ein bißchen dafür vorgearbeitet. Ich will bei dieser Gelegenheit hervorheben, daß die Pariser Atmosphäre nicht nur durch gute Kooperation unter den Neun gekennzeichnet war, sondern auch durch den Willen zu einer übereinstimmenden Behandlung aller großen Probleme gemeinsam mit den Vereinigten Staaten von Amerika — und dies ohne Ausnahme eines Landes.
Von den sonstigen Pariser Sachkomplexen will ich drittens die Regionalpolitik erwähnen. Auf Grund des ausgewogenen Fortschritts in den politischen und wirtschaftlichen Fragen, den wir in Paris erreichen konnten, haben wir uns in der Lage gesehen, der Bildung eines europäischen Regionalfonds unsere Zustimmung zu geben. Er wird für eine Versuchsphase von drei Jahren mit einem Umfang von insgesamt 1,3 Milliarden Rechnungseinheiten — einschließlich 150 Millionen Rechnungseinheiten aus dem Agrarfonds der Europäischen Gemeinschaft — errichtet; 1,3 Milliarden Rechnungseinheiten — das sind knapp 5 Milliarden DM, wenn ich es im Kopf überschlage. Für unsere Zustimmung war wesentlich, daß diese Mittel auf die Gebiete mit den größten Ungleichgewichten konzentriert werden. Die Bundesrepublik Deutschland gibt damit einen weiteren Beweis ihrer Bereitschaft zur finanziellen
Solidarität mit den übrigen Mitgliedern und mit der l Gemeinschaft selbst.
Über die weiterführenden Beschlüsse zu den politisch-institutionellen Fragen wird gewiß der Bundesminister des Auswärtigen nähere Erläuterungen geben wollen. Die Regierungschefs werden in Zukunft dreimal jährlich als Rat der Gemeinschaft und zugleich im Rahmen der politischen Zusammenarbeit Arbeitssitzungen abhalten und dabei Orientierungen für den Weg der Gemeinschaft zur Union geben. Die Außenminister haben einen zusätzlichen Koordinierungsauftrag für die vielfältigen europäischen Tätigkeiten, zumal die Ratstätigkeiten, erhalten.
Das Europäische Parlament sieht sich dem vertraglich festgelegten, aber seit Jahren verzögerten Ziel allgemeiner und unmittelbarer Wahlen nähergerückt.
Zur Vorbereitung der Gesamtkonzeption einer Europäischen Union hat der belgische Premierminister Tindemans einen einstimmigen Auftrag der Regierungschefs erhalten.
Vor allem aber muß ich zwei andere Namen nennen, meine Damen und Herren. Präsident Giscard d'Estaing gebührt Dank und Würdigung dafür, daß er die Weichen für die Ergebnisse dieses Treffens gut gestellt und daß er die Beratungen fair und konstruktiv geleitet hat.
Ebenso möchte ich die kooperative Haltung des britischen Premierministers Wilson, unterstützt von seinem Außenminister Callaghan, unterstreichen.
Herr Wilson hat sich unbeschadet der in Großbritannien noch unentschiedenen prinzipiellen Frage — mit einer Ausnahme — an allen Beschlüssen beteiligt. Er hat unmißverständlich erklärt, daß England die von ihm sogenannte renegotiation nicht mit dem Ziel von Vertragsänderungen, sondern vielmehr innerhalb des geltenden Textes der Verträge führt — eine, wie mir scheint, sehr wichtige Klarstellung. Die übrigen Regierungschefs haben sich dann im Gegenzuge bereit erklärt, das Problem der finanziellen Belastung Großbritanniens an Hand von objektiven Kriterien einer befriedigenden Lösung zuzuführen. Ich halte beides zusammen für einen wichtigen Schritt nach vorn und glaube, nicht zu übertreiben, wenn ich auch im Hinblick auf die vorangegangenen langen Beratungen in Chequers einen Teil des Verdienstes daran für die Bundesregierung in Anspruch nehme.
Ich darf am Schluß sagen: Das Europa der pragmatischen Lösungen aktueller Probleme ist nicht ein anderes Europa als dasjenige, das sämtliche Parteien dieses Parlaments seit Jahrzehnten anstreben. Dieses Europa, das zu verwirklichen wir in Paris einige Schritte voran gemacht haben, bedarf allerdings des gleichen Engagements, der gleichen hartnäckigen Suche nach gemeinsamen Lösungen, es ist der gleichen Unterstützung in der Öffentlichkeit wert
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wie viele idealistischen Bemühungen, die sich im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte in feierlichen Erklärungen oder feierlichen Reden niedergeschlagen haben.
Das ist eine mühevolle Arbeit, und sie ist nicht immer von Glanz begleitet. Dabei kann es vorkommen, daß — wie vorgestern eine Pariser Zeitung — jemand meint, wir stünden vor einem „Europa der Händler", für das die Jugend dieses Kontinents nur Spott übrig habe, vor einem Europa, „über das sich nur die Nationalisten freuen" könnten. Ich halte so etwas für modischen Pessimismus, wie es ja auch viele Jahre lang modischen Optimismus über Europa gegeben hat.
Die Menschen, die heute in Europa leben, zieht es nicht nach new frontiers oder nach neuen Horizonten, sondern sie wollen, daß ihre Regierungen und Parlamente die wirtschaftlichen und sozialen Errungenschaften der Gemeinschaft vor den Gefahren einer mit Händen zu greifenden Rezession bewahren; sie wollen ein Europa, das Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, wieder in Lohn und Brot bringt. Diese Aufgabe ist nicht nur mit Reden oder Kathederreden zu meistern, sondern es bedarf dazu Kärrnerarbeit. Dies ist in Wahrheit eine der großen Herausforderungen, vielleicht die größte Herausforderung, der sich in ihrer bisherigen Geschichte die Europäische Gemeinschaft gegenübergestellt sah.
Hier erst, in dieser ernsten Lage der Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten, muß sich europäischer Idealismus bewähren. Hier scheiden sich dann die Geister, nämlich die Schwarmgeister, von den Europäern der ökonomischen Vernunft und der Realität.
Man braucht dabei auch nicht am Sonntag einen europäischen Schönheitswettbewerb, sondern was wir brauchen, ist eine konkrete, sehr unsentimentale Anstrengung aller, um die politischen und wirtschaftlichen Interessen und Entwicklungen der einzelnen Staaten nicht auseinanderlaufen zu lassen.
Bundeskanzler Willy Brandt hat am 3. März 1970 in London gesagt, wir sollten eine Form der politischen Zusammenarbeit zu entwickeln suchen, die Substanz hat, die weniger sein wird als eine übernationale Lösung, aber sehr viel mehr als die übliche konventionelle Form der Beziehungen zwischen Regierungen. Er hat dann wenig später von zwei sich parallel vollziehenden Prozessen gesprochen; der eine beziehe sich auf die wirtschaftliche Integration, der andere beziehe sich auf die Entwicklung einer engen und festen politischen Zusammenarbeit. Heute besteht die Chance, die beiden Prozesse etwas mehr zur Deckung zu bringen. Aber es sollte dabei niemand übersehen, daß wir in Europa jetzt eine Durststrecke durchmessen. Wir bleiben dabei engagierte
Europäer. Aber wir sind keine Kurzstreckenläufer: wir lassen das Ziel dabei nicht aus dem Auge.
Genauso wie in der Ostpolitik folgt auch in Europa nach einer Periode, in der die sozialliberale Koalition große Weichenstellungen herbeigeführt und mit herbeigeführt hat, nun eine Periode, in der wir Schritt für Schritt durch eine Vielzahl von Entschlüssen und komplizierten Verabredungen politische und ökonomische Substanz zusammentragen müssen, damit diese Gemeinschaft leben kann. Um diese Aufgabe zu bewältigen, bedarf es nicht etwa weniger, sondern eher mehr Idealismus. Es ist allerdings nicht notwendig, ihn täglich zur Schau zu tragen. Aber es muß ein durch den Sinn für die sehr harte Wirklichkeit geläuterter Idealismus sein.
In diesem Sinne, meine Damen und Herren, war das Treffen in Paris erfolgreich, genauso wie unsere innerdeutsche Politik und unsere Abstimmung mit unserem wichtigsten Verbündeten, den Vereinigten Staaten von Amerika.