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  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag 112. Sitzung zugleich 408. Sitzung des Bundesrates Bonn, Montag, den 1. Juli 1974 Inhalt: Ansprache der Präsidentin des Deutschen Bundestages 7619 A Ansprache von D. Dr. Dr. Gustav W. Heinemann, Bundespräsident vom 1. Juli 1969 bis 30. Juni 1974 7621 D Eidesleistung des Bundespräsidenten 7623 D Ansprache des Bundespräsidenten Walter Scheel 7623 D Ansprache des Präsidenten des Bundesrates 7627 A Anlage: Liste der entschuldigten Abgeordneten 7629* Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 112. Sitzung. Bonn, Montag, den 1. Juli 1974 7619 112. Sitzung zugleich 408. Sitzung des Bundesrates Bonn, den 1. Juli 1974 Stenographischer Bericht Beginn: 10.03 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Alber ** 4. 7. Dr. Artzinger * 4. 7. Behrendt 5. 7. Frau Benedix 2. 7. Dr. Dr. h. c. Birrenbach 5. 7. Dr. Blüm 5. 7. Büchner (Speyer) ** 3. 7. Dr. Burgbacher * 1. 7. Dr. Corterier * 5. 7. Entrup 5. 7. Flämig * 5. 7. Dr. Freiwald 5. 7. Gewandt 2. 7. Dr. Gradl 2. 7. Grüner 1. 7. Dr. Haenschke 5. 7. Herold 5. 7. Frau Hürland 2. 7. Jäger (Wangen) 5. 7. Dr. Jahn (Braunschweig) * 3. 7. Kahn-Ackermann ** 4. 7. Kater * 4. 7. * Für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments ** Für die Teilnahme an Sitzungen der Beratenden Versammlung des Europarates Abgeordnete (r) entschuldigt bis einschließlich Katzer 2. 7. Dr. Kempfler ** 4. 7. Kiep 2. 7. Kleinert 2. 7. Dr. Kliesing ** 4. 7. Lagershausen ** 4. 7. Lautenschlager * 5. 7. Lemmrich** 4. 7. Dr. Lohmar 5. 7. Lücker * 4. 7. Memmel * 5. 7. Müller (Mülheim) * 7. 7. Dr. Müller (München) ** 4. 7. Frau Dr. Orth * 5. 7. Rainer 1. 7. Richter ** 4. 7. Ronneburger 5. 7. Schedl 1. 7. Schmidt (München) * 5. 7. Schmidt (Wattenscheid) 5. 7. Schmidt (Würgendorf) 5. 7. Sieglerschmidt ** 3. 7. Springorum * 2. 7. Dr. Starke (Franken) 1. 7. Dr. Vohrer ** 4. 7. Walkhoff * 2. 7. Frau Dr. Walz * 2. 7. Dr. Wendig 2. 7. Wienand 5. 7. Wilhelm 15. 7. von Wrangel 2. 7.
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    Rede von Dr. Annemarie Renger


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Meine Damen und Herren, ich stelle fest, daß der Herr Bundespräsident Walter Scheel den vorgeschriebenen Amtseid geleistet hat.
    Herr Bundespräsident, im Namen der hier versammelten Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates spreche ich Ihnen die herzlichsten Glückwünsche für Ihr hohes Amt aus.
    Herr Bundespräsident, ich darf Sie nunmehr bitten, das Wort zu ergreifen.
    Walter Scheel: Bundespräsident: Frau Präsident! Herr Bundesratspräsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Eid, den ich soeben abgelegt habe, ist mir ernste Verpflichtung. Mit Ehrfurcht vor der Aufgabe und mit Liebe zu unserem Land will ich das Amt des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland ausfüllen.
    Ihr freundliches Willkommen, Frau Präsident, zugleich im Namen meiner Kollegen — ich muß wohl



    Bundespräsident Walter Scheel
    sagen: meiner ehemaligen Kollegen — des Deutschen Bundestages, ermutigt mich.
    Ich wäre nicht aufrichtig, wollte ich in dieser Stunde verschweigen, daß mir der Abschied aus diesem Hause schwerfällt. 21 Jahre hatte ich die Ehre, mitten unter Ihnen die Interessen meiner Wähler, die Interessen unseres Volkes zu vertreten. Hier habe ich mein politisches Rüstzeug erhalten. Der Bundespräsident der nächsten fünf Jahre ist ein Parlamentarier mit Leib und Seele.
    Aber diese Jahrzehnte der Zusammenarbeit mit Ihnen haben auch viele menschliche Bindungen über die Parteigrenzen hinweg wachsen lassen. Die verehrten Kollegen mögen mir verzeihen, wenn ich hier nur einen Namen nenne. Ich meine den Mann, dessen Stellvertreter im Amt des Bundeskanzlers ich in den letzten viereinhalb Jahren gewesen bin; ich meine Willy Brandt.
    Fünf Jahre Regierungszusammenarbeit mit der CDU/CSU, viereinhalb Jahre in Koalition mit der SPD und — nicht zu vergessen — fünfeinhalb Jahre Vorsitzender der FDP: das wird die parteipolitische Neutralität des Bundespräsidenten zu dem werden lassen, was sie sein soll: eine Bindung, die nicht Ferne, sondern Nähe zu allen schafft.
    Sie, verehrter Herr Heinemann, haben uns in den vergangenen fünf Jahren immer wieder aufgefordert, ein natürliches, entspanntes Verhältnis zum Staat und zu seinen Institutionen zu finden. Noch vor wenigen Tagen, am 25. Jahrestag des Grundgesetzes, haben Sie uns bleibende Wertungen
    und Mahnungen auf den Weg gegeben. Wir alle sind Ihnen dankbar dafür. Der Dank für Ihr Werk schließt die bedeutende Leistung Ihrer Gattin mit ein. Auf dem, was Sie, Herr Heinemann, und die ersten beiden Bundespräsidenten, Theodor Heuss und Heinrich Lübke, an ausgewogenem Staatsbewußtsein in diesem Lande geschaffen und gefördert haben, kann ich weiterbauen.
    Nichts charakterisiert die Entwicklung der letzten Jahre augenfälliger als das Verhalten der jungen Menschen diesem Staat gegenüber. Am Ende der sechziger Jahre demonstrierten viele — und nicht nur Studenten — gegen den Staat. Heute gehen viele auf die Straße, um den 25. Jahrestag des Grundgesetzes zu feiern.
    Wir alle brauchen diesen Staat. Groß sind die Leistungen der letzten 25 Jahre; noch größer sind die Probleme, die vor uns liegen. Eine neue Generation ist herangewachsen. Sie geht in ihren Erwartungen von dem aus, was heute ihre Lebenswirklichkeit ist. Sie hat nicht in die Abgründe der deutschen Geschichte geschaut, und vielen sagen ihre Höhepunkte nichts.
    Wir leben in einem Gemeinwesen, das selbst in vielerlei Hinsicht ein solcher Höhepunkt ist. Sozialer Ausgleich und sozialer Friede sind Wirklichkeit. Wissenschaft und Kunst können sich mit den Leistungen anderer Völker messen. Die großen Freiheiten der Meinungsäußerung, der politischen Betätigung, der individuellen Entfaltung sind unbestritten. Die Einsicht in den Zusammenhang von Freiheit,
    innerem Frieden und wirtschaftlichem Wohlstand ist weit verbreitet. Millionen Deutsche kennen heute Lebenschancen, von denen ihre Eltern nur träumen konnten.
    Und dennoch: Wenn wir uns bei uns und in der Welt umsehen, entdecken wir Probleme von neuen, nie gekannten Dimensionen. Die technisch-wirtschaftliche Entwicklung hat uns an die Grenzen des Möglichen geführt und die Grenze des Vernünftigen an manchen Stellen bereits überschritten. Immer schwerwiegender wird die Gefährdung des Ganzen durch einseitige Expansion einzelner Zweige. Wirtschaftlicher Wohlstand kann in Raubbau umschlagen, der die Lebensgrundlage kommender Generationen gefährdet. Wir dürfen an einer solchen Entwicklung nicht mitschuldig werden.
    Die weltwirtschaftliche Lage hat sich im letzten Jahr in erdbebenartigen Schockwellen nachhaltig verändert. Die abrupten Verschiebungen in den ohnedies gestörten Zahlungsbilanzen und die daraus resultierenden Gefahren für die internationale Handels- und Währungsordnung sind dabei nur die eine Seite der Medaille; die andere Seite ist die mit dieser globalen Umverteilung von Einkommen veränderte weltpolitische Konstellation. Wir sehen, daß es jetzt innerhalb der Entwicklungsländer eine neue Gruppe der plötzlich reichen Erdöl- und Rohstoffländer gibt, und wir müssen erkennen, daß immer mehr Länder — reich geworden oder arm geblieben — einen grundlegenden Wandel der weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Ordnung anstreben. Weltwirtschaft und Weltpolitik bleiben nicht ohne Folge für Europa und für die Bundesrepublik in Europa. Einem Land, das der Leistung seiner Bürger, aber auch der Gunst mancher Umstände, eine vergleichsweise starke und widerstandsfähige Volkswirtschaft verdankt, kommt in der neuen Lage in der Welt eine besondere Verantwortung zu.
    Wenn es uns bei den wirtschaftlichen Problemen von morgen mit all ihren weltweiten Abhängigkeiten nicht gelingt, die wirtschaftspolitische Diskussion über die Anwendung der geeigneten Mittel in diesem Lande zu versachlichen, werden wir die schweren Zeiten, denen wir entgegengehen, sicherlich nicht bewältigen.
    Im Zentrum der wirtschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen in unserem Lande steht der Ruf nach Stabilität. Das ist gut und richtig so. Innerer Friede und sozialer Fortschritt können auf Dauer nur auf der Grundlage einer stabilen Währung gedeihen. Stabilität ist aber mehr als Preisstabilität. Eine Volkswirtschaft kann auch bei geringen Preissteigerungen unausgeglichen sein. Wir müssen die Ausgewogenheit aller wirtschaftlichen Daten im Auge behalten — nicht zuletzt unser Verhältnis zu unseren Partnern auf den Weltmärkten. Maßgebend für die innere und äußere Stärke eines Staates ist letztlich seine wirtschaftliche und politische Stabilität. Beide sind untrennbar miteinander verbunden.
    Es gibt neue Aufgaben. Die Menschen suchen ein neues Gleichgewicht. Dabei blicken sie auf den Staat. Er soll all das garantieren, was wir heute besitzen; er soll all das von uns fernhalten, was unser



    Bundespräsident Walter Scheel
    Wohlbefinden beeinträchtigen könnte. Den Staat, der dies zu leisten vemöchte, gibt es nicht. Aber wir haben schon einmal, gleich nach dem Kriege, vor Bergen von Schwierigkeiten gestanden. Auch wenn die neuen Fragen in mancher Hinsicht anders sind, ist es nützlich, sich darauf zu besinnen, wie wir damals damit fertig geworden sind. Den geistigen und moralischen Kräften, die unser Volk aus dem Chaos geführt haben, dürfen wir auch heute vertrauen.
    Ich denke vor allem an zwei Dinge: Als der deutsche Arbeiter, statt am schwarzen Markt zu handeln, für wertloses Geld seinen Betrieb wiederaufgebaut hat, als der deutsche Unternehmer jede verdiente Mark in seinen Betrieb steckte und sich selbst mit einem bescheidenen Lebensstandard begnügte, sind sozialer Friede und soziale Partnerschaft bei uns begründet worden. Auch von daher rührt der moralische Anspruch der Arbeitnehmer auf ein Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrecht. Ein Recht, wie es alle im Bundestag vertretenen Parteien in der einen oder anderen Form gesetzlich verankern wollen.
    Diese aus der Erfahrung gewachsene Bereitschaft der Sozialpartner zur Zusammenarbeit ist unser wichtigstes Kapital, um die Zukunft zu meistern. Ich setze mein volles Vertrauen in die Vernunft der deutschen Arbeiter und Unternehmer und in die Bereitschaft aller Menschen unseres Landes, den neuen Problemen unserer Zeit mit derselben Solidarität zu begegnen, die uns geholfen hat, bei aller Gegensätzlichkeit Gemeinsames zu schaffen.
    Es gibt aber noch eine zweite Kraft und Erfahrung. In der Bundesrepublik hat die parlamentarische Demokratie zum erstenmal in der deutschen Geschichte die Probe bestanden. Ich glaube an die Weisheit und Wirksamkeit der freiheitlichen Institutionen und demokratischen Spielregeln. Man muß sie nur beachten. Durch sie werden wir auch in Zukunft den richtigen Weg finden. Das setzt allerdings voraus, daß wir in der Ordnung unserer sozialen und wirtschaftlichen Dinge den Grundsatz beherzigen, der zusammen mit der Solidarität der Menschen uns vorwärts gebracht hat: Wir wollen den einzelnen Menschen ermutigen, seine Möglichkeiten selbst zu suchen, seine Möglichkeiten selbst zu entfalten und sie einzubringen in das Ganze des Gemeinsamen. Nur die persönliche Freiheit vermag die schöpferischen Kräfte freizusetzen, die wir in den vor uns liegenden Jahren so sehr benötigen. Es kommt auf den einzelnen an, auf seine Initiative, seine Mitwirkung, seine Entfaltung.
    Unsere demokratische Ordnung ist kein totes Organisationsprinzip mechanischer Kräfte. Sie regelt einen lebendigen Organismus, in dem Spannungen und Konflikte entstehen und ausgetragen werden. Der Grad der Menschlickkeit in solchen Auseinandersetzungen wird durch die Toleranz bestimmt, mit der wir dem anderen und dem anders Denkenden begegnen.
    Die Kirchen haben sich beim Aufbau unserer Gesellschaft nach dem Kriege als wirkende Kraft bewährt. Sie haben durch ihr Verhältnis zueinander das Bewußtsein für den Wert der Toleranz gestärkt.
    Einer solchen Ordnung der Toleranz, des Verständnisses und des Ausgleichs haben die Väter des Grundgesetzes den staatlichen Rahmen gegeben. Nur eine solche Ordnung ermöglicht Gerechtigkeit und auch Freiheit unter den Menschen. Denn Freiheit muß auch für den Schwachen gewährleistet sein. Wer eine freiheitliche Demokratie will, muß d e n Staat wollen, in dem sie sich allein verwirklicht.
    Wir verstehen uns zu Recht als ein pluralistisches Staatswesen. Parteien, Gewerkschaften, Verbände, Organisationen und Gruppen bringen dem Staat gegenüber ihre Interessen zur Geltung. Das ist gut so. Darin darf sich der Pluralismus aber nicht erschöpfen. Die Würdigung der allgemeinen Zusammenhänge und die Suche nach übergeordneten Lösungen, die dem Gesamtinteresse dienen, müssen die Vertretung der Partikularinteressen bestimmen. Wer diesen Grundsatz mißachtet, richtet den freiheitlichen Staat mit seiner inneren Vielfalt zugrunde. Verzichten wir also in der Wirtschaft wie in der Politik auf demagogische Bekundungen! Gehen wir mit Solidarität und in Freiheit an die Lösung der Probleme!
    Aus dem allen ergibt sich für uns die große Lehre: Miteinander, nicht gegeneinander! Und: Der freie Wille des Einzelnen ist entscheidend. Also: Solidarität und Freiheit. Ich vertraue auf die Einsicht der Verantwortlichen in diesem Lande. Was ich als Bundespräsident dazu beitragen kann, durch Gespräch und Begegnung mehr staatsbürgerliche Gemeinsamkeit wachsen zu lassen und die Entfaltung des Einzelnen zu fördern, das soll geschehen.
    Es war immer die Verbindung von Bürgerfleiß und schöpferischer Leistung, die unser Land ausgezeichnet hat. Auch heute leistet die Bundesrepublik Deutschland einen stolzen Beitrag zur kulturellen Entwicklung Europas und der Welt. Die Vertreter der Wissenschaften und der Künste haben einen Anspruch auf Mitsprache. Lassen wir es nicht zu, daß manche deutsche Leistung im Ausland besser bekannt ist als bei uns!
    Die Partnerschaft von Kapital und Arbeit und der Pluralismus im geistigen Leben sind zwei Säulen unserer ausgeglichenen Gesellschaft. Das Zusammenwirken von Bund und Ländern ist die dritte.
    Kurzfristige Interessen sollten uns nicht den Blick verbauen für die historische Leistung des föderalistischen Gedankens in Deutschland. 1945 haben wir in den Gemeinden nicht gewartet und nicht warten können, bis eine Zentralregierung das Zeichen zum Wiederaufbau gab. Lebensmut und Lebensfähigkeit der kleineren Gebietseinheiten waren unzerstört. So haben wir uns da, wo wir standen, an die Arbeit gemacht. Das war angewandter Föderalismus, und nur als Bundesstaat konnte unser Vaterland sich neu erheben.
    Aber auch heute, da die angestammte und festgewurzelte Eigenständigkeit der lokalen menschlichen Gemeinschaften immer mehr von den ausgreifenden Organisationsformen und den globalen Interessen von Wirtschaft und Technik verdrängt wird, bleiben Gemeinde, Kreise und Länder unersetzliche Entscheidungszentren und Zwischenglieder, die das



    Bundespräsident Walter Scheel
    Ganze erst lebendig werden lassen. Der demokratische Wille zur Selbstbehauptung in alten, gewachsenen Ordnungen darf im Bestreben nach durchaus erwünschter Rationalisierung nicht durch unnötige Übertreibungen untergraben werden.
    Ich bekenne mich zum ausgewogenen Föderalismus. Er läßt sich nicht für eigensüchtige Zwecke mißbrauchen. Eigenständiges und aktives Glied zu sein für das große Ganze, das ist der tiefste Sinn des Föderalismus. Mehr denn je gilt für das Verhältnis von Bund und Ländern: Miteinander, nicht gegeneinander!
    Wir Deutschen hatten es immer ein wenig schwer, zur äußeren Umwelt das rechte Verhältnis zu finden. Weltbürgertum und Verbrüderung sind immer wieder von Mißtrauen und Abkapselung abgelöst worden.
    Ein ausgewogenes Verhältnis zur Umwelt wird noch schwieriger, wenn staatliche Macht und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit auseinanderklaffen. Während wir handelspolitisch in weltweiten Maßstäben denken, gibt es in unserer Politik die Gefahr provinzieller Genügsamkeit. Wenn wir nur noch das für wichtig halten, was bei uns geschieht, werden wir bald für niemanden mehr wichtig sein.
    Der Patriot dieses Jahrhunderts, in dem Millionen auf der Suche nach neuen Vaterländern zu Weltbürgern wurden, ist nicht der Gegenpart des Weltbürgers. Im Gegenteil, Patriotismus, der aus der Toleranz wächst, und Weltbürgertum schließen einander nicht aus — sie bedingen sich.
    Es gilt, unsere Aufmerksamkeit und unser Gewissen zu schärfen für das, was in der Welt geschieht. Hunger, Krankheit und Armut sind weiter verbreitet denn je. Ich meine, das gesunde Eigeninteresse müßte uns vor dem Versuch bewahren, eine Insel von Privilegierten zu sein in einem Meer von Armut. Solidarität endet nicht an Staatsgrenzen.
    Die Teilung Deutschlands hat dies alles nicht einfacher gemacht. Der Bundespräsident ist ein Staatsoberhaupt in Deutschland. Über das „Provisorium" ist viel Falsches gedacht und gesagt worden. Ein Vierteljahrhundert hat manches geklärt.
    Aber eines ist nicht provisorisch: Die politischen Kräfte in diesem Lande werden auch in Zukunft nicht darauf verzichten, einen Zustand des Friedens in Europa anzustreben, in dem das deutsche Volk auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes seine Einheit wiedererlangt.

    (Beifall.)

    Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, brauchen wir die Bundesrepublik Deutschland als Staat im vollen Sinne des Wortes. Wenn auch die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes in historischen Dimensionen gedacht werden muß, so brauchen wir dafür doch ein auf Dauer angelegtes Instrument. Dies ist unser Staat, die Bundesrepublik Deutschland.
    In wenigen Tagen werde ich Berlin besuchen. Ich tue dies nicht im Geiste einer Demonstration. Ich weiß, daß das Viermächte-Berlin-Abkommen eine
    Lage geschaffen hat, die uns einerseits praktische Erleichterungen bringt, andererseits aber den Zustand der Teilung noch deutlicher macht. Wenn der Bundespräsident Berlin besucht, so tut er es, um jene Bindungen zu entwickeln, von denen das Abkommen spricht.
    Alle diese Gedanken und Ziele würden im Winde verwehen, wenn es nicht gelänge, unsere Jugend dafür zu gewinnen. Es bleibt eine Schicksalsfrage, ob sich die Jugend die Erfahrung der Älteren zunutze macht. Wenn die Aufbauarbeit eines Vierteljahrhunderts, wenn die Politik dieses Landes einen bleibenden Sinn haben soll, dann kann es nur der sein, unseren Kindern die Irrtümer und Fehler, die wir Älteren gemacht, erlebt und erlitten haben, zu ersparen. Denn wer aus der Geschichte nicht lernen will, muß sie wiederholen.
    So laßt uns denn gemeinsam diese entscheidende Aufgabe anpacken. Laßt uns immer und immer wieder fragen, ob wir bei alldem, was wir tun, an die Zukunft unserer Jugend denken. Laßt uns die Mauern des Mißverständnisses und der Vorurteile niederreißen. Wenn es uns nicht gelingt, die Verantwortung rechtzeitig auf die junge Generation zu übertragen, dann war alle Arbeit umsonst.
    Aber auch die Jugend hat ihren eigenen und besonderen Beitrag zur Lösung der gemeinsamen Aufgaben zu leisten. Ich sehe diesen vor allem darin, daß die jungen Menschen ihren Sinn für die moralische Qualität des politischen Handelns zum Maßstab des Urteils machen. In der Tat besteht ja ein Staatswesen nicht um seiner selbst oder um einer abstrakten Leistungsfähigkeit willen, sondern um den Menschen ein reicheres, befriedigendes Leben zu ermöglichen. Das kann der Staat nur tun, wenn seine Träger an sich und ihr Handeln die höchsten Maßstäbe anlegen. Wohl dem Gemeinwesen, dem es gelingt, die Erfahrungen der Älteren zu verbinden mit dem Sinn der Jüngeren für Recht und Unrecht.
    Die Vereidigung eines neuen Bundespräsidenten ist nur ein Pulsschlag im Leben unseres Volkes. Wir wissen nicht, was die Zukunft für uns bereithält. Aber wir wissen, was uns Kraft gibt: die Lehren aus unserer Geschichte, das Bild unserer Zukunft und die ungebrochene Schaffenskraft unseres Volkes.
    Unser Weg führt uns zu einem Deutschland, das seinen Platz in der Welt als Teil Europas einnimmt. Ein vereintes Europa wird der Welt ein Beispiel geben: Ein Beispiel des friedlichen Zusammenwirkens der Völker, ein Beispiel der Solidarität und Gerechtigkeit, ein Beispiel der Freiheit, ja auch ein Beispiel der Macht ohne Anmaßung.
    So verstehe ich auch die Worte des Amtseides, den ich vor Ihnen geleistet habe. Das Wohl des deutschen Volkes, seinen Nutzen zu mehren, Schaden von ihm abzuwenden — das ist nicht wenig! Meine Kraft ist gering, wenn nicht die Hilfe der Bürger hinzukommt.
    Das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes werden uns den rechten Weg weisen. Laßt uns alle



    Bundespräsident Walter Scheel
    unsere Pflichten erfüllen und gegen jedermann Gerechtigkeit üben.
    Damit unser Volk ohne Furcht in die Zukunft blicken kann, möge uns allen Gott helfen.

    (Anhaltender lebhafter Beifall.)



Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Ich danke Ihnen, Herr Bundespräsident. Ich erteile nunmehr dem Herrn Präsidenten des Bundesrates das Wort.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: ()
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Herr Bundespräsident! Verehrter Herr Dr. Heinemann! Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Der Mann, der das höchste Amt in diesem Staat fünf Jahre hindurch innehatte, ist wieder Bürger 'wie jeder andere in dieser Republik. Er 'hat dem Wohle des deutschen Volkes seine Kraft gewidmet, wie er geschworen hatte.
    Gustav Heinemann gebührt Dank. Ihm gebührt die nachdrückliche Anerkennung aller, die zu diesem Staat und zu seiner Verfassung stehen. Diesen Dank und diese Anerkennung hier auszusprechen, ist dem Präsidenten des Bundesrates vornehmste Pflicht.
    Dem neuen Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland ziemt unsere Reverenz. Sie, Herr Präsident Scheel, haben ein verantwortungsvolles Amt übernommen. In dieser Stunde Ihrer Vereidigung versichern Sie alle Demokraten in diesem Lande ihrer Unterstützung und ihrer Solidarität.
    Wir haben vorhin vieles über die Bedeutung und die Aufgaben des höchsten Amtes in unserem Staate gehört. Lassen Sie mich einen Aspekt nochmals hervorheben, der mir besonders wichtig erscheint.
    Das Grundgesetz hat in bewußter Abkehr von der Weimarer Reichsverfassung das Amt des Bundespräsidenten von der Ausübung der politischen Macht getrennt. Es hat ihm nicht jene außergewöhnlichen Vollmachten gegeben, welche den vom Volk gewählten Reichspräsidenten nahezu zwangsläufig in das Kräftespiel der politischen Gruppierungen hineingezogen haben. Der Bundespräsident steht über den Gewalten im Staat. Er kann deshalb — über parteipolitische und sonst trennende Gegensätze hinweg — als unabhängige Instanz inmitten der politischen Strömungen Brücken schlagen und ausgleichend wirken, aber auch Impulse geben und manche Dinge anstoßen. Es war ein Glück für uns alle, daß Sie, verehrter Herr Dr. Heinemann, diese integrierende Mittlerrolle des Präsidentenamtes — wie Ihre Vorgänger — bejaht und während Ihrer Amtszeit mit Leben 'erfüllt haben.
    Die verbindende Kraft und persönliche Autorität des Staatsoberhauptes ist für das Gedeihen des Staates vor allem dort unentbehrlich, wo es um den Abbau der Polarisierung im politischen Raum geht. Unsere freiheitliche Demokratie lebt aus der Solidarität und von der Toleranz der Demokraten. Zum erstenmal in der Geschichte der deutschen Demokratie haben wir erreicht, daß 97 % der Bürger in Wahlen für demokratische Parteien stimmen. Keine
    der großen Gruppen unseres Volkes steht diesem Staat teilnahmslos oder gar ablehnend gegenüber. Diese positive Entwicklung darf nicht durch eine Verschärfung der politischen Auseinandersetzung aufs Spiel igesetzt werden. An dieser Forderung müssen wir uns alle messen lassen. Eine weitere gegenseitige Entfremdung der politischen Kräfte würde gemeinsame politische Aktionen noch mehr erschweren.
    Es ist ein Merkmal unserer Industriegesellschaft, daß der einzelne immer stärker hinter Organisationen und Verbänden zurücktritt. Die gesellschaftlichen Gruppierungen haben in der Tat eine wichtige und gestaltende Aufgabe. Sie sind in einer immer komplizierter werdenden Welt Sprachrohr und Anwalt unzähliger Bürger, die auf sich allein gestellt ihre persönlichen Anliegen und ihre legitimen Bedürfnisse weniger deutlich in das politische Geschehen einbringen können.
    Die Kehrseite dieser Entwicklung ist freilich nicht zu übersehen. Die organisierten Interessen gewinnen mehr und mehr an Einfluß und Macht. Sie sind aber von der Verfassung her nicht auf das Gemeinwohl aller Bürger verpflichtet. Die Verantwortung für die Gesamtheit trägt allein der Staat, und niemand kann ihn hieraus entlassen. Um die persönliche Freiheit zu sichern, brauchen wir daher heute mehr denn je einen kraftvollen demokratischen Staat. Er muß die verschiedenartigen Interessen und Bedürfnisse zusammenfassen und den notwendigen Ausgleich herbeiführen. Nur der Staat gibt den ordnenden Rahmen und garantiert die unerläßlichen Spielregeln für unser Zusammenleben.
    Diesen Staat mit seiner freiheitlichen Rechtsordnung gilt es daher zu schützen und zu stärken, nicht allein in Parlamentsreden und Feierstunden, sondern dort, wo seine Grundordnung angegriffen wird. Hier darf es keine Halbherzigkeit, hier darf es nur die geschlossene Solidarität aller Demokraten geben. Ohne die lebendige Kraft des Staates und ohne ein entsprechendes demokratisches Staatsgefühl der Bürger gibt es keine Freiheit und keinen wirklichen Fortschritt.
    Sie, verehrter Herr Dr. Heinemann, haben die Gesamtheit der Interessen, das Ganze des Gemeinwesens in hervorragender Weise repräsentiert. Sie haben den Kontakt und den Meinungsaustausch mit allen unseren Mitbürgern, zumal mit der Jugend, gesucht und gefunden. Es ist Ihnen in der Tat gelungen, den Staat den Bürgern näher zu bringen. Das Vertrauen, das Sie während Ihrer Präsidentschaft erworben haben, kommt uns allen zugute. Denn ein Gemeinwesen kann nur Leben entfalten und zu sich selber finden, wenn es vom Vertrauen seiner Bürger getragen wird. Erst aus dem Vertrauen erwachsen Gemeinschaftssinn und Frieden nach innen.
    Ich bin überzeugt, daß auch der föderative Aufbau unseres Staates den gegenseitigen Konsens der Bürger und ihren Gemeinschaftssinn stärkt. Das bundesstaatliche System — das können wir wohl mit Fug und Recht sagen — hat sich insgesamt bewährt. Wir begreifen ja Föderalismus nicht negativ als partikulare Zersplitterung, sondern positiv als eine Ord-



    Präsident Dr. Filbinger
    nung, welche die regionalen Kräfte mobilisiert, das Engagement der Bürger stärkt und das politische Handeln lebensnah gestaltet. Gerade in unserer Zeit, in der die Abhängigkeit des einzelnen im Geflecht sozialer und wirtschaftlicher Zwänge ständig zunimmt, wird der demokratische Wert einer bundesstaatlichen Verfassungsordnung spürbar. Es nimmt uns deshalb nicht wunder, daß die Anziehungskraft des föderativen Systems mehr und mehr wächst, wie uns ja der Blick auf manche unserer Nachbarstaaten zeigt. So sehe ich auch in den unterschiedlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat kein Unheil, sondern einen Normalfall in einem Bundesstaat, eine Situation, der sich die demokratischen Kräfte verantwortungsbewußt stellen müssen.
    Der Bundesrat hat sich in der Vergangenheit als verantwortungsvolles Gesetzgebungsorgan erwiesen. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eines erwähnen: Seit 1969 und bis auf den heutigen Tag ist noch kein einziges Bundesgesetz am Bundesrat gescheitert, und zwar nicht zuletzt dank der Arbeit des Vermittlungsausschusses. Ich würde es daher sehr begrüßen, wenn auch der neue Bundespräsident — gewählt aus Bund u n d Ländern — seine ausgleichende Vermittlerrolle darauf richtet, Verständnis für Arbeit und Funktion des Bundesrates zu wecken.
    Meine Damen und Herren, wir können heute in Teilen unserer Gesellschaft eine große Ungeduld feststellen. Verbesserungen und Veränderungen sollen möglichst sofort und möglichst weitgehend herbeigeführt werden. Nicht selten gerät in Vergessenheit, daß nur Ausdauer und zähe, oft mühevolle Arbeit zum Erfolg führen. Viele sehen im übrigen nicht, daß die Mittel immer begrenzter werden.
    So ist auch der Blick auf das, was wir in 25 Jahren Aufbauarbeit erreicht haben, durch den Nebel einer Inflation der Wünsche verdunkelt worden. Das Wort Reform ist dabei in Mißkredit geraten. Eine Rückbesinnung auf das politisch und wirtschaftlich Mögliche tut Not. Dabei dürfen wir freilich nicht stehenbleiben. Es wäre gefährlich, in eine Reformmüdigkeit zu verfallen, auf die Diskussion von Grundsätzen und Leitbildern zu verzichten. Ohne den freien Wettstreit der überzeugenden Ziele und Programme würden wir bald einen Stau vorfinden, der gewaltsam nach Entladung drängt. Wir brauchen Reformen, wir wollen Reformen.
    Nur müssen wir uns darüber klar sein, daß Reform nicht heißen kann: Ablehnung alles Gegebenen. Es ist das große Verdienst der modernen Naturwissenschaften, namentlich der Verhaltensforschung, uns die Augen für den Wert und die Notwendigkeit von Erfahrung und Tradition wieder geöffnet zu haben. Es geht um die Prüfung, welche Elemente
    einer vorgefundenen Ordnung bewahrt und welche als überholt oder hinderlich umgeformt oder aufgegeben werden müssen. Das ist ein ungemein schwieriges Unterfangen. Viel einfacher wäre es da, in revolutionärem Rigorismus die bestehenden Strukturen allesamt einzureißen, alle Wertvorstellungen über Bord zu werfen.
    Nun sind aber Freiheit und Selbstverwirklichung, Achtung vor dem Leben und der Würde des Menschen, Ehe und Familie für uns unverzichtbare Bestandteile eines menschenwürdigen Zusammenlebens, und das müssen sie auch bleiben. Das gilt auch für das Leistungsprinzip, das Tragen von Verantwortung sowie für die Bereitschaft zur Pflichterfüllung und zum Verzicht. Wenn wir den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt der Reformen stellen wollen, können wir diese Werte nicht beiseite lassen. Sie müssen vielmehr sozial eingebunden und für eine humane Gesellschaft fruchtbar gemacht werden.
    Meine Damen und Herren, allein die freiheitliche Demokratie ermöglicht den notwendigen Wandel auch den Wechsel der staatlichen Macht — ohne Gewalt. Was bleiben muß, ist unsere Verfassungsordnung. Sie bildet die gemeinsame Grundlage für das politische Handeln. Sie enthält die Wertordnung, an der sich dieses Handeln auszurichten hat. Aufgabe des Bundespräsidenten wird es weiterhin sein, die Werte der Verfassung im Bewußtsein der Bürger lebendig zu halten, auf das sie fortwährend verwirklicht werden.
    Ich bin überzeugt, daß auch Sie, Herr Bundespräsident Scheel, dies als eine wichtige Aufgabe des Präsidenten dieser Republik ansehen. Ihre reiche politische Erfahrung hat Sie die Verantwortung erkennen lassen, die Sie für diesen Staat tragen. Diese Erfahrung wird Ihnen sicher helfen, die vielfältigen Aufgaben Ihres neuen Amtes zu bewältigen und dabei auch das politische Klima in unserem Lande günstig zu gestalten.
    In Ihrem schwierigen Amte wünschen Ihnen alle, die zu diesem Staate stehen, Kraft und Erfolg zum Wohle unserer Demokratie, zum Wohle der Bürger der Bundesrepublik Deutschland.

    (Lebhafter Beifall.)