Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man die Begründung der Besatzungszonen für den Anfang der deutschen Spaltung hält, dann befinden wir uns jetzt im 28. Jahr der deutschen Spaltung und halten immer noch die gleichen Reden, die der Herr Kollege Jaeger schon vor 23 Jahren gehalten hat.
In diesen 28 Jahren ist doch ein Prozeß abgelaufen, der diese Teilung nicht gemildert hat oder erträglich gemacht hat, sondern der zu ihrer ständigen Komplettierung geführt hat. Das war kein naturnotwendiger Prozeß, das haben Menschen und Mächte vollbracht, und die Deutschen sind daran beteiligt gewesen. Aber eines sei zugestanden: Die Deutschen waren nicht die Hauptbeteiligten, sondern waren im Anfang sehr viel mehr Spielball, sehr viel mehr Objekt als handelndes Subjekt in diesem Spannungsverhältnis der Weltmächte.
Die Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR ist ja auch gleichzeitig die Trennungslinie zwischen zwei Westmächten und deren Einflußsphären zwischen dem freiheitlich-demokratischen atlantischen Block und dem kommunistischen Ostblock. Es stoßen zwei voneinander völlig verschiedene Systeme aufeinander. Daß wir auf der westlichen Seite dieser Trennungslinie die kommunistischen Ordnungsvorstellungen nicht übernehmen wollen und die Deutschen östlich der Grenze die unseren nicht übernehmen können, das ist es doch, was die Erfüllung unseres Verfassungsgebotes so ungeheuer schwierig macht, des Verfassungsgebotes, an dem alle Parteien in diesem Hause unbeirrbar festhalten. Der Streit, der sich erhebt, geht nicht daraum, ob das Verfassungsgebot in Frage gestellt wird, sondern es ist lediglich eine Auseinandersetzung um den Weg dahin.
Aus diesem Grunde ist manche Äußerung hier als etwas seltsam zu werten, wenn hier noch Positionen aufgebaut werden, die in den Anfangsjahren nach der Gründung dieser Bundesrepublik wohl ihren Wert gehabt haben mögen, die aber heute keineswegs mehr am Platze sind. Es huldigt doch wohl niemand mehr der Vorstellung, meine Damen und Herren, wir könnten auf irgendeinen günstigen politischen Zeitpunkt warten, zu dem uns die Siegermächte die Wiedervereinigung praktisch auf silbernem Tablett servierten.
Wenn es richtig ist, daß in Deutschland die Welt gespalten ist, dann müssen die Deutschen eine Politik betreiben, die von der Unversöhnlichkeit in dieser Welt, von der Feindseligkeit über Koexistenz und gute Nachbarschaft schließlich zur Kooperation in ganz Europa führt. Im Zustand der Unversöhnlichkeit und der Feindseligkeit zu verbleiben würde jegliche Hoffnung auf Verbesserung des jetzigen Zustandes zunichte machen. Denn die Verantwortung für Deutschland als Ganzes haben nicht drei Siegermächte, sondern deren vier, und die vierte Siegermacht ist. die Sowjetunion. So ist der Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik nicht isoliert zu sehen. Er ist ein Teil der mit von der Bundesregierung initiierten Entspannungsbemühungen zwischen Ost und West. Er ist eingebettet in den deutsch-sowjetischen und den deutsch-polnischen Vertrag. Das Viermächteabkommen über Berlin und der Verkehrsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR haben diese Dinge gestützt und gingen voraus.
Wenn wir dies alles als Einheit betrachten, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist hier doch eine Politik aus einem Guß und mit Weitblick gemacht worden, deren Früchte wir heute schon mit größter Selbstverständlichkeit ernten, denkt man nur an die Erleichterungen, die das Viermächteabkommen über Berlin gebracht hat. Das Ziel dieser Politik wurde einmal so umschrieben es wäre vielleicht für die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU ganz gut, dieses noch einmal in Erinnerung zu bringen :
Wir wollen, soviel an uns liegt, verhindern, daß die beiden Teile unseres Volkes sich während der Trennung auseinanderleben. Wir wollen entkrampfen und nicht verhärten, Gräben überwinden und nicht vertiefen. Deshalb wollen wir die menschlichen, wirtschaftlichen und geistigen Beziehungen mit unseren Landsleuten im anderen Teil Deutschlands mit allen Kräften fördern.
Als diese Sätze gesprochen wurden, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, haben Sie alle begeistert Beifall geklatscht. Das hat Bundeskanzler Kiesinger in seiner Regierungserklärung zur Begründung der Großen Koalition gesagt.
Wir haben damals diesen Worten ebenso großen Beifall gezollt. Herr Kiesinger hat unseren Beifall auch gehabt. Der Unterschied zwischen uns und Ihnen liegt offensichtlich darin, daß wir das in die Tat umsetzen und Sie versuchen, an dem, was in der Tat an realer Politik gemacht wird, herumzumäkeln, diese Bemühungen mit der Drohung bekämpfen, bis zum Kadi zu gehen.
Dabei hat es doch schon ganz andere Änderungen gegeben. Manche Vorstellung über das, was die Nation zusammenhalten könnte, nimmt sich gegen-
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über dem, was heute wirklich ist, relativ bescheiden aus. Lassen Sie mich einmal zitieren:
Eine innerdeutsche Entspannung ist Bestandteil und Funktion der europäischen Entspannung. Beides ist unlösbar miteinander verbunden. Wäre denn eine europäische Entspannung denkbar ohne eine Aufhebung der Spannungen innerhalb Deutschlands? Wäre eine innerdeutsche Entspannung denkbar ohne eine Verbesserung der Beziehungen innerhalb Europas?
Eine Menge Vorbereitungen sind zu treffen, um die Entspannung in Deutschland zu schaffen:
Dafür gibt es viele Möglichkeiten ...
I. Maßnahmen zur Erleichterung des täglichen Lebens für die Menschen in den beiden Teilen Deutschlands, wie
a) verbesserte Reisemöglichkeiten vor allem für Verwandte ...
b) Passierscheinregelungen in Berlin und zwischen den Nachbargebieten beider Teile Deutschlands,
c) Erleichterungen des Zahlungsverkehrs ...
d) Erleichterung des Empfangs von Medikamenten .. .
e) Ermöglichung der Familienzusammenführung, insbesondere der Kinderrückführung,
II. Maßnahmen zur verstärkten wirtschaftlichen und verkehrspolitischen Zusammenarbeit, wie
a) Ausweitung und Erleichterung des innerdeutschen Handels, . . . Einräumung von Kreditlinien,
b) Austausch zwischen den beiderseitigen Energiemärkten, .
c) gemeinsamer Ausbau oder Herstellung neuer Verkehrsverbindungen, . .
d) verbesserte Post- und Telefonverbindungen,...
e) Erörterung wirtschaftlicher und technischer Zweckgemeinschaften, ..
Das alles, meine Damen und Herren, sind Dinge, die zum Teil bereits erreicht sind, zum Teil durch den Grundlagenvertrag erreicht werden sollen. Diese Aufzählung der möglichen Maßnahmen schließt ab:
Die Bundesregierung ist bereit, auch andere Vorschläge zu prüfen. Ihr kommt es darauf an, alles zu tun, um die Spaltung Europas und Deutschlands im Wege der Verständigung zu beenden.
12. April 1967, Regierungserklärung der Großen Koalition.
Ich frage mich nun, nachdem auch der Bundeskanzler festgestellt hat — ich glaube, daß keiner in diesem Saal dem widersprechen kann —, daß es keinen kurzen Weg zur deutschen Einheit gibt, ob denn das, was wir damals festgelegt hatten, heute
mit einemmal falsch ist, weil es die sozialliberale
Koalition praktiziert. Dieses kann doch nicht so sein.
Ich denke, wenn einmal die ersten Runden hier im Bundestag und in den Ausschüssen über den Grundvertrag und seine Folgegesetze verhandelt worden sind, dann werden wir ganz sicher wieder zu jener Gemeinsamkeit zurückkehren, die wir gehabt haben in jenen Zeiten und die eigentlich alle Fraktionen dieses Hauses umfaßt hatte. Was wir heute hier noch tun — gestatten Sie mir die etwas schulmeisterliche Bemerkung —, ist ungefähr das, was man im schönen Bayernland das „Nachtarocken" nennt: daß immer der Verlierer noch einmal das ganze Spiel im Geiste durchgehen muß, um darzutun, daß es gar nicht an ihm und seiner schlechten Spielweise gelegen haben könnte, daß er verloren hat. Nun machen Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, von diesem Nachtarocken etwas reichlich Gebrauch. Wir sollten uns darauf verständigen, damit so bald wie möglich aufzuhören, um wirklich zur konkreten Arbeit übergehen zu können.
Wenn man die Erklärungen der Jahre 1966 und 1967 zur Hand nimmt und auch das zur Hand nimmt, was es inzwischen an Verträgen gibt, welche Erleichterungen geboten werden, wird jeder zugeben müssen, daß es eine gewisse Kontinuität gibt zwischen Konzept und Tat, aber auch in der Fortschreibung des Konzeptes. Was in den Grundsätzen dieser Erklärung festgehalten wurde, ist heute noch Bestandteil der Politik der sozialliberalen Koalition. Diese Grundsätze sind ja auch nicht deshalb nur einfach falsch, weil Herr Bundeskanzler Kiesinger sie einmal verkündet hat. Wenn wir zu diesen Grundsätzen gemeinsam zurückkehrten, würden wir uns sehr viel leichter tun bei allen Auseinandersetzungen um die Methode, um die Sache und selbst um die Zielvorstellungen, die es hier im Deutschen Bundestag geben mag.
Sehr häufig ist die Methode der Verhandlungen kritisiert worden. Es wird gesagt: Das ist alles viel zu schnell gegangen, viel zu hastig, man hat es nur mit Blick auf den Wahltermin getan, das Ganze ist eine recht schlampige Arbeit, weil bestimmte Rechtspositionen da nicht festgehalten worden sind. Ich erinnere mich, daß über die Methode der Verhandlungen zum Moskauer und zum Warschauer Vertrag ähnliches gesagt worden ist. Dazu ist erklärt worden: Die Bundesrepublik hat eigentlich alles gegeben, die Sojetunion und Polen haben alles genommen, aber die Bundesrepublik hat nichts bekommen.
Nun muß ich doch sagen: seitdem der Moskauer Vertrag und der Vertrag von Warschau ratifiziert worden sind, haben wir ein Viermächteabkommen erhalten. Dieses kommt expressis verbis in den Verträgen mit Moskau und Warschau nicht vor. Aber — und das haben uns alle diejenigen bestätigt, die darüber verhandelt haben, nämlich im wesentlichen auch die drei westlichen Botschafter — diese Viermächteverhandlungen über Berlin mit dem bekannten Ergebnis des Abkommens waren überhaupt nicht möglich, ohne daß die Verträge von Moskau und Warschau
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vorausgegangen wären. Sie sind nur auf der Grundlage dieser Verträge möglich gewesen.
Wenn Sie heute sagen: Da wird eine Menge gegeben von der Bundesrepublik, und die DDR hat alle Maximalziele erreicht — darauf werde ich noch zu sprechen kommen, was deren Maximalziele waren —, und wir haben nichts bekommen, so werden Sie eines Tages von den politischen Ereignissen wieder genauso überrollt werden wie seinerseits mit dem Viermächteabkommen über Berlin.
Es ist eigentlich schade, daß die Opposition sich beim Grundvertrag genauso verhält wie bei jenen Verträgen, die wir abgeschlossen und zur Grundlage für die Entspannung mit dem europäischen Osten gemacht haben. Eigentlich könnte es uns nur recht sein. Ein kluger Historiker hat mal gesagt: „Aus der Geschichte kann man nur lernen, daß die Menschheit bisher nichts daraus gelernt hat". Der Mann muß die Schwierigkeiten der Opposition sehr gut vorausgesehen haben.
Wenn ich also die bisher gehaltenen Reden - mit wenigen Ausnahmen — noch einmal an meinem Ohr vorüberziehen lasse, muß ich folgern, daß aus den Verhandlungen des Deutschen Bundestages über jene Verträge, die ich vorhin angesprochen habe, bis heute zum Grundvertrag die Opposition noch nicht gelernt hat, sich richtig einzustellen und zu verhalten.
Aber wenn schon gesagt wird, die Verhandlungsführung sei sehr eilig und schlampig gewesen, so muß man doch einmal sagen, was die DDR denn eigentlich an Maximalvorstellungen hatte. Kein Mensch ist heute darauf gekommen, einmal jenen Vertragsentwurf herauszuziehen, den Herr Ulbricht im Jahre 1969 dem Bundespräsidenten Heinemann geschickt hat. Er ist doch die Grundlage dessen gewesen, was sich die DDR unter normalen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR vorgestellt hatte. Darin heißt es unter Art. III:
Beide Seiten verpflichten sich, alle den Festlegungen in Artikel I entgegenstehenden und den Vertragspartner diskriminierenden Maßnahmen zu unterlassen, ohne Verzögerung diesem Vertrag entgegenstehende Gesetze und andere Normativakte aufzuheben sowie die Revision entsprechender Gerichtsentscheidungen zu veranlassen. Sie werden auch in Zukunft jegliche Diskriminierung des Vertragspartners unterlassen.
Das hätte doch eine Regelung der Staatsbürgerschaft im Sinne der DDR-Vorstellungen bedeutet. Was sagt der Vertrag, den wir nun vor uns haben, in einem Protokollvermerk dazu? Er sagt:
Die Bundesrepublik Deutschland erklärt: Staatsangehörigkeitsfragen sind durch den Vertrag nicht geregelt worden ...
Herr Sonderminister Bahr hat in aller Deutlichkeit
noch einmal klargestellt, daß aber auch nichts von
den Rechtspositionen unserer Seite auf diesem Gebiet aufgegeben worden ist.
— Es gibt noch mehrere; ich komme noch auf einige weitere.
Oder nehmen wir Art. V des Ulbricht-Entwurfs! Er lautet so:
Die Deutsche Demokratische Republik und die Bundesrepublik nehmen miteinander diplomatische Beziehungen auf. Sie lassen sich gegenseitig in den Hauptstädten Berlin und Bonn durch Botschaften vertreten. Die Botschaften genießen alle Immunitäten und Privilegien entsprechend der Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen vom 18. April 1961.
Auch dies ist eine Maximalposition der DDR. Nur ist deren Erfüllung durch diesen Grundvertrag auch nicht geregelt.
Oder betrachten wir Art. VII! Da heißt es:
Die Deutsche Demokratische Republik und die Bundesrepublik Deutschland verpflichten sich, den Status West-Berlins als selbständige politische Einheit zu achten und unter Berücksichtigung dieses Status ihre Beziehungen zu West-Berlin zu regeln.
Auch dies ist nicht in der Weise geschehen, wie es die DDR gewünscht hat. Wenn da also gesagt wird, wir seien allen Maximalforderungen der DDR nachgesprungen, so ist das einfach falsch dargestellt, und man sollte sich beeilen, dies wieder ins rechte Licht zu rücken.
Man darf davon ausgehen, daß auch wir uns einen besseren Vertrag vorstellen könnten, in dem auch gleich in einem bestimmten Artikel festgehalten würde: Am Soundsovielten werden gesamtdeutsche freie Wahlen stattfinden; wir werden ein frei gewähltes Parlament haben; es wird uns eine Verfassung geben; wir werden danach eine frei gewählte Regierung haben, und die Wiedervereinigung ist vollzogen. Dies kann man auch als Maximalforderung unserer Seite aufstellen. Allerdings kann man dies, wenn man es will, nur per Diktat machen, ebenso wie die DDR ihre Vorstellungen uns nur per Diktat in einen solchen Vertrag hätte hineinschreiben können.
Wir wollen kein Diktat und können auch gar keines den andoren auferlegen, wie es ebenfalls umgekehrt nicht möglich ist. Man muß seine Vorstellungen mit dem jeweiligen Partner abklären. Man muß auch die Vorstellungen des Partners kennen.
Wenn es ein Geben und Nehmen ist, so haben wir, das muß ich sagen, über diesen Grundlagenvertrag und besonders über das, was er an Reiseerleichterungen im engeren Grenzgebiet ermöglichen soll, sehr viel mehr zum Zusammenhalt der Nation und für den Aufbau eines Bewußtseins, zu einer Nation zu gehören, bei vielen getan, die es schon gar nicht mehr haben oder noch nicht haben
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können, als alle Paragraphenreiterei und sämtliche Klimmzüge an Paragraphen, die die bisherigen Bundesregierungen in der Vergangenheit immer veranstaltet haben und die sie auch noch für gesamtdeutsche Politik ausgaben.
Der Herr Kollege Dr. Jaeger hat die Zweistaatlichkeit im Vertrag so scharf gegeißelt. Wer einen Vertrag machen will, und wer zur Aufrechterhaltung der Nation und des Bewußtseins und des Willens, eine Nation zu sein, die Begegnung möglichst vieler Menschen in Deutschland herbeiführen will, der kann nicht daran vorüber, daß er mit der Regierung des zweiten deutschen Staates zu verhandeln hat, oder er zieht sich wieder zurück und vertagt alle diese Bemühungen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Dann wird sehr die Frage sein, meine sehr verehrten Damen und Herren, ob man in weiteren 28 Jahren, die auf die hinter uns liegenden der deutschen Spaltung folgen könnten, überhaupt noch davon sprechen kann, daß das Bewußtsein, einer Nation anzugehören, bei allen deutschen Menschen noch vorhanden ist. Die meisten von denen, die hier im Saale sitzen und die dafür kämpfen, werden dann schon nicht mehr da sein, sondern es wird eine neue Generation herangewachsen sein, die sehr wahrscheinlich Mallorca und Teneriffa und die italienische Adria und die Cote d'Azur besser kennt, sich dort besser auskennt, sich dort eher zu Hause fühlt als im Thüringer Wald oder im Ostharz oder in der Mark oder in Mecklenburg. Diese Generation wird mit Spaniern, Italienern, Griechen viel eher ins Gespräch kommen als mit Sachsen, Mecklenburgern, Pommern und Ost-Berlinern. Auf welche Weise — sehr wahrscheinlich nur noch durch Kreidegeographie in der Schule einmal zwei Jahre lang — dann das Bewußtsein, einer Nation anzugehören, noch wachgehalten werden soll, das müßte uns erst einmal jemand sagen.
Und auf welche Weise die abgeschlossenen Verträge besser hätten ausgefüllt werden können mit Zustimmung des Partners, mit dem man es zu tun hat, das müßte doch auch einmal dargelegt werden. Bisher haben Sie nur gesagt, was Sie nicht wollen. Es wäre außerordentlich hilfreich, wenn einmal gesagt würde, was Sie denn nun wirklich wollen. Wie soll der Vertrag denn aussehen? Beim Vertrag mit der Sowjetunion hatte sich der Herr Kollege Strauß einmal die Mühe gemacht und hatte einen Vertragsentwurf eigener Art ausgearbeitet. Da wußte man, welches die Position der Opposition war und was man eine Politik des Unmöglichen nennen könnte. Das hat man da gewußt; denn dieser Vertragsentwurf wäre in der Tat nur per Diktat durchzusetzen gewesen. Wir haben ihn im Ausschuß des öfteren behandeln wollen, aber die Kolleginnen und Kollegen der CDU haben ihn wohlweislich auch gleich in der Schublade gehalten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, solche Verträge werden doch nicht auf dem Mond abgeschlossen, sondern hier auf der Erde und in diesem Falle in diesem gespaltenen Deutschland. Wir können uns doch keine Mondverträge ausdenken,
sondern müssen sehen, was möglich ist.
Es wäre, Herr Kollege Dr. Mertes, ganz sicher einmal an der Zeit, daß wir uns über das unterhielten, was denn nun in Wirklichkeit sich schon in Deutschland erfüllt hat. Wieweit unsere Positionen schon erreicht worden sind durch das Berlin-Abkommen und durch den Verkehrsvertrag, das sollen einige Zahlen doch einmal darstellen, damit nicht immer davon geredet wird, es gebe da „Rinnsale". Herr Kollege Reddemann, ich bin noch nicht einmal der Meinung, daß die Bewegung von Ost nach West lediglich ein Rinnsal wäre. Selbst da unterscheide ich mich also von dem Herrn Sonderminister Bahr, der gesagt hat, das sei zwar noch wenig. Ich halte das schon für eine außerordentlich bedeutende Bewegung, gemessen an dem, was früher war. Vom Nichts —
— Ich mache es Ihnen jetzt gleich klar. Vom Nichts bis zu dem, was jetzt ist, ist ein ungeheuer weiter Schritt. Sie wissen, daß durch den Berlin-Vertrag und durch die Absicherung der Verkehrswege zwischen der Bundesrepublik und Berlin dieser Weg jetzt endlich sicher geworden ist und daß in einem Jahre allein 1,8 Millionen Menschen mehr gefahren sind, nämlich im Jahre 1972, als im Jahre 1971 und daß wir zwischen Berlin und der Bundesrepublik Deutschland jetzt endlich den Verkehr haben, der normal ist, auf der Schiene und auf der Straße und daß die Leute nicht in den Luftverkehr ausweichen müssen. Den Luftverkehr nach Berlin hat das selbstverständlich sehr getroffen. Ich kann nur sagen: das ist eine politische Folge, an der ich sogar Freude habe; denn es war nirgendwo geschrieben, daß sich viele Menschen in diesem Berlin-Verkehr überhaupt nur durch die Luft bewegen dürfen.
Hatte der Transitverkehr bereits während der Sonderregelungen zu Ostern und Pfingsten zugenommen, so stieg er nach der Berlin-Vereinbarung sprunghaft an. Wir hatten im Juni 1971 rund 385 000 Fahrten zwischen Berlin-West und der Bundesrepublik, im Juni 1972 waren es 413 000. 401 000 Fahrten waren es im Juli 1971, 635 000 im Juli 1972. Diese Zahl erhöht sich bis zum August 1972 auf 693 000, um dann infolge der Witterung auf 350 000 im Dezember 1972 abzuflauen. Insgesamt sind 1,8 Millionen Personen mehr als im gleichen Zeitraum des Jahres 1971 gefahren.
Nun sollten wir hier auch noch sagen, was sich an Reiseverkehr zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vollzogen hat. Wir haben immerhin 104 000 Reisen in die DDR im Oktober 1972 gehabt, gegenüber 81 000 im Jahre 1971, 37 000 waren es im November 1971 gegenüber 62 000 im November 1972. Im Dezember war von 1971 zu
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1972 eine Steigerung von 89 000 auf 197 000 zu verzeichnen.
Gestiegen sind auch die Zahlen in umgekehrter Richtung. Rentnerbesuche stiegen von 1,04 Millionen im Jahre 1971 auf 1,06 Millionen im Jahre 1972. Nun kommt das berühmte Rinnsal. Seit Inkrafttreten des Verkehrsvertrages am 17. Oktober bis zum 31. Dezember sind 11 800 DDR-Bewohner wegen dringender Familienangelegenheiten in die Bundesrepublik gereist, außerdem noch etwa 3700 Frührentner. Das sind pro Monat über 4000 Leute, die gekommen sind, gegenüber nur ganz wenigen, die auch früher in dringenden Familienangelegenheiten kommen durften.
Solche Zahlen haben wir in keinem Jahr gehabt.
Nun ist bestritten worden, daß das Wort „Rinnsal" hier überhaupt gefallen sei. Ich habe mich da noch einmal sachkundig gemacht: am 18. Januar 1973 hat der Kollege Barzel tatsächlich davon geredet, daß es ein Rinnsal ist, das nur in einer Richtung fließt. Er hat also das, was nach Osten fließt, schon als Rinnsal bezeichnet. Gerade die Zahlen über die Reisen von Ost nach West machen den Verhandlungserfolg unserer Seite deutlich. Dies war noch vor wenigen Jahren als eine praktisch nicht erreichbare Zielsetzung angesehen worden, ähnlich auch dem Nachbarschaftsverkehr im Grenzgebiet.
Es gibt selbstverständlich bestimmte Schwierigkeiten bei all diesen neu eingerichteten Möglichkeiten. Das ist ganz selbstverständlich; denn jetzt ist irgendwo ein Recht gesetzt, das von Menschen in Anspruch genommen wird. Das ist ein Recht, das es vorher nie gab. Wenn es da einmal eine Zurückweisung gibt, werden wir einen allgemeinen empörten Aufschrei über die eine Zurückweisung hören. Wir haben eine Maschine in Gang gesetzt, deren Getriebe in der Tat noch erheblich knirscht, aber die Maschine hat ja auch zwanzig Jahre vor sich hin gerostet. Wir wissen, daß wir es mit einem schwierigen Partner zu tun haben, und wir müssen dem in allem Ernst auch sagen, daß Inhalt und Geist von Verträgen nicht durch innerstaatliche Mätzchen unterlaufen werden dürfen. Das wurde hier heute mehrmals gesagt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe gedacht, bei der CDU/CSU bekomme ich dafür auch Beifall.
— Für Sie war „Mätzchen" zu wenig, für mich ist es schon der Gipfelpunkt politischer Mißachtung, weil ich nicht so sehr geübt bin wie vielleicht der eine oder andere, mich in Verbalinjurien zu ergehen. Aber ich würde sagen, auch wenn es dort Schwierigkeiten gibt, verbietet es sich doch, aus solchen bestimmten Vorkommnissen den Schluß zu ziehen, daß es deshalb ohnehin keinen Zweck hätte, überhaupt etwas zu versuchen. Ebenso verbietet es sich meiner Meinung nach, daß man, weil bis zur Wiedervereinigung viele Meilen einer Strecke zu gehen sind, auf den ersten Kilometer, den wir jetzt hinter uns bringen wollen, von vornherein verzichtet, weil
man die meilenlange Strecke nicht mit einem Sprung überspringen kann. Wenn der Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen einmal gesagt hat, man müsse bereit sein, nach jedem Stück deutscher Verklammerung mit den Nägeln zu kratzen, so kennzeichnet dies die Schwierigkeit der Aufgabe, aber auch die zähe Methode, die man in der Verhandlungsführung braucht, um überhaupt etwas zu erreichen.
Zu Beginn meiner Ausführungen hatte ich gesagt, daß wir uns im 28. Jahr der deutschen Spaltung befinden. Wir wollen mit diesem Grundvertrag darauf hinwirken, daß Menschen in Deutschland wieder zueinander finden, daß der Wille, einen Staat mal wieder insgesamt für alle Deutschen zu haben, ebenso nicht erlahmen darf wie das Bewußtsein, zu einer Nation zu gehören. In diesen 28 Jahren ist ja schon eine ganze Menge verschüttet worden, ist überwachsen, verunkrautet. Vieles müssen wir erst wiedererwecken, und manches muß man neu pflanzen. Ein Instrument dafür ist der Grundlagenvertrag.
Nun will ich zum drittenmal Wilhelm Kewenig zitieren, nachdem er heute schon zweimal dran war. Es ist ja mit den Zitaten und Teilzitaten immer eine außerordentlich schwierige Sache. Herr Kollege Mertes, ich sehe schon, Sie haben Kewenig ganz gelesen und nicht nur das Stück, das Herr Dr. Barzel heute morgen vorgetragen hat.
— Ich bin sehr dankbar, daß ich auf Verständnis stoße.
Kewenig hat nicht nur gesagt:
Insgesamt ist der Grundvertrag kein ,,gelungener" Vertrag. Ob er bei längerem Zuwarten besser hätte werden können, ist eine müßige Frage.
Und weiter: Es ist auch kein ehrlicher Vertrag. Sondern Kewenig hat auch gesagt -- und darauf wollte ich hinweisen, und das könnte die Grundlage für uns sein, nachdem immerhin dieses 102 : 83-Ergebnis bei Ihnen erzielt werden konnte
Er ist jedoch ein Vertrag, der aller Voraussicht nach eine aktivere Deutschland-Politik möglich, ja geradezu unumgänglich macht und der die deutsche Frage zwar nicht für alle Zukunft offen hält, sie aber auch nicht endgültig ausräumt und damit die Teilung zwangsläufig perpetuiert. Auf keinen Fall aber macht er es für die Bundesrepublik rechtlich oder faktisch unmöglich, das politische Kernziel einer Zusammenführung des geteilten Deutschlands weiterhin mit aller Kraft zu verfolgen.
Und er meint, es ergebe sich aus diesen Gründen auch gar keine Möglichkeit, verfassungsrechtlich dagegen vorzugehen.
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Zu dieser nüchternen Beurteilung hätte man sich durchringen können. Das wäre wenigstens eine Basis gewesen, auf der man hätte miteinander diskutieren können. Aber man braucht noch nicht alle Hoffnung fahren zu lassen. Herr Kollege Mertes, Ihre Ausführungen haben immerhin dazu geführt, daß man auch auf unserer Seite überlegt, in welcher Weise wir denn in Zukunft zusammenarbeiten könnten. Vielleicht gilt bei einem Teil Ihrer Fraktion auch das, was Herr Dr. Kohl in der Bundesratssitzung gesagt hat. Er hat nämlich ausgeführt, daß ihm das nicht passe und daß er ein Nein dazu sagen wolle. Aber dann fuhr er fort:
Damit wollen wir uns — und dies sei deutlich ausgesprochen — in gar keiner Form der künftigen gemeinsamen Verantwortung entziehen ... Wir sind deshalb bereit, künftig auf der Grundlage der Verträge mit der Bundesregierung zusammenzuarbeiten, um die wenigen Chancen, die sich aus den Verträgen ergeben und unabhängig davon existieren, gemeinsam und optimal zu nutzen. Dies liegt im deutschen gemeinsamen Interesse, wenn wir weiterhin an dem Ziel der Selbstbestimmung festhalten wollen.
Ähnlich hatte sich auch Herr Kollege Strauß hier in der Debatte zur Regierungserklärung geäußert.
Ich könnte mir daher vorstellen, daß in künftigen Zeiten, wenn das Nachtarocken vorüber sein wird, der Groll über eine verlorene Wahl heruntergeschluckt werden kann und
wir dann noch zu anderen Überlegungen kommen und wir uns gemeinsam bemühen könnten, das, was durch den Vertrag möglich ist an deutscher Verklammerung und deutscher Verzahnung, zu versuchen, gemeinsam auszufüllen. Wir jedenfalls begrüßen diesen Vertrag, Wir danken ausdrücklich allen, die am Zustandekommen der Vorlage beteiligt waren. Wir werden dem Ratifizierungsgesetz zustimmen, Herr Kollege Reddemann, weil wir aus der passiven Rolle des geschichtlichen Sandsacks heraus müssen, der wir lange für viele Mächte in Europa gewesen sind. Wir wollen endlich selbst etwas bewirken.