Rede von
Karl
Moersch
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Dr. Mertes, wir haben ja darüber lange gesprochen. Ich müßte jetzt die Protokolle der Bundesratsberatungen heraussuchen.
Das würde hier sicher zu weit führen. Wir sollten darauf noch einmal in aller Ruhe eingehen.
— Ich halte den Vorwurf aufrecht, daß man über die Politik im Gesamtzusammenhang hier nicht sprechen kann, wenn man unsere Forderung nach einem befriedigenden Berlin-Abkommen nicht mit erwähnt
und auch weiß, aus welchem Grund genau dieser Punkt in den Absichtserklärungen nicht angesprochen sein konnte. Herr Dr. Mertes weiß das.
Das hätte nämlich der Argumentation eine andere Tendenz gegeben, Herr Dr. Mertes. Deswegen sage ich das.
Doch, das Berlin-Abkommen ist ein entscheidender Punkt in diesem ganzen Geflecht. Es lag in unserem Interesse; es war eine Leistung uns gegenüber. Darüber besteht kein Zweifel. Sie sehen den Ausgangspunkt anders als wir. Sie meinen, man hätte dadurch, daß in der Regierungserklärung am 28. Oktober damals von zwei Staaten in Deutschland die Rede war, eine Verhandlungsmöglichkeit aus der Hand gegeben. Wir meinen demgegenüber
— die Geschichte spricht inzwischen für uns; das möchte ich hier gleich sagen —, daß das die Voraussetzung dafür war, daß man zu einer Modusvivendi-Regelung kommen konnte. Diesen Widerspruch werden Sie hier nicht auflösen. Ich werde im Laufe meiner Darlegungen noch auf einige Punkte zurückkommen.
— Entschuldigen Sie, ich habe „Teilwahrheit" und nicht „Halbwahrheit" gesagt. Das ist ein Unterschied, ein zwar sehr feiner, aber wichtiger Unterschied.
Ich könnte auch sagen: Wer halb zitiert, hat ganz gewonnen. Aber das ist dasselbe.
— Nein, das ist zum Beispiel von Herrn von Guttenberg.
— Eben! Sehen Sie, Herr Dr. Marx, wenn Sie einen Zweck verfolgen, heiligt der Zweck offensichtlich die Mittel.
612 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode —14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1973
Parl. Staatssekretär Moersch
Lassen Sie mich noch ein paar Worte sagen.
— Herr Reddemann, Sie können sicher zwischen der Welt und der Halbwelt unterscheiden; das ist keine Frage. Wir könnten die Reihe fortsetzen. Diese Darlegungen gelten aber an sich einem anderen Thema.
Ich möchte noch einmal auf Professor Carstens und einige Einlassungen eingehen. Herr Dr. Mertes, wir werden über dieses Thema in der Tat noch oft zu reden haben. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie in dieser betonten Einseitigkeit eine Position dargestellt haben, weil uns das Gelegenheit gibt, vielleicht noch einmal die Frage auszuloten, wie Politik überhaupt gesehen wird und wo die eigentlichen Denkansätze liegen.
Es könnte sein, daß Ihr Denkansatz schon seit 15 Jahren falsch ist. Dann kann er heute in der Konsequenz nicht richtig sein.
Das will ich hier mit aller Offenheit sagen. Eine lange Beschäftigung mit einer Materie hindert einen ja nicht daran, von einem falschen Denksatz ausgegangen zu sein. Dann wird es immer sehr schwierig.
Herr Dr. Jaeger — darauf muß ich ein Wort verwenden — hat ein Wort aufgegriffen, das in diesem Hause besser nicht gefallen wäre. Er hat von der Finnlandisierung gesprochen. Herr Dr. Jaeger, Sie haben hier das Wort von Franz Josef Strauß variiert. Ich finde es bemerkenswert, daß Sie Ihren Vorsitzenden zitieren. Aber es wäre besser gewesen, Sie hätten dieses Zitat — ich sage das ebenso offen — in diesem Zusammenhang unterdrückt, und zwar nicht wegen des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung, sondern weil ich glaube, daß in Finnland — ich habe eine entsprechende Erfahrung bei einem Besuch dort gesammelt — dieser Ausdruck als eine unwürdige und unberechtigte Herabsetzung eines tapferen Volkes empfunden wird. Das sollten wir nicht tun.
Lassen Sie mich zu einer Bemerkung von Herrn Dr. Barzel ebenfalls noch etwas sagen. Dr. Barzel hat in vorsichtiger Form, aber deutlich genug, wie ich meine — sozusagen angesichts der Bundesregierung und der Regierungskoalition und nicht nur alleine zu Freunden sprechend —, wiederum den Eindruck erweckt, als führe diese Bundesregierung — und habe geführt — irgendeine Politik zur Verschlechterung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses. Solche Behauptungen widersprechen eklatant den Tatsachen.
Im Jahre 1969 war die Bundesrepublik Deutschland, Herr Kollege Kiesinger, in der Tat in der Gefahr, daß die amerikanische Seite eventuell zu einer einseitigen Entscheidung aus ihren Interessen her-
aus auch in der Frage ihrer Präsenz in Europa hätte kommen können. Diese Gefahr ist durch die Entwicklung unserer Politik beseitigt worden. Unsere eigene Interessenlage, die Interessenlage der europäischen Staaten und die der Vereinigten Staaten ist kongruent. Wir haben deshalb eine erfolgreiche Entwicklung dieser gemeinsamen Politik erreicht. Wäre das so, wie die Opposition der deutschen Öffentlichkeit darlegen möchte, dann wäre weder in dieser Woche die Währungsentscheidung so gefallen, wie sie gefallen ist, —
— Ja, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie können zwar Ihren Gefühlen Ausdruck geben, aber deswegen werden es noch keine Tatsachen, die Sie fühlen.
Es ist doch völlig unbestritten, daß das so ist. Ich hatte Gelegenheit, das an Ort und Stelle zu prüfen im Gegensatz zu denen, die neuerdings durch Handauflegen politische Erfahrungen machen. Wir haben letzte Woche Erfahrungen und Informationen an Ort und Stelle sammeln können. Ich kann das mit gutem Grund behaupten. Es ist auch völlig unbestritsen — Sie werden das gar nicht wegdiskutieren können —, daß gerade Sie und einige Ihrer Sprecher es noch vor nicht allzu langer Zeit für ziemlich ausgeschlossen angesehen haben, daß man etwa in dieser Form eine westliche Zusammenarbeit vorbereiten könne, auch und gerade mit den USA, wie sie sich jetzt in Helsinki bei der Vorbereitung einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit bewährt und wie sie sich auch in Wien bei dem Vorbereitungsgespräch über MBFR bewährt.
Man sollte sich an Tatsachen halten und nicht so tun, als habe die Opposition irgendeine Art Monopol auf deutsch-amerikanische Zusammenarbeit und deutsch-amerikanische Beziehungen. Das ist eine Sache des ganzen Deutschen Bundestages und der Bundesregierung.
Ich spreche damit nicht gegen die Opposition, ich spreche nur gegen die Einseitigkeit des Anspruches, der durch Tatsachen nicht gerechtfertigt ist.
Herr Professor Carstens — darauf möchte ich im Zusammenhang noch ein bißchen eingehen — ist heute wohl, wenn ich das als eine Art Zwischenbilanz so sagen darf, als der eigentliche Sprecher der Opposition aufgetreten, oder ich müßte vielleicht sagen: als der Sprecher der eigentlichen Opposition.
Das war in vieler Weise bemerkenswert. Herr Professor Carstens, man kann sich unter Vernachlässigung vielerlei Aspekte auf eine bestimmte Linie und ein Argument beschränken, man kann den Eindruck der Logik erwecken und gleichwohl die wesentlichen anderen Tatsachen aus dem Auge verlieren. Eine Rede wirkt dadurch viel geschlossener. Das ist das Vorrecht der Opposition.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode —14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1973 613
Parl. Staatssekretär Moersch
Aber es ist unsere Pflicht, dann die anderen wirksamen Gewichte ebenfalls sichtbar zu machen. Sie haben am Schluß — das fand ich aufschlußreich — die Frage offengelassen, ob Sie dem Gesetz über den UNO-Beitritt zustimmen wollen. Darüber werden wir sicherlich noch einiges von der Opposition hören. Ich hatte mich offen gestanden darauf verlassen, daß bei einem einstimmigen Votum im Bundesrat und bei einem Verzicht auf eine weitere Diskussion im entsprechenden Ausschuß des Bundesrates, weil ja Konsensus bestehe, — —
— Natürlich, Herr Dr. Marx, wir warten ab. Aber Sie haben das heute morgen selbst eingeführt. Sie werden mir schon erlauben, daß ich darauf hinweise.
— Das Thema war in den Reden, auch von Herrn Dr. Barzel und auch in der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers, angeschnitten. Wir wollen doch nicht die Dinge deswegen nicht zusammenbringen, weil Sie das so nicht wünschen, sondern ich will den politischen Zusammenhang herstellen, der wichtig ist für die Beurteilung dessen, was eines Tages zur Abstimmung stehen wird. Sie können über den Grundvertrag nicht sprechen, ohne die Aspekte des UNO-Beitritts zu berücksichtigen. Das ist doch völlig klar. Das war bisher bei Ihnen auch unbestritten. Sie haben zunächst die elegante Wende gefunden, zu sagen: Wir sagen einmal ja und einmal nein, das ist dann nicht eine Enthaltung, obwohl man mathematisch zu dieser Meinung kommen könnte.
— Herr Dr. Marx, Sie können sagen, es sei Algebra: a + b=c.
— Ich kann leider Ihre bemerkenswerten Äußerungen akustisch nicht verstehen, Herr Reddemann. Das bedaure ich außerordentlich, denn ich bin sicher, das war eine wertvolle Einlassung.
Aber, meine Damen und Herren, der enge Zusammenhang zwischen unserem Beitritt zu den Vereinten Nationen und dem Grundvertrag ist doch in dieser Debatte wiederholt angesprochen worden. Ich habe Verständnis dafür, daß es der Opposition offensichtlich schwerfällt, für sich selbst die logische Konsequenz aus dieser Erkenntnis zu ziehen.
Ich möchte aber hier gerade nach den Gesprächen, die ich vor wenigen Tagen mit einer ganzen Gruppe von Botschaftern bei den Vereinten Nationen in New York führen konnte, hinzufügen, daß die Mitglieder der Vereinten Nationen — gleichgültig, ob sie einer Mächtegruppierung angehören, und gleichgültig, welcher -- mit großen Erwartungen der 'Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland als Vollmitglied der Vereinten Nationen entgegensehen. Sie wünschen nämlich, daß ein Staat von der Bedeutung und dem Einfluß der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar an der Willensbildung in der Völkergemeinschaft beteiligt ist. Er soll es sein, damit er seiner Verantwortung sichtbar auch nach außen gerecht werden kann.
Wir haben schon in der Vergangenheit — darauf ist hier von der Bundesregierung wiederholt hingewiesen worden — nicht nur in den Sonderorganisationen der Vereinten Nationen aktiv mitgearbeitet, sondern haben uns auch wichtige Entscheidungen der Vollversammlung der Vereinten Nationen für die deutsche Politik zu eigen gemacht, obwohl wir dazu formal nicht verpflichtet gewesen wären. Das ist mit großem Respekt auch von denen vermerkt worden, die — und das ist der Natur der Sache gemäß — mit solchen Entscheidungen der UNO nicht in vollem Umfange einverstanden waren.
Wir sind uns der Tatsache bewußt, daß die deutsche Außenpolitik mit unserem Beitritt zu den Vereinten Nationen in vielen Fragen sich zu Konflikten wird äußern und wird Stellung nehmen müssen, die sie zunächst nicht unmittelbar berühren. Da wir aber wissen, wie in sich selbst verflochten die Weltpolitik und die politische Verantwortung heute sind, gibt es tatsächlich kaum irgendeinen Konflikt in der Welt, der nicht auch unsere Interessen berührte.
Wir können als Mitglieder der Vereinten Nationen mehr als bisher zur Sicherung des Friedens beitragen, und zwar auch durch eine stärkere Einflußnahme und Verantwortung in den Bereichen, die etwa das Nord-Süd-Gefälle und den Ausgleich sozialer Spannungen betreffen, und nicht nur bei den offensichtlichen Fragen der direkten Friedenssicherung wie etwa der Abrüstung.
Ich kann mich im Augenblick auf diese wenigen Hinweise beschränken, möchte aber gleich hinzufügen, daß es sicher eine Verkennung unserer eigenen Möglichkeiten, aber auch der Erwartungen, die an uns gestellt werden, wäre, wenn aus dem hier Gesagten der Schluß gezogen würde, wir, die Bundesrepublik Deutschland, wollten uns mit dem Beitritt zu den Vereinten Nationen gleichsam selbst in den Mittelpunkt des Weltgeschehens rücken. Das wollen wir nicht. Es wäre zudem auch höchst unrealistisch. Ich sage das betont auch deshalb, weil ich aus dem Verlauf der Debatte — nicht zuletzt beim Überdenken einiger Ausführungen des Kollegen Professor Carstens und anderer Sprecher der Opposition — den Eindruck gewonnen habe, den ich gern von der Opposition aufgeklärt wissen oder berichtigt sehen möchte, daß uns nämlich in der Beurteilung des Politischen, vor allem des politisch Möglichen, offensichtlich Erhebliches trennt. Ich sage das ganz ohne Vorwurf, Herr Professor Carstens. Mir liegt lediglich daran, die Ausgangspositionen zu klären, weil sonst ein Dialog in der Tat sinnlos wäre.
Sie, Herr Kollege Carstens, haben mit Blick auf die deutsche Frage und die Erhaltung der deutschen
614 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode —14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1973
Parl. Staatssekretär Moersch
Nation von dem Willen der Deutschen als einer Voraussetzung und von der Bereitschaft der Welt als einer anderen Voraussetzung gesprochen.
Was die Bereitschaft der Welt betrifft, so müssen sich gerade die Politiker, die lange Jahre die Verantwortung für die deutsche Politik mitgetragen haben, fragen lassen, ob nicht gerade sie selbst diese Bereitschaft der Welt, unsere speziellen deutschen Probleme zu berücksichtigen, überstrapaziert haben und ob sie nicht selbst entscheidend dazu beigetragen haben, daß die Welt um uns herum am Ende einen falschen Eindruck von dem Willen der Deutschen bekam.
— In der Tat, auch das ist ein Beispiel, auf das man zurückkommen muß. — Ich will das im einzelnen erläutern, Herr Professor Carstens. Die Entscheidung der Bundesrepublik Deutschlands nämlich, Teil des westlichen Bündnisses zu sein, sich als Partner einer Integrationspolitik des Westens nicht nur zur Verfügung zu halten, sondern eine aktive Rolle in der Entwicklung dieser Integration zu spielen, ist schon in den 50er Jahren in aller Welt so verstanden worden, als ob diese Bundesrepublik Deutschland ihr Sicherheitsbedürfnis — als Teil des westlichen Bündnisses — wesentlich höher veranschlage als das Wiedervereinigungsgebot in der Präambel des Grundgesetzes.
Mit anderen Worten: Wir selbst haben uns entschieden und, wie ich aus Überzeugung hinzufügen möchte, entscheiden müssen — möglicherweise viel eher, als wir die Entscheidung dann Mitte der 50er Jahre formal getroffen haben, nämlich schon mit der Entstehung der Bundesrepublik Deutschland —, unsere Sicherheit als Bundesrepublik Deutschland höher zu bewerten, wichtiger zu nehmen als die Möglichkeit, etwa einen deutschen Gesamtstaat zwischen Ost und West bilden zu können.
Es ist heute in der Debatte von Sprechern der Opposition und von anderen gesagt worden: Freiheit vor Einheit. Weniger pathetisch hieße das doch in der politischen Praxis: Sicherheit vor Einheit. Mein Kollege Flach hat darauf bereits hingewiesen.
Es ist für mich erstaunlich, daß so erfahrene und scharfsinnige Mitwirkende an dieser Entwicklung, wie z. B. Professor Carstens es ist, heute die Zwangsläufigkeit der damals entwickelten Politik offensichtlich nicht in vollem Umfang und in ihren Auswirkungen erkennen wollen.
Ich hatte früher nie den Eindruck — aber der mag falsch gewesen sein; Sie mögen das berichtigen — daß etwa die maßgebenden Kräfte in der CDU/CSU-Führung wirklich angenommen haben, daß der Weg zur nationalen Einheit — und das hieß doch wohl die Rückkehr zum Nationalstaat — über die Westintegration führe. Wenn Herr Professor Carstens dies also heute tut und hier in seinen Darlegungen noch einmal bekräftigt hat, muß
ich ihm schon die Frage stellen, ob er denn ersthaft glaubt, daß es in unserem Interesse hätte liegen können, den Konfliktstoff in Mitteleuropa n i c h t zu beseitigen, eine Modus-vivendi-Regelung auf der Basis des Status quo n i c h t herbeizuführen, weil nämlich nur auf diese Weise möglicherweise die Bereitschaft der Welt, uns bei der Lösung unserer nationalen Frage zu unterstützen, aufrechterhalten werden könne. Das war doch eine Position in den 50er Jahren, auch wenn sie so nicht ausgesprochen wurde. Das stand doch oft hinter dieser Politik des Abwartens.
Herr Professor Cartens hat es hier auch so dargestellt, als ob die Römischen Verträge eine besondere Klausel enthielten, die die Zusammenfassung der Deutschen in einem Gesamtstaat durchaus möglich mache. Das ist insofern richtig, als ein deutscher Gesamtstaat weiterhin Mitglied in der Europäischen Gemeinschaft bleiben kann. So sehen es diese Verträge vor. Professor Hallstein hat es damals hier in diesem Hause mit erläutert. Die Frage, ob das aber politisch realistsch ist, wird Herr Professor Carstens wohl selbst beantworten können. Denn das heißt doch im Klartext nichts anderes, als daß eine Verschiebung der Einflußgebiete zugunsten des westlichen Bündnisses auf Kosten des Einflußgebietes von Sowjetrußland stattfinden müßte. Das wäre in der Tat eine gewaltige Veränderung.
Sollte dies in der Tat ein politisches Konzept gewesen sein oder noch sein, was ich hier soeben mit der Nichtbeseitigung von Konfliktstoffen und dem daraus resultierenden Zwang der Welt, die Deutschen in den Mittelpunkt ihrer Entscheidungen zu stellen, angesprocheen habe, so ist ein solches Konzept durch die Entwicklung schlagend widerlegt worden. Es ist dazu noch ein gefährliches Konzept und wäre es jedenfalls auch die ganze Zeit gewesen. Entgegen nämlich dem, was Herr Professor Carstens hier über die Bereitschaft unserer Partner unseren nationalen Zielen gegenüber erklärt hat, ist doch erwiesen, daß diese Partner viele Jahre lang bei ihren regelmäßigen Ministerratstagungen im Atlantischen Bündnis nur noch wenig Bereitschaft gezeigt haben, unsere politischen Ziele in ihre gemeinsamen Verlautbarungen so aufzunehmen, wie wir das nach dem Auftrag des Grundgesetzes wünschen mußten. Es ist bemerkenswert und sollte auch die Sprecher der Opposition nachdenklich machen, daß erst die letzte NATO-Ministerratstagung dazu wieder bereit war, nämlich die im Dezember 1972. Sie hat unser Modus-vivendi-Konzept nicht nur ausdrücklich bestätigt, sondern auch unseren Willen zur Selbstbestimmung ausdrücklich unterstützt. Es ist bemerkenswert, daß unsere Partnerstaaten dies auch bei der Aufnahme ihrer Beziehungen zur DDR zum Ausdruck bringen, übrigens auch Staaten, die nicht dem NATO-Bündnis angehören. Es ist also nicht nur so, daß uns eine Isolierung gedroht hätte, wenn wir uns nicht in die allgemeine weltpolitische Entwicklung mit eingeschaltet hätten, sondern wir waren offensichtlich schon mitten in einer Isolierung.
Herr Cartens, Sie sollten dem Bundestag vielleicht doch einmal sagen, wie dem Sie, als Sie noch im Amt
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode —14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1973 615
Parl. Staatssekretär Moersch
waren — im Kanzleramt oder im Auswärtigen Amt, vor allem damals im Kanzleramt —, etwa die Aussichten für eine Berlin-Regelung der Vier Mächte eingeschätzt haben, und Sie sollten dann vergleichen
darüber gibt es Dokumente —, wie das Berlin-Abkommen jetzt aussieht, nachdem eine Bundesregierung erklärt hat — was Herr Dr. Mertes soeben als eigentlichen Sündenfall bezeichnet hat —, daß sie von der Existenz zweier Staaten in Deutschland ausgeht. Da liegt der Dissens zwischen unseren Auffassungen, Herr Dr. Mertes, der Dissens über die Zweckmäßigkeit. Aber der Erfolg gibt uns recht, und Sie können nicht beweisen, daß Sie recht gehabt haben.
-- Nein, das ist keine Frage. Diese Frage ist durch die Geschichte inzwischen beantwortet. Wenn wir schon von Vergangenem reden müssen, dann muß das Bild umfassend sein. Aber, wie gesagt, ich fürchte, wir haben in der Tat verschiedenartige Vorstellungen vom Politischen und damit auch verschiedene Vorstellungen darüber, wie man tatsächlich zur Sicherung des Friedens beitragen kann.
Hier ist übrigens nicht, wie uns der Kollege Abelein glauben machen wollte, von unserer Seite ein Unterschied zwischen Recht und Politik gemacht worden, keineswegs, sondern es ist zum Ausdruck gekommen — und das ist nicht ganz neu —, daß man sich in der Vergangenheit aus gutem Glauben — das soll gar nicht bestritten werden —, aus Furcht vor der Politik, d. h. aus Furcht vor schmerzhaften politischen Entscheidungen, wiederholt in eine sterile Juristerei geflüchtet hat,
daß man bestimmte juristische Formeln als Schutzschild gegen politische Veränderungen glaubte nutzen zu können. Das war Selbstbetrug in der deutschen Politik, keine auf das Recht gegründete Politik.
Gerade weil es bei den Rechtsfragen in der Tat auf Exaktheit ankommt, muß sich die Opposition hier einige Fragen gefallen lassen. Will sie denn ernsthaft behaupten, daß eine rechtliche Notwendigkeit bestanden hätte, im Grundvertrag den Fortbestand der Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten durch die beiden deutschen Staaten regeln oder feststellen zu lassen?
Als ob diese beiden Staaten über diese Rechte und Verantwortlichkeiten überhaupt hätten disponieren können!
— Ist es nicht vielmehr so, Herr Dr. Mertes, daß der Modus vivendi sehr viel deutlicher hervorgehoben und jedenfalls rechtlich einwandfrei unterstrichen wird, wenn die Vier Mächte selbst den Fortbestand
dieser Rechte und Verantwortlichkeiten in aller
Form feststellen, und zwar dort, wo ihr eigenes Verhalten vielleicht so gedeutet werden könnte, als ob sie damit von jenen Rechten und Verantwortlichkeiten abrücken oder ihnen einen anderen Inhalt geben wollten?
— Bei scharfem Nachdenken möglicherweise doch!— Das heißt: im Zusammenhang mit dem UNO-Beitritt der beiden deutschen Staaten, über den die Vier Mächte in sehr maßgeblicher Funktion in den Vereinten Nationen, nämlich als vetoberechtigte Mitglieder des Sicherheitsrates, mitentscheiden. Mit der Erklärung der Vier Mächte vom 9. November haben diese Vier Mächte nichts anderes festgestellt, als daß die rechtlichen Besonderheiten der Lage in Deutschland so bleiben, wie sie sind. Das bedeutet übrigens, daß die Bundesrepublik auch nach dieser Erklärung so souverän ist, wie sie es bisher war.
Ebenfalls unverändert blieben die Verpflichtungen, die die Drei Mächte der Bundesrepublik Deutschland gegenüber im Deutschlandvertrag
hinsichtlich der Ausübung ihrer besonderen Rechte und Verantwortlichkeiten bezüglich Deutschlands übernommen haben.
— Sicher! Es ist unerfindlich, wie von einer Aushöhlung gerade dieser Verpflichtungen nach dem Deutschlandvertrag von seiten der Oppositionssprecher geredet werden kann, wenn unsere Verbündeten selbst ausdrücklich die unveränderte Weitergeltung dieses Vertrags bestätigt haben. Wir können Ihnen im Ausschuß dazu noch einige Dokumente vorlegen, die Sie möglicherweise noch nicht kennen. Auch hier dürfte ein Blick in das Kommuniqué der letzten NATO-Ministerratskonferenz allein schon aufschlußreich sein.
Ich möchte es bei diesen Hinweisen zunächst einmal bewenden lassen und Sie noch einmal bitten, doch hier anläßlich der Debatten über Grundvertrag und UNO-Beitritt nicht den Versuch zu machen, die Geschichte der letzten 20 Jahre, die eine Geschichte vieler Irrungen und Wirrungen war und vielleicht auch sein mußte, sozusagen noch einmal als nachträgliche Rechtfertigung umzuschreiben. Alle die, die hier in diesem Hause sitzen, haben einen Prozeß des Lernens mitgemacht. Aber man muß auch die Kraft haben, Positionen nicht mehr zu verteidigen, die sich als politisch unrealistisch erwiesen haben. Man muß auch die Kraft haben, zuzugeben, daß etwa das, was von unseren Freunden noch 1958 gesagt wurde — in einer Debatte mit umgekehrten Vorzeichen —, schon damals eine Art historische Betrachtung war, daß die Tatsachen, die gerade Konrad Adenauer und die Alliierten und vielleicht vor ihm schon diejenigen gesetzt hatten, die die Währungsgebiete geschaffen hatten, von keiner Bundestagsmehrheit hatten aus der Welt geschafft werden können.
616 Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode —14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1973
Parl. Staatssekretär Moersch
Unsere Aufgabe ist es, diese Tatsachen so zu entwickeln, daß in der deutschen Frage die Entscheidungen offenbleiben, die wir dem Grundgesetz gegenüber offenhalten müssen, daß aber nicht mit dein Hinweis auf diese zukünftigen möglichen Entscheidungen das, was gegenwärtig an Friedenssicherung und an Sicherung der Freiheit erreicht werden kann, versäumt wird. Vergessen wir also den Streit des Vergangenen; arbeiten Sie bitte mit an einem realistischen Konzept deutscher Politik!