Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Präsidentin des 7. Deutschen Bundestages hat aus Anlaß ihrer Amtsübernahme am 13. Dezember 1972 vor diesem Hohen Hause erklärt:
Der Rolle der Opposition kommt eine entscheidende Bedeutung zu; denn sie trägt durch ihre prinzipielle Gegenposition zur Regierungspolitik zu jener Transparenz der politischen Verhältnisse und Verdeutlichung der politischen Alternativen bei, auf die der Bürger einen berechtigten Anspruch hat und die ihm erst die Entscheidung ermöglichen.
In der Tat, eine Regierung hat jedes Land der Welt, eine Opposition in Ihrem Sinne, Frau Präsidentin, haben nur die Länder, in denen das Recht und die Freiheit herrschen.
Also war und ist die Opposition das Zeichen der Herrschaft, des Rechtes und der Freiheit im westlichen Teil Deutschlands.
Diese ihre Bedeutung verleiht der Opposition nicht nur Rechte; sie erlegt ihr auch wesentliche Pflichten auf. Die Erfüllung dieser Pflichten wird dadurch noch schwerer, daß in unserem Lande eine „prinzipielle Gegenposition zur Regierung" — Zitat der Frau Präsidentin — allzuoft als Neinsagerei — ich erinnere mich an Zwischenrufe aus den Reihen der SPD von heute morgen — oder als Nörgelei
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oder als fehlender Gemeinschaftssinn mißverstanden wird.
Zwar äußert sich die kritische Rolle der Opposition in weiten Bereichen der Gesetzgebung sozusagen greifbar positiv. Aber, meine Damen und Herren, es gibt Situationen, in denen die Opposition wirklich opponieren, d. h. sich dagegenstellen muß. Zum Beispiel dann, wenn die Regierung behauptet, sie habe in großen nationalen Fragen gegenüber einer in diesem Hohen Hause 20 Jahre gemeinsam getragenen Politik eine bessere Alternative, ja, wie Herr Minister Bahr soeben wieder erkennen ließ, die bessere Alternative schlechthin zu der bisherigen Politik; und wenn demgegenüber die Opposition meint, der Weg der Regierung sei sachlich falsch oder mit zu schweren Risiken belastet. Mit anderen Worten: wenn die Regierung behauptet, sie führe uns vom Regen in den Sonnenschein, während die Opposition mit guten Gründen sagt, die Regierung führe uns vom Regen in die Traufe. Die Bundesregierung trägt ihrerseits in der Deutschland- und Ostpolitik die volle Beweislast für eine bessere Alternative, nicht die Opposition.
Die Bundesregierung selbst leugnet im übrigen nicht, daß auf ihrer Ost- und Deutschlandpolitik durchaus ernsthafte Risiken lasten. Sie rechtfertigt ihre Risikobereitschaft mit wachsender Entspannung und stabilerem Frieden, ohne jedoch zu sagen, meine Damen und Herren, welches die verbindlichen, die konkreten Maßstäbe dieser Entspannung und dieses sicheren Friedens sein werden.
Niemand in diesem Hohen Hause kann beweisen, ob Zukunftserwartungen solcher Art tatsächlich eintreten und fairerweise möchte ich hinzufügen: auch das Gegenteil kann nicht zwingend bewiesen werden. Aber es gibt sehr gute, sehr handfeste Argumente für unsere Befürchtung, daß auf die Dauer eine gegenteilige Situation, eine gegenteilige Wirkung eintritt: nämlich die Festschreibung der Ursachen der bisherigen Spannung, insbesondere der widernatürlichen Spaltung Deutschlands, die Schaffung zusätzlicher Spannungsursachen durch mehrdeutige Verträge und damit das Gegenteil der Friedensstärkung.
Ich möchte hier den Begriff „nationale Frage" herausgreifen. Die Regierung betont, daß hier ein Dissens offen ausgesprochen wird. Dazu muß ich sagen: In diesem Vertrag gibt es sehr viele Dissense; aber sie sind durch den Schein der Worte verdeckt. Was die „nationale Frage" angeht, so möchte ich im übrigen daran erinnern, daß dies ein Begriff aus den Lehrbüchern des Kommunismus ist. Schon Lenin hat einen berühmt gewordenen Aufsatz „Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage" geschrieben, Stalin hat darüber geschrieben; es ist daher keineswegs sicher, daß der Ostberliner Partner, wenn er von der „nationalen Frage" spricht, damit die Deutschlandfrage in dem Sinne meint, in dem wir hier davon sprechen.
Herr Kollege Flach er ist leider nicht da — hat
uns, die Christlichen Demokraten, allen Ernstes
eines Mangels an Friedens- und Versöhnungsethos
angeklagt. Kann er sich wirklich nicht vorstellen, daß verantwortungsvolle Frauen und Männer in diesem Hause, die sich mit leidenschaftlichem Engagement für Völkerverständigung und Abbau des Nationalismus eingesetzt oder die sich in langen Jahren von Amts wegen mit Fragen der praktischen Friedenssicherung befaßt haben, nach bestem Wissen und Gewissen zu dem Ergebnis kommen, diese Politik, diese konkrete Politik, schaffe schwerwiegende Elemente der Gefährdung des Gleichgewichts in Europa und damit des Friedens; und zwar nicht deswegen, weil sie ideologisch verblendet sind, sondern weil sie die Kräfteverhältnisse und die politischen Willensbewegungen unserer Zeit anders sehen als Sie, meine Herren von der Koalition.
In solcher Ungewißheit muß eigentlich jeder, dem an demokratischer Stabilität in der Bundesrepublik Deutschland und an der inneren Einheit unseres deutschen Nationalbewußtseins mit Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und europäischer Tradition gelegen ist, ein Interesse daran haben, daß die Kritik an den Gefahren der Regierungspolitik in nüchterner und eindeutiger Weise von der parlamentarischen Opposition geäußert wird,
und zwar, wenn es der Gegenstand erfordert, auch mit Leidenschaft. In solchen Fällen kann die staatspolitische Gemeinsamkeit durchaus die Form eines sehr tiefgreifenden Sachstreits haben, in dem jeder für die Durchsetzung seines Standpunktes kämpft. Ein solcher Fall liegt beim Grundvertrag vor.
Für unser Nein sind auch außenpolitische Zusammenhänge und Wirkungen des Grundvertrags, zu denen ich jetzt Stellung nehmen will, maßgebend. Zwar ist dieser Vertrag — so versichert uns die Bundesregierung — ein innerdeutsches Vertragswerk, eine Modus-vivendi-Regelung, also eine Übergangsregelung zwischen den beiden Teilstaaten in Deutschland, das nach dem Willen unseres Volkes, aber auch als Gegenstand der Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte trotz aller Spaltung von außen ein Ganzes ist und bleibt, so wie unsere Nationalhymne das Deutschlandlied ist, in dem wir Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland als das Ziel unseres Strebens bezeichnen,
so wie für mich, Herr Kollege Wehner, Ihre Partei, die aus der Geschichte unseres Volkes als eine große Partei nicht wegzudenken ist, nicht nur historisch, sondern auch programmatisch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und nicht die „SPBRD" ist.
Dem innerdeutschen Charakter tragen wir also Rechnung; übrigens auch dadurch, daß wir damit einverstanden sind, den Grundvertrag im Auswärtigen Ausschuß nicht zu behandeln. Denn auch wir wollen der leider gegenteiligen Auffassung Ost-Berlins, nämlich wir seien Ausland, sogar imperialistisches Ausland, keinesfalls Wasser auf die Mühle geben.
Gestatten Sie mir hier einen Hinweis. Ost-Berlin wertet die Formel „beide Staaten in Deutschland" neuerdings als eine „neorevanchistische These". Demgemäß ist also, Herr Bundesminister Bahr, die
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I Bundesregierung bereits neorevanchistisch. Denn sie eröffnet den Gesetzentwurf zum Grundvertrag mit dem Satz:
Dieser Vertrag hat das Ziel, über das organisierte Nebeneinander der beiden Staaten in
Deutschland zu einem Miteinander zu kommen.
Und damit nur ja kein Zweifel darüber besteht, was das Wort „Miteinander" nicht heißen darf, kritisiert das Zentralorgan der SED, das „Neue Deutschland", den innerdeutschen Teil Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler; vor allem, daß die Bundesregierung unter Miteinander offenbar die Verwirklichung der dem Frieden widersprechenden Parole von freier Bewegung von Personen, Informationen und Ideen versteht.
Meine Damen und Herren, machen wir uns also darauf gefaßt: Schon diese Bundesregierung wird, wenn sie ihrer jetzigen Auslegung des Grundvertrages und der Entspannungskonzeption unseres Bündnisses wirklich treu bleibt, in Zukunft des Neorevanchismus angeklagt werden.
Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß in unserem Lande bald einige Kluge auftreten werden, die dafür eintreten, daß wir uns dieser neuen Buhmannfunktion des Neorevanchismus aus nationalem Interesse schnellstens entledigen, indem wir der OstBerliner Regierung zusätzliche Beweise unseres guten Willens liefern. Die monumentalen Beweise guten Willens in den Jahren 1969 bis 1972 werden
) dann recht bald Schnee von gestern sein. Hier sind doch seit dem 28. Oktober 1969 diplomatische, ich möchte sagen: Erpressungsmechanismen in Gang gesetzt worden, von denen ich gern wüßte, wann sie eigentlich enden.
Im übrigen sagt Ost-Berlin schon jetzt, damit nur ja kein Zweifel über die Selbstverständlichkeit der bisherigen Leistungen entsteht: „Willy Brandt hat nichts anderes getan als die Realitäten anerkannt, und man kann sogar sagen, daß die Evolution der Situation ihn dazu gezwungen hat." Nicht einmal einen Hauch von Dankbarkeit ernten Sie, Herr Bundeskanzler.
Neben der schwerwiegenden, ja, entscheidenden Frage, ob dieser Vertrag unseren außenpolitischen Handlungsspielraum ausweitet oder einengt, auf die ich jetzt nicht näher eingehen werde, gibt es drei konkrete Anlässe, den Grundvertrag auf seine außenpolitischen Wirkungen zu überprüfen. Ich lasse dabei wichtige Fragen der praktischen Politik beiseite, etwa, wie unsere amtlichen Vertretungen im Ausland, wie die Goethe-Institute, vor allen Dingen in der Dritten Welt, in Zukunft darauf reagieren werden, wenn sich die amtlichen Vertretungen und Kulturinstitute der DDR als die Vertreter des wahren Deutschlands ausgeben werden, eines Deutschlands, das die humanistischen Traditionen Deutschlands in den Sozialismus übergeführt habe. Hier kommen schwerwiegende Personal- und Sachfragen auf unsere auswärtigen Vertretungen zu, die wir in keiner Weise unterschätzen sollten. Es wäre interessant, einmal hier im Parlament zu erfahren, was dafür an Vorbereitungen geleistet wird.
Drei konkrete Gründe sehe ich, die es nahelegen, den Grundvertrag auch außenpolitisch anzuleuchten. Erstens, die mit dem Vertrag verbundene Konsultationsvereinbarung zu Fragen, „die für die Sicherung des Friedens in Europa von Bedeutung sind" ; zweitens die deutsch-sowjetischen Absichtserklärungen von 1970, die praktisch einer Vorvereinbarung zwischen Bonn und Moskau über den Vertrag zwischen Bonn und Ost-Berlin gleichkommen; drittens die Wirkungen des innerdeutschen Gegeneinander, Nebeneinander und Miteinander in der UNO, wenn beide deutsche Teilstaaten einmal ihre Mitglieder sein sollten.
Meine Damen und Herren, zunächst einige Bemerkungen zum Thema „Konsultationsvereinbarung", das auch im Licht der Präambel und des Art. 3 des Grundvertrages gesehen werden muß, in dem sich beide Partner verpflichten — ich zitiere —, „friedliche Beziehungen zwischen den europäischen Staaten fördern und zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bei(zu)tragen". Ich fürchte, hier sind mit sehr allgemeinen Worten, die im Westen gut klingen, denen aber Ost-Berlin sehr konkrete Inhalte zugrunde legt, die uns allen in diesem Hohen Hause nicht passen können, Fundamente für manchen künftigen schweren Streit und manche Spannung gelegt worden.
Ost-Berlin qualifiziert z. B. den britischen EWG-Beitritt als eine „weitere Bedrohung der europäischen Sicherheit". Werden wir in Zukunft die weiteren Stufen der politischen Einigung Europas jeweils mit der DDR konsultieren müssen, weil dies zum Themenkreis des Artikels 5 des Grundvertrages, nämlich Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, gehört?
Was heißt es eigentlich, wenn Ost-Berlin am 9. Februar 1973 verkündet: „Unter Berücksichtigung des Primats der Politik wird ein echtes Wechselverhältnis spürbar zwischen friedlicher Koexistenz und europäischer Zusammenarbeit" ? Das ist doch wohl jener Koexistenzbegriff, der unter den Bedingungen des Nicht-Krieges in offensiver Weise — ich unterstreiche: in offensiver Weise — das europäische Kräfteverhältnis langsam, aber stetig und mit ideo- logischer Siegesgewißheit zugunsten der kommunistischen Staatengruppe verändern will.
Immer noch gilt dem Vertragspartner und der hinter ihm stehenden Sowjetunion die NATO, gilt unsere Zugehörigkeit zum westlichen Verteidigungsbündnis als Faktoren, die den Interessen des Friedens nicht dienen. Nach den politischen Kriterien der Kampfgemeinschaft des Warschauer Paktes — der Ausdruck steht fast täglich im „Neuen Deutschland" — ist dies sogar konsequent. Welches sind die Kriterien, die Sie der Gegenseite mit gleicher Zähigkeit und mit gleicher Klarheit entgegensetzen? Ein sehr namhafter und kenntnisreicher Journalist, den ich für sehr vertrauenswürdig halte, Günther Gillessen von der FAZ, weiß neulich in der FAZ zu berichten: „Der europäischen Entspannung stünden, so meinte Bahr weiter, einstweilen noch drei große Hindernisse im Wege: die Militärbündnisse, die ,Gesellschaftsfrage' und die ,Machtfrage'. Über die Mili-
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tärbündnisse könne man vielleicht in ein paar Jahren verhandeln."
Dazu fragt Herr Gillessen — und ich habe das ernst genommen, deshalb sage ich es hier —: „Wie die deutsche Entspannungspolitik weitergehen soll, als weitere Anpassung oder als Ringen um Freiheit, das wird sich nun an den nächsten Schritten Bonns zeigen. Es wird höchste Zeit, im Parlament ein paar gründliche Fragen zu stellen." Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf diese Aufforderung eines verantwortungsbewußten Beobachtern stelle ich heute diese Frage.
Auch die Bundesregierung betont immer wieder, daß unser Volk hüben und drüben in gegensätzlichen politischen Ordnungen lebt. Es fällt aber auf, wie sehr sie es vermeidet, die offensiven Elemente der anderen Seite zu erwähnen, die diese übrigens nicht verheimlicht — im Gegenteil! Hier ist eben von gegenseitiger Feindseligkeit gesprochen worden. Wenn ich täglich das „Neue Deutschland" lese, so stelle ich fest, daß der Gedanke und die Praxis der Feindseligkeit eine ausgesprochen einseitige Angelegenheit ist.
Von gegenseitiger Feindseligkeit kann hier keine Rede sein.
Im übrigen liegt es in der Natur der Sache, daß sich jeder politische Wille die Mittel sucht, mit denen er sich — ohne Krieg — durchsetzt. Ist es denn auszuschließen, daß für die DDR-Regierung, für die SED und die KPdSU, der Grundvertrag ein Instrument zur Durchsetzung von Zielen ist, die den unseren entgegengesetzt sind? Auf diese Frage lege ich großen Wert, denn der instrumentelle Charakter solcher Verträge für die Politik der anderen Seite wird in der deutschen Öffentlichkeit verhältnismäßig wenig behandelt.
Es hat wenig Sinn, meine Damen und Herren, diesen schwerwiegenden Fragen mit der Beschwörung der eigenen Entspannungshoffnungen oder dem Vertrauen auf eine ansteckende Kraft des eigenen Friedenswillens zu begegnen. Meine Damen und Herren, eine vertragliche Ansammlung von dissensbelasteten Allgemeinheiten, und sei es die Charta der Vereinten Nationen — Herr Bahr, Sie haben am 26. Oktober im „Flensburger Tageblatt" daran erinnert — ist das Gegenteil einer berechenbaren Außenpolitik.
Bei der außenpolitischen Würdigung des Grundvertrages darf ich weiterhin an einen wichtigen Sachverhalt erinnern, der leider schon vergessen oder geflissentlich übersehen wird. Der politischrechtliche Kern des Grundvertrages ist zwischen Bonn und Moskau, d. h. zwischen dem damaligen Staatssekretär Bahr und Außenminister Gromyko, bereits im Frühjahr 1970 in der Substanz vorweg ausgehandelt worden. Die deutsche Öffentlichkeit
hat damals übrigens monatelang eine andere Variante des neuen politischen Wahrhaftigkeitsbegriffes erlebt, nämlich die wiederholte Versicherung unseres Moskauer Unterhändlers, er führe mit dem sowjetischen Außenminister lediglich einen Meinungsaustausch.
Der Deutsche Bundestag, die deutsche Öffentlichkeit und die Westmächte erfuhren erst nach dem Vollzug der vollendeten Tatsachen die Wahrheit oder, wenn Sie die Ausdrucksweise des Herrn Bundesminister des Auswärtigen vorziehen, „die zutreffende Bezeichnung der Wirklichkeit".
Die deutschsowjetische Vorabsprache zum Grundvertrag ergibt sich aus den Leitsätzen 5, 6 und 7 des sogenannten Bahr-Papiers, dessen erste vier Leitsätze praktisch den Moskauer Vertrag vorwegnahmen. Vergleichen Sie die Texte bitte selbst; es gibt einige Verbesserungen dank der Bemühungen des Bundesministers des Auswärtigen und des Auswärtigen Amtes. Die Leitsätze 5 bis 10 wurden zu Absichtserklärungen, die Moskau und Bonn als bindende Übereinkunft betrachteten, wie sich aus dem Kommuniqué von Oreanda vom September 1971 ergibt.
Ich tippe darauf, daß die Sowjetregierung die Bundesregierung auf die Durchführung dieser Absichtserklärungen vor dem 19. November 1972 gedrängt hat. Sagen Sie mir es, wenn ich mich irre!
Wußte die klug beobachtende Sowjetbotschaft doch, daß die Bundesregierung der CDU/CSU-Fraktion und den CDU/CSU-geführten Ländern im Frühjahr 1972 öffentlich versichert hatte, die Absichtserklärungen gehörten nicht zum Ratifizierungsverfahren und bänden eine CDU/CSU-geführte Bundesregierung nicht. Das politische Interesse der Sowjetregierung an der politisch-rechtlichen Substanz des Grundvertrages und das Wahlkampfinteresse der Bundesregierung an spektakulären, telegenen Verhandlungserfolgen im Bereich der menschlichen Erleichterungen ergänzten sich sozusagen auf das glücklichste — eine unheimliche Konvergenz, muß ich sagen.
Während schon der Moskauer Vertrag die deutsch-polnische Grenzlinie auf eine Stufe mit der innerdeutschen Demarkationslinie anhob und andere gefährliche Mehrdeutigkeiten schuf, deren deutsche Auslegung durch den Brief des Bundesaußenministers an die Sowjetregierung und durch die Entschließung von Bundestag und Bundesrat vom Mai 1972 verbindlich gesichert werden konnte, gehen die Absichtserklärungen 6, 7 und 10 erheblich weiter.
Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, daß in diesem Bahr-Papier eine Formulierung gestanden hat — sie kam dann auch in den Moskauer Vertrag —, die die Frage meines Kollegen Professor Carstens zur Nichtberücksichtigung Berlins durchaus rechtfertigt. Ich meine die Formulierung, die
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Bundesrepublik Deutschland erhebe keine Gebietsansprüche gegen irgend jemanden und werde solche auch in Zukunft nicht erheben. Nach sowjetischer Auffassung aber sind nicht nur die friedlichen Ziele unserer Deutschlandpolitik sowie unser Rechtsstandpunkt zur Grenzfrage und zur Wiedervereinigung, sondern auch die Berlin-Präsenz des Bundes Ausdruck eines völkerrechtswidrigen territorialen Anspruchs. Moskau hat Bonn ausdrücklich rechtswidrige Anschläge auf West-Berlin und eine „Linie der Annexion dieser Stadt, die nicht zur BRD gehört", vorgeworfen. Wenn aber der mehrdeutige Begriff „Gebietsansprüche" im Wissen um die sowjetische Auffassung vom deutschen Unterhändler ins Bahr-Papier übernommen wurde, dann mußte geklärt werden, ob ausgeschlossen ist, daß die Sowjetunion darunter auch unsere Rechtsauffassung. zu Berlin fallen läßt.
Wenn wir jetzt sehen, daß die Regierung der DDR die Frage der Verbindung Berlins mit der Bundesrepublik Deutschland restriktiv interpretiert — ich würde mich nicht einmal wundern, wenn sie in Zukunft fordert, daß die Bezeichnung „Land Berlin" wegfällt —, dann kann ich nur sagen: in der Substanz war und bleibt die Frage von Herrn Professor Carstens durchaus gerechtfertigt.
Ich komme, meine Damen und Herren, auf die Erklärungen des Bahr-Papiers zurück, die ich als Vorvertrag zum Grundvertrag bezeichnet habe.