Rede von
Kurt
Mattick
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer heute morgen das Kampfblatt der CDU gelesen hat, der ist über den Ablauf dieser Diskussion nicht überrascht. Dort steht — ich möchte das gern noch einmal in Erinnerung rufen —:
Aber die Irrtümer, die an der Grenze bluten und in Berlin auf der Seele lasten, zwingen die Verantwortlichen
— damit ist unsere Regierung gemeint —
zu einem komplicen- und kumpelhaften Verhalten gegenüber der „anderen Seite",
nur um den Schein des Erfolges zu wahren.
Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode —14. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Februar 1973 555
Mattick
Dann heißt es am Schluß:
Damit gefährdet sie aber nicht nur den Bestand der Nation. Sie gefährdet unsere Würde.
Ich kann nur sagen, meine Damen und Herren: Das ist eine schöne Würde, mit der wir es heute hier zu tun haben.
Ich habe bei Herrn Professor Carstens den Eindruck gehabt,
daß die Pause, die er hier im Deutschen Bundestag hat einlegen müssen, ihm nicht geholfen hat, über die Vergangenheit hinwegzukommen.
Der Zwischenruf, der gemacht worden ist, ist nicht von mir, aber er ist gar nicht so falsch: „Der Herr Professor Hallstein des 7. Bundestages!"
Lassen Sie mich hier zunächst —
— Herr Reddemann, der Zwischenruf konnte nur von Ihnen kommen; geschenkt, kann ich nur sagen. — Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zunächst einmal einige grundsätzliche Bemerkungen zu der Auseinandersetzung machen. Wir haben hier wieder geschichtliche Reminiszenzen gehört und den Versuch erlebt, die Brücke zum Bismarckschen Reich zu schlagen.
— Herr Dr. Marx, für mich ist immer eines besonders erstaunlich bei diesen Diskussionen: daß Sie niemals bei Ihren Betrachtungen über die Frage der Nation, wie sie geworden ist und was daraus wird, einen entscheidenden Punkt in Ihre Betrachtungen mit einbeziehen, nämlich den — jetzt werde auch ich in diesem Zusammenhang einmal geschichtlich —, daß im Jahre 1917 das deutsche Kaiserreich Herrn Lenin gestattete, durch Deutschland zu fahren, um in Rußland den Widerstand aufzubauen, damit der Krieg gegen Rußland leichter gewonnen werden konnte. Die Antwort darauf hat die Geschichte gegeben. Wahrscheinlich wäre die kommunistische Entwicklung auch ohne diese Reise Lenins erfolgt. Aber immerhin hat das deutsche Kaiserreich eine ganze Menge dazu beigetragen, daß der Prozeß so abgelaufen ist.
Und nun, meine Damen und Herren, verstehe ich eines nicht. Diese Welt, von der Sie reden, von Bismarck bis heute, ist seit 1917 gespalten. Dieses Europa ist gespalten, und nicht in Nationen, sondern in Weltanschauungen, die eine machtpolitische Trennungslinie schufen, dies ist nun in der Geschichte seit
Bismarck. Dies hat wahrscheinlich Herr Strauß besser begriffen als Sie, die Sie hier heute bisher diskutiert haben. Herr Strauß hat am 5. Februar in einem aktuellen Interview des Rundfunks gesagt:
Ich glaube, daß niemand, der ein überzeugter Demokrat ist, und niemand, der sein Land und sein Volk liebt, die Einheit an die oberste Stelle rücken kann.
Niemand, so fuhr er fort, könne eine Wiedervereinigung im Zeichen einer kommunistischen Gesellschaftsordnung der Unterdrückung und des Kollektivs wünschen. In der Deutschlandpolitik besteht nach seiner Ansicht zwischen der Bundesregierung und der Opposition ein gewisses Maß an Gemeinsamkeit, wenn es darum geht, aus dem Moskauer und dem Warschauer Vertrag das Beste zu machen.
Nun darf ich einmal mit Ihnen gemeinsam eine Überlegung anstellen. Wenn wir uns einig darüber sind, daß die weltanschauliche Grenze zwischen beiden Teilen Europas maßgeblich für die heutige Lage ist und es ohne Einbeziehung dieser Überlegungen auch keine nationale Überlegung geben kann, dann werden Sie mir doch in folgendem zustimmen; hoffe ich jedenfalls. Ich bitte auch Professor Carstens, sich das einmal zu überlegen. Was steht im Vordergrund, wenn wir heute Politik machen, die Frage der Einheit der Nation im staatlichen Sinne oder die Frage des Zusammenhalts der Nation in einer Periode, in der infolge der weltanschaulichen, ideologischen und damit machtpolitischen Grenze durch Europa eine nationale Wiedervereinigung, solange es diese ideologische Machtposition gibt, nicht möglich ist? Sie lassen doch bei Ihrer Propagandarede hier völlig außer acht, daß es, bevor es nicht als Folge einer neuen Politik auf langem Wege zwischen den beiden Teilen Europas — und praktisch auch der Welt — Brücken der Verständigung gibt, die die ideologischen Machtpositionen in ihrer heutigen Härte überwinden, überhaupt keine Möglichkeit der Wiedervereinigung der Nation gibt.
Was steht also im Vordergrund unserer Politik? Nicht der Gedanke — wie Herr Strauß mit Recht sagte —: Wie kommen wir zur staatlichen Einheit, zur nationalen Einheit?, sondern doch einzig und allein die Frage: Welche Politik muß es geben, um auf langem Wege zwischen dem westlichen Europa und dem östlichen Europa, in das der Teil Deutschlands einbezogen ist, der sich DDR nennt, etwas zu erreichen? Solange es zwischen diesen beiden Teilen keine politischen und keine gesellschaftspolitischen Brücken gibt, die die ideologische Spannung überwinden, gibt es überhaupt keine Chance, in der deutschen Frage einen Schritt weiterzukommen. Solange Sie das nicht in Ihre Überlegungen einbeziehen und immer auf dem Standpunkt bleiben, Sie hätten recht und die Deutschen hätten recht, wenn Sie Einheit fordern, und nicht in Rechnung stellen, daß die Frage des Rechts bei den machtpolitischen Entwicklungen nach dem zweiten Weltkrieg überhaupt keine Bedeutung hat, reden Sie an den Wirklichkeiten der heutigen politischen Lage total vorbei. Darüber sollten Sie sich erst einmal klar werden. Alles, was hier heute in dieser Beziehung von der Opposition gesagt worden ist, was wir tun wollen,
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wovon wir ausgehen sollten, bezieht sich immer noch auf die alte Formel, die Sie so gerne in Erinnerung rufen, die in den Pariser Verträgen einmal lose vereinbart worden ist, daß nämlich die Einheit Deutschlands das gemeinsame Ziel ist,
wobei übersehen wird, daß der Westen Europas und auch die Vereinigten Staaten inzwischen längst begriffen haben, daß wir es mit einer Trennung durch Europa zu tun haben, die nichts entscheidend mit nationalen Interessen, sondern mit der Frage zu tun hat, welche Chancen es in einer Welt, in der wir den Frieden sichern wollen, gibt, gleichzeitig schrittweise zwischen diesen beiden Teilen Europas Brükken zu schlagen, um die politischen Spannungen zwischen Ost und West, die aus der Ideologie, machtpolitisch untermauert, entstanden sind, zu überwinden. Darin liegt die Aufgabe, die meiner Ansicht nach unsere Generation hat, wenn sie die Frage der nationalen Einheit in einem neuen Europa, das sich einmal einheitlich bilden kann, überhaupt noch im Auge behalten will. Meiner Ansicht nach ist daher in der Gesamtbetrachtung der Politik zwischen uns und Ihnen ein Graben, der im Augenblick nicht zu überbrücken ist. Davon müssen wir ausgehen, das hat die Einleitung der heutigen Debatte noch einmal gezeigt.
Die zweite Bemerkung, die ich machen möchte, ist folgende: Herr Barzel hat hier heute wieder Forderungen aufgestellt, die als sogenannte absolute Forderungen unserer Seite angesehen werden müssen. Ich verstehe dies nicht. Auf der einen Seite geht seine Darstellung der DDR, des kommunistischen Regimes davon aus, daß wir es immer noch mit einer absoluten Feindschaft zu tun haben. Auf der anderen Seite verlangt und erwartet Herr Barzel, daß die Regierung mit diesem Partner, den Herr Barzel nicht als Partner, sondern mehr als Feind sieht, Verträge aushandeln kann, die in die Wirklichkeit der Landschaft des sowjetischen Systems heute noch lange nicht hineinpassen. Ich sage Ihnen eines, meine Damen und Herren, der Grundvertrag beinhaltet einen Modus vivendi, enthält das, was zu dieser Zeit erreichbar ist, und ist ein Werkzeug für die weitere Politik auf dem Wege der schrittweisen Überwindung der Spannungen. Die Forderungen, die Herr Barzel hier wieder an einen solchen Vertrag geknüpft hat, könnten selbst dann, wenn sie auf dem Papier stünden, in dem Sinne von der anderen Seite gar nicht so schnell realisiert werden. Mir ist ein Vertrag lieber, der Bedingungen, die von der anderen Seite noch nicht realisiert werden können, nicht festschreibt, weil sich nämlich mit diesem Festschreiben die Spannungen verstärken und keine Brücken geschlagen werden können. Ich sehe den Grundvertrag als eine vertragliche Vereinbarung, die, von der jetzigen Situation ausgehend, Bedingungen festlegt, unter denen es möglich ist, mit der DDR Gemeinsamkeiten zu entwickeln, die auf den Weg zu einem besseren Kontakt und zu einer Zusammenarbeit führen können. Andere Verträge kann man gar nicht erwarten unter den Bedingungen zwischen Ost und West, wie sie heute sind.
Nun hat Herr Dr. Barzel einige Bemerkungen gemacht, die ich damit beschreiben möchte, daß er dieser Regierung den Vorwurf gemacht hat, sie habe sich bei dem Wertrag nicht genügend bemüht, Konkretisierungen festzulegen. Herr Dr. Barzel, die Regierung hat damals gesagt und sagt es heute auch — und wir auch —: Wir können nur Vereinbarungen treffen, um einen schrittweisen Prozeß einzuleiten, der dazu führt, daß die kommunistischen Länder durch Gemeinsamkeiten, die wir entwickeln, letzlich auch Konsequenzen aus diesen Gemeinsamkeiten ziehen.
Sie haben von Helsinki gesprochen. In Helsinki hatten wir unter anderem auch eine Parlamentarierkonferenz, in der der Versuch gemacht wurde, eine gemeinsame Plattform aller europäischen Parlamentarier unter Einbeziehung der USA und Kanadas zustande zu bringen. Wir haben auf dieser Konferenz eine Reihe von Beschlüssen gefaßt, die nach langer Vorarbeit in den Ausschüssen zu einer einheitlichen Haltung aller Beteiligten geführt haben.
Lassen Sie mich hier einiges darstellen, um Ihnen zu zeigen, wie weit man auf solchem Wege kommen kann. Ich kenne jetzt schon die Einwände; darauf komme ich noch zu sprechen. Es heißt da u. a.: zwischenmenschliche Kontakte: Verbesserung der Bestimmungen und Verfahren für die Grenzüberschreitung europäischer Staatsbürger, Bemühungen um eine humanitäre Führung der Verhandlungen auf Regierungsebene über die Beseitigung der Probleme im Zusammenhang mit der Trennung von Familienangehörigen, die ihre Wiedervereinigung anstreben, Entwicklung des Austausches von Touristen und Berufstätigen, insbesondere von jungen Leuten, zum besseren Verständnis und gegenseitigen Nutzen.
Im Punkt „Informationen" haben wir beschlossen: freier Informationsfluß durch die Beseitigung von Hindernissen für den Austausch von Gedanken, Büchern, Zeitungen sowie Radio- und Fernsehprogrammen, wobei das Recht jedes Landes auf Schutz seiner kulturellen und politischen Werte anerkannt wird, Maßnahmen, die darauf abzielen, ausländischen Journalisten ihre Tätigkeit zu erleichtern und die Sicherheit von Medienberichterstattern in allen Ländern zu gewährleisten, Nutzung der Massenmedien zum Zwecke einer umfassenden gegenseitigen Verständigung.
Unter „Menschenrechte" heißt es: ... fordert die Mitglieder der teilnehmenden interparlamentarischen Gruppen auf, in ihren jeweiligen Ländern auf der Notwendigkeit zu bestehen, die Grundsätze der allgemeinen Menschenrechtserklärung verstärkt anzuwenden, die Ratifizierung der internationalen Konventionen über die Menschenrechte zu beschleunigen. — Dies sind Beschlüsse, die einstimmig, also auch mit den Stimmen aller Mitglieder der Ostblockstaaten einschließlich der DDR, gefaßt worden sind.
Ich möchte jetzt daraus folgende Schlußfolgerungen ziehen. Natürlich gehen diese Parlamentarier nach beiden Seiten Europas nach Hause und wissen, daß in einigen Ländern solche Forderungen noch nicht erfüllbar sind. Aber es werden einige Men-
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sehen dabei sein, die sich das, was wir da beschließen, auch noch etwas mehr überlegen und allmählich auch zu Hause darüber reden. Wir bringen mit diesen Beschlüssen das Gespräch in Europa über diese Probleme, die hier anstehen, in Fluß. Wir sorgen mit diesen Zusammenkünften dafür, daß es in allen Ländern Europas Menschen gibt, die durch die Teilnahme an diesen Konferenzen, durch die Mitberatung auf diesen Konferenzen und durch die Beschlüsse, die sie dann mit uns fassen, letztlich auch dazu veranlaßt werden, in ihren Heimatländern an diesen Fragen zu arbeiten, zu diskutieren und ihnen unter Umständen auch auf langem Wege näherzutreten.
Ich sehe nun wieder — ich muß das immer wieder feststellen, Herr Reddemann — Ihre freundliche Geste dabei, so mit den Gedanken, die Sie haben: Dies ist alles Schein. Nun frage ich Sie, was dann, wenn das Ihrer Auffassung nach alles Schein ist, was die DDR-Abgeordneten und die russischen Abgeordneten und andere da mit uns beschließen, Ihre ganze Diskussion hier soll. Wir machen einen Grundvertrag, in dem wir in der Formulierung nicht weiter gehen, als wir wissen, daß auch die DDR es zur Zeit realisieren kann, sogar auch noch schrittweise. Dies halte ich für eine logische und reale Politik. Ihre Forderungen gehen weit darüber hinaus und verlangen von uns einen Vertrag, den die DDR noch nicht abschließen kann; wenn sie es machen würde, würde sie es eben scheinheilig tun.
Wenn man sich diese Diskussion von Anfang an hier vor Augen hält, dann müßte man doch einmal fragen: Was ist eigentlich eine zweckmäßige reale Politik? Ich halte den Grundvertrag, wie er abgeschlossen worden ist, nach all dem, was wir davon wissen, wie der Ablauf war, für das Ergebnis der Ausschöpfung aller Möglichkeiten, die sich zu der Zeit angeboten haben.
Herr Carstens hatte sich hier hingestellt und gesagt: Wir haben überall klein beigegeben. Da darf ich doch an die illegale Veröffentlichung der „Quick" über die Forderungen erinnern, die die DDR zum Beginn dieser Verhandlungen aufgestellt hat. Wenn Sie das mit dem Ergebnis von heute vergleichen, dann sehen Sie die tiefe Veränderung dessen, mit dem die DDR in die Verhandlungen gegangen ist, in das, was auf dem Wege der Verhandlungen daraus geworden ist. Das wünschen Sie nicht zu hören, obwohl Sie damals Wert darauf gelegt haben, daß die „Quick" das Papier in die Hand bekam und veröffentlichte. Es ist sehr interessant, heute diesen Vergleich zu ziehen, um einmal festzustellen, wie der Ausgangspunkt der Gespräche war und was das Ergebnis in diesem Grundvertrag ist.
Meine Damen und Herren, wenn ich mir die Debatte von heute morgen vor Augen halte, komme ich zu folgendem Schluß. Die CDU sagt zu diesem Vertrag nein.
Sie kann es sich diesmal erlauben, weil sie weiß,
daß eine ausreichende, gute Mehrheit in diesem
Hause vorhanden ist. Sonst würde sie in der gleichen Schwierigkeit wie im April des vergangenen Jahres stehen.
— Warum nicht? Ich kann das sagen, weil es so ist und weil wir es erlebt haben. Sie würden heute vor derselben Schwierigkeit stehen, weil Ihre ganze Argumentation hier und auch das Ja zum Beitritt zur UNO deutlich gezeigt haben, wie Ihre Mampehalb-und-halb-Situation liegt.
Sie wissen, daß der Grundvertrag im Hause eine ausreichende Mehrheit hat. Deswegen können Sie sich aus Ihrer inneren Schwierigkeit heraus erlauben, dazu nein zu sagen. Sonst würde Ihre innere Schwierigkeit Sie wieder dazu bringen, „jein" zu sagen. Das ist Ihre in dem Sinne günstigere Lage, in der Sie sich nach der Wahl vom 19. November befinden. Sie haben etwas mehr Zeit, mit diesen Problemen fertigzuwerden.
—Wieso? Das ist mit im Gespräch, Herr Dr. Marx. Es steht nämlich mit auf der Tagesordnung.