Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der ersten Erklärung vor diesem, dem 7. Deutschen Bundestag am 15. Dezember vergangenen Jahres hatte ich angekündigt, daß die Bundesregierung den „Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik" noch vor Weihnachten unterzeichnen werde. Die Unterzeichnung erfolgte, wie Sie wissen, am 21. Dezember 1972.
In meiner Regierungserklärung vom 18. Januar dieses Jahres habe ich hierauf Bezug genommen und gesagt, wir seien entschlossen, den Vertrag mit der DDR politisch und rechtlich konsequent durch -z u f ü h r en und ihn im Interesse der Menschen in beiden Staaten a u s z u f ü lle n. Dabei wies ich aus meiner Sicht der Dinge auch darauf hin, daß es sich um einen langen und steinigen Weg handeln werde. Gleichwohl vertrat ich die Auffassung, daß für den Ausgleich in Europa, zwischen Ost und West, bessere Voraussetzungen geschaffen worden seien, und zwar „mit den Verträgen von Moskau und Warschau, dem Berlin-Abkommen der Vier Mächte, den dazu gehörenden Vereinbarungen auf der deutschen Ebene und dem Grundvertrag", oder, wie andere ihn abkürzen, Grundlagenvertrag mit der DDR.
Dies, meine Damen und Herren, ist also aus der Sicht der Regierung die Beurteilung, die man bei den hier anstehenden Gesetzen zugrunde legen sollte. Herr Präsident, wenn ich sage „bei den hier anstehenden Gesetzen", dann meine ich damit sowohl das soeben durch Sie aufgerufene wie das andere, das den vorgeschlagenen Beitritt zu den Vereinten Nationen zum Gegenstand hat. Zu beiden Gesetzen
— also auch dem über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Charta der Vereinten Nationen
— liegen schriftliche Begründungen vor, auf die ich mich beziehen kann.
Vielleicht darf ich dies gleich hinzufügen: Die außenpolitischen und die deutschlandpolitischen Fragen, die uns in den vergangenen Jahren so oft beschäftigt haben, werden sicher noch lange im Streit der Meinungen stehen, aber ihre Klärung wird ja nicht notwendigerweise durch die Länge der Debatten oder die Wiederholung von Diskussionsbeiträgen gefördert werden. Das Votum der Wähler ist ohnehin bekannt; aber wir werden uns nach den Ausschußberatungen und vor der Beschlußfassung hier im Plenum des Bundestages noch einmal zu äußern haben.
Bei allen Meinungsverschiedenheiten, meine Damen und Herren, ist im übrigen, wenn ich es richtig verstanden habe, nicht umstritten gewesen, daß die einzelnen Stationen und Elemente unserer Ost-West-Politik — oder wie ich auch sage: unserer Politik der aktiven Friedenssicherung — im Zusammenhang miteinander gesehen werden müssen. Unser Verhältnis zur DDR kann gewiß nicht losgelöst von den Beziehungen mit den übrigen Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes betrachtet werden. Ich möchte dazu, was die bilateralen Aspekte angeht, vier Feststellungen treffen.
Erstens. Der Vertrag mit der UdSSR, den der vorige Bundestag gebilligt hat, zeigt bereits seine positiven Auswirkungen, ohne daß er irgend jemanden benachteiligt. Die Beratungen der Wirtschaftskommission, die in diesen Tagen in Moskau geführt wurden, haben den Willen beider Staaten unterstrichen, realistisch, aber konsequent die Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten zu entwickeln. Herr Kollege Friderichs, der Bundeswirtschaftsminister, der gestern auch mit dem Vorsitzenden des Ministerrats, Herrn Kossygin, zusammentraf, hat mich noch aus der sowjetischen Hauptstadt wissen lassen, daß er, der Bundeswirtschaftsminister, beträchtliche Möglichkeiten sieht, auf den Gebieten des Austauschs und der Kooperation Fortschritte zu erzielen. — Das war die eine Feststellung, die ich treffen wollte.
Die zweite ist folgende. Die Konsultationen auf hoher Beamtenebene, die Anfang dieses Monats in Warschau, in der Hauptstadt der Volksrepublik Polen, stattgefunden haben, weisen aus, daß beide Regierungen selbst über sehr schwierige und komplizierte Punkte sachlich und in großer Offenheit miteinander sprechen können. Das ist nicht alles, aber es ist etwas anderes als früher. Dies läßt uns hoffen, meine Damen und Herren, daß im beiderseitigen Interesse Fortschritte erzielt werden können. Aus unserer Sicht behält die Familienzusammenführung dabei besondere Bedeutung.
Drittens. Mit Aufmerksamkeit haben wir Äußerungen aus Prag verfolgt, die das Verhältnis der CSSR und der Bundesrepublik Deutschland betreffen. Nun ist bekannt, daß wir uns politisch und moralisch von der Politik, der Hitlerscheu Aggressionspolitik, distanzieren, die zum Münchener Abkommen geführt hat. Wir sind auch bereit, das Münchener Abkommen für ungültig zu erklären. Wir hoffen — und ich meine, bei gutem Willen auf beiden Seiten sollte dies möglich sein , daß eine gemeinsame Formulierung für diese Feststellung gefunden werden kann.
Viertens. Es ist bekannt — aber ich möchte es hier ausdrücklich unterstreichen —, daß die Bundesregierung seit geraumer Zeit daran interessiert ist, diplomatische Beziehungen auch mit Ungarn und Bulgarien aufzunehmen.
In der Regierungserklärung vom 18. Januar hatte ich nun auf die inzwischen eingeleitete multilaterale Phase der Ost-West-Beziehungen hingewiesen. Lassen Sie mich hierzu drei weitere Feststellungen treffen.
Erstens. Das Abkommen der Vier Mächte vom Frühsommer vergangenen Jahres hat für die Lage in und um Berlin eine fühlbare Entlastung gebracht. Schwierigkeiten im einzelnen wollen wir nicht übersehen, auch nicht gering schätzen, aber sie sollten, so denke ich, uns nicht den Blick für die unvergleichlich verbesserte Gesamtsituation verbauen.
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Mit dem routinemäßigen Aufgreifen früherer Vorschläge und Erwägungen ist den neuen Problemen hier zumeist nicht beizukommen.
Die Bundesregierung möchte jedenfalls dazu beitragen, daß das Berlin-Abkommen in jedem einzelnen seiner Punkte reibungslos funktioniert.
Zweitens. Die positive Einschätzung, die der Bundesaußenminister — er kann, wie Sie wissen, bei dieser Debatte nicht dabei sein, wird ihr aber, wie ich annehme, am Fernsehschirm folgen; ich glaube, daß ich nicht fehlgehe, wenn ich sage, daß wir ihm alle miteinander gute Besserung wünschen —
Ende Januar bei seinem Bericht über seine Besprechungen in Paris auch über die Vorbereitungen auf die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa deutlich werden ließ, hat sich durch die inzwischen weitergeführten Vorverhandlungen bestätigt. Unsere Delegation in Helsinki war und ist aktiv und konstruktiv beteiligt. Wir halten es für möglich, daß die Konferenz der Außenminister im Sommer stattfindet.
Drittens. Bei den anderen europäischen Entspannungsbemühungen, nämlich den Vorgesprächen über Fragen einer gleichmäßigen und ausgewogenen Reduzierung von Truppen, Vorgesprächen, die vor kurzem in Wien begonnen haben, zeigen sich — wen überrascht es eigentlich?! — von Anfang an die großen Schwierigkeiten dieser Materie. Wir sind in engem Kontakt mit den Beteiligten, insbesondere den Vereinigten • Staaten, entschlossen, diese Gespräche zu fördern, und wir hoffen, daß durch die beiden Konferenzen mehr Sicherheit und bessere Zusammenarbeit in Europa erreicht werden kann.
Meine Damen und Herren, ich habe auf diese Faktoren hinweisen wollen, weil der Vertrag mit der DDR meines Erachtens nicht isoliert beurteilt werden kann.
Selbstverständlich gibt es eine ausgesprochen nationale Dimension dieses Problems und damit des Vertrages, dessen Beratung ich hier einleite. Aber wir haben es eben auch mit jener anderen Dimension zu tun, die sich daraus ergibt, daß die Supermächte ebenso wie die Staaten Europas den Kalten Krieg hinter sich gelassen haben.
Nun stellt sich die Frage, meine Damen und Herren: War und ist eine Entspannung in Europa organisierbar, ohne daß die beiden deutschen Staaten, was immer sie voneinander halten und was andere von ihnen halten, ihren Beitrag dazu leisten? Ich meine, die Antwort ist Nein.
Die Deutschen — wir Deutschen — das war und ist meine feste Überzeugung seit Jahren — wären mit einem Hauptstrom des weltpolitischen Geschehens in Konflikt geraten, hätten sie sich — hätten wir uns — in einem Europa, das trotz aller weiterbestehenden Differenzen auf Kooperation aus ist, als Inseln oder
auf Inseln einer erstarrten Feindseligkeit etablieren wollen.
Entspannung in Europa ist ohne Mitwirkung der beiden deutschen Staaten nicht möglich; sie ist zumal ohne aktive Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland nicht möglich, es sei denn um den Preis der Zerstörung der freundschaftlichen Bindungen zu unseren Partnern und Verbündeten im Westen.
Dies kann nicht deutlich genug gesagt werden: Unsere Politik, wie sie auch im Vertrag vom 21. Dezember 1972 ihren Niederschlag findet, entspricht einer der Grundentscheidungen in der Nachkriegsgeschichte, an die keine der Weltmächte rührt: nämlich von dem auszugehen, was der zweite Weltkrieg — der Krieg Hitlers und des Dritten Reiches — an veränderter europäischer Landkarte hinterlassen hat.
Das heißt aber, ob es uns gefällt oder nicht, daß gegenwärtig alle entscheidenden und auf uns einwirkenden Faktoren von der Teilung Deutschlands und davon ausgehen, daß aus Demarkationslinien Staatsgrenzen geworden sind.
Nun kann man gewiß auch im Jahre 1973 geltend machen, daß es 1953 — oder zu einem anderen Zeitpunkt nach 1945 — richtig gewesen wäre, dem deutschen Volk das Recht einzuräumen, über seine staatliche Einheit zu entscheiden und ihm auf diese Weise die Möglichkeit zu geben, sich in seiner Gesamtheit für den Frieden und die Wohlfahrt Europas zu engagieren. Ich würde einem solchen Hinweis schon deshalb nicht widersprechen und widersprechen können, weil ich dies selbst aus guter Überzeugung vertreten habe. Ich verschweige das nicht, und ich schäme mich dessen nicht.
Aber ob etwas richtig ist oder nicht, ob etwas richtig wird oder bleibt, darüber wird in der Politik, zumal in der internationalen Politik, bekanntlich nicht auf Grund von abstrakten Kategorien entschieden. Das tatsächliche Geschehen, der historische Prozeß beeinflußt und verändert die politischen Positionen, auch die Meinungen darüber, was politisch für richtig gehalten wird. Tatsache ist heute, daß es keinen kurzen Weg zur deutschen Einheit gibt und daß wir Deutschen uns aus unseren europäischen Abhängigkeiten nicht lösen können — es wohl, was uns hier im konkreten angeht, auch nicht mehr wollen.
Meine Damen und Herren, der Vertrag, der Ihnen heute vorliegt — das wissen die Partner —, soll nicht einem solchen Zustand des Friedens in Europa im Wege stehen, in dem auch die Deutschen in ihrer Gesamtheit frei darüber befinden könnten, wie sie ihr Zusammenleben organisiert sehen wollen. Im Gegenteil, der Vertrag soll, wenn es geht, wenn es irgend geht, ein weiteres Auseinandergleiten, ein weiteres Auseinanderleben unserer Nation verhindern helfen. Und er soll die Kommunikation zwischen den Menschen in Deutschland erleichtern und ver-
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bessern helfen; er soll in unserem Verständnis sicherstellen, daß Wille und Bewußtsein der Zusammengehörigkeit als Voraussetzung für den Fortbestand der Nation nicht verlorengehen.
Ohne daß dies eine gemeinsame Zielsetzung der Vertragspartner genannt werden kann, darf man sagen: Der Vertrag soll und wird unserer Überzeugung nach den Menschen in Deutschland und dem Frieden in Europa zugute kommen. Er ist zwischen Gleichberechtigten ausgehandelt worden; anders hätte er nicht zustande kommen können.
Und er hat weder der einen noch der anderen Seite zur Durchsetzung von Maximalpositionen verholfen. Selbstverständlich konnte es sich nur um einen Kompromiß handeln.
Wenn ich dies nicht für einen tragbaren Kompromiß hielte, würde ich den Vertrag nicht vertreten.
Meine Damen und Herren, ganz gewiß entläßt uns dieser Vertrag nicht aus der Frage, was aus der deutschen Nation werden soll.
Durch den Text ist immerhin festgestellt, daß es sie gibt — beides, die Frage und die Nation.
Eine gemeinsame Antwort hat mit der DDR nicht gefunden werden können. Das dürfte nicht überraschen und wird in aller Offenheit klargelegt. Daraus den Schluß zu ziehen, hier würde, wie ich es gelesen habe, die Teilung „besiegelt", führt jedoch am tatsächlichen Sachverhalt vorbei.
Und, meine Damen und Herren, es bedeutet nicht, von der bedrückenden Realität einer Teilung, die nun schon über 25 Jahre andauert, abzulenken, wenn man fragt: Hat die Nation nicht in ihrer Geschichte weitaus längere Frontlinien überdeckt, die Deutschland durchschnitten, als daß sie innerhalb gemeinsamer Grenzen lebte? Existierte sie nicht über Jahrhunderte in der Mitte dieses Kontinents in Übergängen und Fragmenten und blieb doch — oder wurde doch wieder — Nation?
Manche haben — auch hier im Bundestag — die Geschichtslosigkeit der Deutschen oder von Deutschen beklagt, und sie haben dem Geschichtsbewußtsein anderer Völker vergleichsweise gute Noten ausgestellt. Ich will dazu heute nur sagen: Aus unserer Geschichte Lehren zu ziehen, heißt meiner Meinung nach auch zu erkennen und die Zuversicht zu hegen, daß ein Grundvertrag mit der DDR die Geschichte der Nation nicht abschneidet. Der Vertrag eröffnet ihr, der Nation, im Gegenteil, ohne daß wir uns in die Tasche lügen würden, neue, wenn auch begrenzte Möglichkeiten, nachdem die
Jahrzehnte der bloßen Feindseligkeit ohne jeden Zweifel nationale Substanz zerstört haben.
Im übrigen — erst gestern nachmittag war hier in anderer Verbindung davon die Rede — hat uns unser Weg in die Europäische Gemeinschaft geführt, die nach unserem Willen und dem unserer Partner noch in diesem Jahrzehnt zur Europäischen Union werden soll. Wenn man das nicht nur sagt, sondern auch meint und will, so hilft es nicht, den Kopf in den Sand zu stecken, statt gleich hinzuzufügen: Die DDR ist mit ihrer Staatsordnung, mit ihrem Gesellschaftssystem fest in das Bündnissystem osteuropäischer Staaten eingegliedert worden, und es entspringt nicht deutschem Hochmut, wenn ich ergänzend darauf hinweise, daß der andere deutsche Staat sowohl im RGW — Comecon pflegt man bei uns im Westen zu sagen — wie im Warschauer Pakt eine gewichtige Rolle spielt.
Meine Damen und Herren, was aus Deutschland wird, aus dem Verhältnis zwischen den Staaten in Deutschland, zwischen den Teilen des deutschen Volkes, das hängt in hohem Maße — und ich sage das hier nicht zum erstenmal — vom künftigen Verhältnis zwischen den Teilen Europas ab. Und deshalb können wir Deutsche es nur begrüßen, wenn von einem Teil Europas zum anderen Brücken gebaut werden, zwischen den Staaten, vielleicht sogar zwischen Bündnissen, jedenfalls zugunsten der Menschen und des Friedens. Deshalb auch mein einleitender Hinweis hier heute auf die bilateralen und multilateralen Aspekte der Entspannungspolitik.
Meine Damen und Herren, Abbau von Spannungen, aktive Friedenssicherung vollziehen sich auf zahlreichen Ebenen, und diese Ebenen sind miteinander verbunden, ineinander verzahnt. Der von den spezifischen Bedingungen ausgehende und ihnen Rechnung tragende Vertrag mit der DDR stellt in diesem Geflecht der Verhandlungen, Vereinbarungen und Verträge einen wichtigen Faktor dar, der durch andere nicht zu ersetzen war und ist.
Es gab, meine Damen und Herren, Zeiten, in denen viele befürchteten, es würde wegen Deutschland einen Dritten Weltkrieg geben können. Nun, der Moskauer und der Warschauer Vertrag, das Berlin-Abkommen der Vier Mächte, die deutschen Zusatzvereinbarungen und jetzt der Grundvertrag wollen — das gesamte Vertragswerk will — verhindern, daß der Frieden in Europa noch einmal wegen Deutschland und vom deutschen Boden aus gefährdet wird.
Aber, meine Damen und Herren, ich kann nicht wissen — und wer hier wollte sicher sein! —, wie es im einzelnen um die Zukunft der „deutschen Frage" steht. Aber ich hoffe, die Welt wird in unseren Antworten auf die „deutschen Fragen" — und ich verwende bewußt den Plural — dieser Jahre Einsicht, guten Willen und Fortschritte in Richtung auf Europa erkennen können. Hier in Deutschland, im
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Nebeneinander und erwünschten Miteinander wird sich der Frieden bewähren müssen. Hier kann er immer noch gestört, hier könnte er schlimmstenfalls immer noch zerstört werden.
Deshalb — ohne Pathos, aber in allem Ernst —: Das Versprechen des Gewaltverzichts nehmen wir ganz wörtlich, ohne jedes Wenn und Aber.
Nun lassen Sie mich, meine Damen und Herren, auch bei dieser Gelegenheit hier heute vormittag vor Wunschvorstellungen warnen, die keine Verankerung in den wirklichen Gegebenheiten haben. Ich habe gesagt vorigen Monat und auch heute —, der Weg sei lang und er sei steinig. Wenn ich im vorigen Monat davon sprach, wir wollten einen Zustand erreichen, in dem nicht mehr geschossen wird, so ist auch ein solcher Zustand leider nicht von heute auf morgen zu erreichen.
Auf der anderen Seite: Wenn in einigen Wochen der angekündigte Bericht über die Entwicklung der Beziehungen zur DDR vorliegt, dann mag manchem in unserem Volk erst klar werden, auf wie vielen Gebieten und zugunsten wie vieler einzelner Menschen sich doch eine etwas positivere Entwicklung zu vollziehen beginnt. Und dies — was man ja auch nicht übersehen sollte —, obwohl der Grundvertrag noch nicht in Kraft ist. Es ist — lassen Sie mich dies hinzufügen — durchaus nicht überzeugend, wenn einige, die den Vertrag besonders heftig kritisieren, gleichzeitig beklagen, daß die von ihm zu erwartenden Wirkungen noch nicht festzustellen seien.
Den Verantwortlichen im anderen Teil Deutschlands, der DDR, möchte ich wünschen, daß sie jenes Maß an Sachlichkeit gewinnen, das ihnen den Verzicht auf Kleinlichkeit und Schikanen erlaubt.
Wie sonst übrigens könnten sie hoffen, in der Welt die angesehene Rolle zu spielen, die zu spielen sie sich vorgenommen haben?
Die Postverhandlungen mit der DDR, die einige Wochen unterbrochen waren, werden heute in Bonn weitergeführt. Zum Vertragswerk selbst gehört der inzwischen in Kraft getretene Briefwechsel über Arbeitsmöglichkeiten für Journalisten. In den vor kurzem begonnenen Gesprächen von Regierungsvertretern geht es darum, die Rahmenvereinbarung im einzelnen auszufüllen. Die Bundesregierung hat sämtliche Vorbereitungen getroffen — ich unterstreiche: Vorbereitungen —, um den Korrespondenten aus der DDR jene Arbeitsmöglichkeiten zu gewährleisten, wie sie allen Journalisten hier zur Verfügung stehen.
Die DDR hat begonnen, die Anträge unserer Journalisten auf Zulassung in Ost-Berlin zu beantworten. Ich gehe davon aus, daß nach dem etwas zögerlichen Beginn auf beiden Seiten — —
— Meine Damen und Herren, ich würde, wenn ich auf eine solche Serie von Mißerfolgen in der Deutschlandpolitik zurückblicken müßte wie Sie, im Augenblick den Mund halten.
— Sie dürfen sich, nachdem Sie hier eine Viertelstunde lang herumgemosert haben, nicht wundern, wenn Ihnen einmal jemand die Wahrheit sagt.
Wir arbeiten uns mühsam aus Positionen heraus,
von denen wir alle miteinander bedauern müßten, daß es so negative Positionen geworden waren.
Deshalb sage ich noch einmal: Ich gehe davon aus, daß nach dem etwas zögerlichen Beginn auf beiden Seiten den berechtigten journalistischen Erwartungen Rechnung getragen werden wird.
Bei uns in der Bundesrepublik stößt man nun nicht selten auf die Sorge, daß unsere offene Gesellschaft durch mehr Austausch und Kontakt mit dem — wie man sagt — „Osten" Schaden leiden könnte, daß sie dem — wie man sagt — ideologischen Wettbewerb mit dem Kommunismus nicht gewachsen sei. Ich meine in allem Ernst, dies ist ein Mangel an Selbstsicherheit,
der meiner Überzeugung nach nicht angebracht ist. Ich will hier mit Nachdruck feststellen: Unsere Demokratie, unsere politische und gesellschaftliche Ordnung ist stark genug, um den Wettbewerb zu bestehen und auch mit der Kritik extremer Gruppen, die die DDR bekanntlich nicht aussparen, fertig zu werden. Der weitere zielstrebige Ausbau des sozialen Rechtsstaates, die Vertiefung und Verteidigung unserer freiheitlichen Demokratie, — das ist der Weg, von dem wir uns nicht abbringen lassen dürfen.
Meine Damen und Herren, unsere politisch-gesellschaftliche Ordnung und die der DDR sind miteinander natürlich nicht zu vereinbaren. Sie lassen sich nicht auf einen Nenner bringen.
Dennoch gibt es, so wie z. B. sogar zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, gemeinsame Interessen und auch Möglichkeiten der Begegnung, des Austausches, der jedenfalls partiellen
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Zusammenarbeit. Dabei muß man den Mut haben, sich dem gegenseitigen Einfluß auszusetzen. Wer sich das nicht zutraut, braucht eigentlich über die Nation nicht mehr viel zu reden.
Es geht — ich muß das hier immer wieder betonen — um friedenssichernde Aufgaben diesseits des Feldes, auf dem erst noch über die Einheit der Nation entschieden wird. Unter den 20 Punkten, die ich im Mai 1970 dem Vorsitzenden des Ministerrats der DDR bei der Begegnung in Kassel übergab, stand als letzter die Aufnahme beider Staaten in die Vereinten Nationen. Heute liegt diesem Hause der Entwurf des Gesetzes zum Beitritt der Bundesrepublik Deutschland vor.
Im Grunde war es ja kein normaler Zustand, daß wir zwar seit vielen Jahren in den Sonderorganisationen der UN Mitglied waren, für sie beträchtliche Mittel aufwendeten und in vielerlei Hinsicht zu ihrer Arbeit beitrugen, zugleich aber wegen der ungeklärten Lage in Deutschland, wegen des ungeregelten Verhältnisses zwischen den beiden deutschen Staaten nicht ordentliches Mitglied der UN-Organisation werden konnten. Die Politik, für die wir uns 1969 entschieden und die wir seitdem entwickelt haben, gibt uns nun auch in diesem Bereich Handlungsfreiheit.
Die Bundesrepublik Deutschland wird künftig ihre Stimme auch in der Vollversammlung der Vereinten Nationen zur Geltung bringen können, wenn dort weltweite politische, wirtschaftliche, kulturelle Probleme in offener Aussprache zu behandeln sind. Die Tatsache, daß unsere Politik des Ausgleichs und der Versöhnung in den Vereinten Nationen nachhaltige Anerkennung gefunden hat, wird uns die Mitarbeit erleichtern. Auf der anderen Seite steht die Notwendigkeit, auch hier dem Wettbewerb mit der DDR nicht auszuweichen. An den Verantwortlichkeiten und Pflichten, die die Vier Mächte übernommen und in Verbindung mit diesem Vorgang bestätigt haben, ändert sich nichts.
Meine Damen und Herren, aktive Friedenssicherung und wirklicher Interessenausgleich zählen zu den bedeutendsten und zugleich schwersten Aufgaben dieser Zeit. Sie müssen durch eine ständig intensivierte Zusammenarbeit aller oder möglichst vieler Staaten bewältigt werden. Das erfordert gemeinsame Anstrengungen, nicht zuletzt auch im Verhältnis zwischen den reichen und den armen Ländern. Bei diesem Werk, das sich zunehmend der Instrumente der Vereinten Nationen bedient, soll es an unseren Anstrengungen nicht fehlen.
Die Gesetze, die dem Hause zur Ratifizierung vorliegen, sollen aus der Sicht und nach der Überzeugung der Bundesregierung den Willen der Bundesrepublik Deutschland unterstreichen, nicht nur zur momentanen Friedenssicherung, sondern zu einer Epoche guter Nachbarschaft beizutragen: weltweit, in Europa, auch im Verhähltnis beider deutscher Staaten zueinander. Der Titel „Ostpolitik" wird — ich betonte es schon früher diesem Kapitel unserer friedensbewahrenden Arbeit und unserer diplomatischen Aktivität nicht ganz gerecht, denn sie sind ihrer Natur, ja, ihren Ursprüngen nach zugleich Westpolitik.
Meine Damen und Herren, unsere Politik hat die Allianz, in der unsere Sicherheit verankert ist, nicht gelockert, sondern gefestigt, weil unsere deutschen Interessen in die unserer Alliierten einmünden. Der Abschluß der Verträge von Moskau und Warschau, das Viermächteabkommen über Berlin und der Grundvertrag haben die Übereinstimmung im Bündnis gestärkt.
Die Europäische Gemeinschaft hat diese Politik als Ermutigung aufgenommen. Es haben sich daraus sogar Impulse für die Arbeit an der Europäischen Union ergeben, nämlich für die Erprobung einer westeuropäischen Außenpolitik.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, die beiden vorliegenden Gesetzentwürfe durch die Ausschüsse prüfen zu lassen, um dann die fällige politische Entscheidung zu treffen.