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ID0700911000

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    Vokabeln: 7
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    4. Frau: 1
    5. Bundesminister: 1
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    7. Focke.: 1
  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag 9. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1973 Inhalt: Verzicht des Abg. Augstein (Hamburg) auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag 243 A Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Opitz (FDP) . . . . . .. . . 243 B Dr. Wulff (CDU/CSU) . . . . . . 244 D Dr. Eppler, Bundesminister (BMZ) . 246 A, 249 D Dr. Freiherr von Weizsäcker (CDU/CSU) . . . . . . . . . 249 B Dr. Barzel (CDU/CSU) . . 250 B, 252 C, 257 A, 263 B Brandt, Bundeskanzler . 251 B, 262 B Wehner (SPD) . . . . 253 C, 262 B Scheel. Bundesminister (AA) . . . 257 A Dr. Mikat (CDU/CSU) . . . . . . 262 A Dr. Ehmke, Bundesminister (BMP) . 264 A Mischnick (FDP) . . . . . . . . 264 C Dr. Friderichs, Bundesminister (BMW) 264 D Dr. Narjes (CDU/CSU) . . . . . 268 D Junghans (SPD) 273 D Dr. Graf Lambsdorff (FDP) . . . 277 B Frau Dr. Wex (CDU/CSU) . . . 280 B Arendt, Bundesminister (BMA) . . 283 C Frau Dr. Focke, Bundesminister (BMJFG) . . . . . . . . 286 B Katzer (CDU/CSU) 288 D Dr. Schellenberg (SPD) 293 D Frau Funcke (FDP) 296 D Frau Eilers (Bielefeld) (SPD) . . 300 D Genscher, Bundesminister (BMI) . 303 B, 323 D Dr. Dregger (CDU/CSU) 307 C Dr. Schäfer (Tübingen) (SPD) . . 312 C Vogel (Ennepetal) (CDU/CSU) . . 318 A Dr. Hirsch (FDP) . . . . . . . 321 A Dr. Meinecke (Hamburg) (SPD) . 324 D Dr. Martin (CDU/CSU) 327 C Frau Schuchardt (FDP) . . . . . 331 A Dr. von Dohnanyi, Bundesminister (BMBW) 333 A Nächste Sitzung 336 C Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 337* Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1973 243 9. Sitzung Bonn, den 25. Januar 1973 Stenographischer Bericht Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Adams * 26. 1. Dr. Ahrens ** 27. 1. Alber ** 27. 1. Amrehn ** 27. 1. Augstein (Hattingen) 26. 1. Behrendt * 26. 1. Blumenfeld ** 27. 1. Dr. Dollinger 10. 2. Dr. Enders ** 27. 1. Flämig * 26. 1. Gerlach (Emsiand) * 26. 1. Hösl ** 27. 1. Jung ** 27. 1. * Für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments ** Für die Teilnahme an Sitzungen der Beratenden Versammlung des Europarates Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordneter) beurlaubt bis einschließlich Kahn-Ackermann ** 27. 1. Dr. Kempfler ** 27. 1. Dr. h. c. Kiesinger 27. 1. Lampersbach 25. 1. Lemmrich ** 27. 1. Memmel * 26. 1. Dr. Miltner 2. 2. Dr. Müller (München) ** 27. 1. Pawelczyk ** 27. 1. Richter ** 27. 1. Roser ** 27. 1. Schmidt (Wattenscheid) 25. 1. Schmidt (Würgendorf) ** 27. 1. Dr. Schulz (Berlin) ** 27. 1. Sieglerschmidt ** 27. 1. Dr. Slotta 2. 2. Springorum * 26. 1. Stücklen 26. 1. Dr. Todenhoefer 24. 2. Frau Dr. Walz ** 27. 1. Westphal 26. 1. Frau Will-Feld 24. 2. Wolfram * 26. 1.
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    Rede von Walter Arendt


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Aussprache über die Regierungserklärung dürfen Grundsätze und Aufgabenstellungen der Bundesregierung nicht verloren gehen. Lassen Sie mich deshalb zu Beginn meiner Ausführungen einen Überblick über unsere sozial- und gesellschaftspolitischen Zielsetzungen geben. In der vergangenen Legislaturperiode lag neben der Schaffung einer neuen, einer besseren Betriebsverfassung ein besonderer Schwerpunkt unserer Arbeit auf dem Gebiet der sozialen Sicherung: ihre Ausdehnung auf bisher nicht geschützte Personenkreise, ihre Anpassung an die wirtschaftliche Entwicklung, die Modernisierung des Leistungsrechts und die Stärkung der Vorsorge. Das Rentenreformgesetz, die Dynamisierung der Kriegsopferversorgung und die Weiterentwicklung der Krankenversicherung stehen als markante Beispiele.
    Die Grundsätze der Sozialpolitik der 6. Legislaturperiode werden insoweit auch Richtschnur für die nächsten vier Jahre sein. Die sozialpolitische Arbeit des neuen Gesetzgebungsabschnittes wird aber ihren eigenen spezifischen Akzent haben. Ich darf das an Hand einiger Thesen erläutern.
    Meine Damen und Herren, wir wollen die Stellung des Arbeitnehmers in unserer Gesellschaft festigen und ausbauen. Der zentrale Punkt wird dabei die Ausdehnung der Mitbestimmung sein.
    Wir wollen uns besonders der Arbeitsumwelt annehmen. Wo staatliches Handeln möglich ist, will die Bundesregierung das ihre zur Humanisierung des Arbeitslebens beitragen. Sie wird sich dabei auf die Kräfte der Tarifparteien und der Selbstverwaltung stützen.
    Wir wollen unsere Wirtschaftsordnung gerechter gestalten. Deshalb wollen wir breite Schichten am Zuwachs des gemeinsam erarbeiteten Produktivvermögens beteiligen.
    Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten, daß unsere Gesellschaft menschlicher wird. Wir werden uns deshalb verstärkt den Behinderten, den vom Strukturwandel betroffenen Menschen und den ausländischen Arbeitnehmern zuwenden.
    Wir wollen uns dafür einsetzen, daß die Europäische Gemeinschaft eine demokratische und soziale Komponente erhält, daß Europa mehr als bisher zur Heimstatt der Arbeitnehmer wird.
    Wenn Sie, meine Damen und Herren, dazu noch die Weiterentwicklung der sozialen Sicherung nehmen, die ich bereits erwähnt habe, so haben Sie einen Überblick liber unsere Gesamtkonzeption für diese Legislaturperiode.
    Nun, meine Damen und Herren, zu den einzelnen Punkten.
    Die Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer in unserer Gesellschaft müssen ausgebaut und gefestigt werden. Im Mittelpunkt steht für mich dabei die humane und gerechte Gestaltung der Verhältnisse in der Arbeitswelt. Wir wollen den mündigen Bürger. Bei dieser Zielsetzung darf der Bereich des Arbeitslebens nicht ausgespart blei-



    Bundesminister Arendt
    ben. Es widerspräche den Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft, wollte man Mitgestaltungsansprüche des Bürgers etwa nur auf seinen Freizeitbereich verweisen. Millionen von Arbeitnehmern sind durch die Erfahrungen im Arbeitsleben geprägt: durch ihre Chancen, sich beruflich und persönlich zu entfalten; durch ihre Möglichkeiten, auf die Bedingungen der Arbeit Einfluß zu nehmen; durch die Sorge, ausreichend finanziell, sozial und rechtlich gesichert und gesundheitlich geschützt zu sein.
    Deshalb wird die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen Kernstück unserer Sozialpolitik in den kommenden vier Jahren sein.
    Nachdem die Mitwirkung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer innerhalb der Betriebe in der vorigen Legislaturperiode durch das neue Betriebsverfassungsgesetz entscheidend verbessert worden sind, soll nunmehr der Grundsatz der Gleichwertigkeit und Gleichgewichtigkeit von Arbeit und Kapital auch auf der Ebene des Unternehmens seinen Ausdruck finden.
    Meine Damen und Herren, es ist bekannt, daß zwischen den gesellschaftlichen Gruppen diese Mitbestimmung durchaus kontrovers beurteilt wird. Es gibt verschiedene Mitbestimmungsmodelle. Man weiß von unterschiedlichen Auffassungen auch innerhalb der CDU/CSU-Fraktion.
    Die Regierungskoalition verhehlt nicht, daß auch in ihren Reihen die Diskussion noch nicht abgeschlossen ist. Ich bin aber sicher, meine Damen und Herren: Wir werden — wie beim Betriebsverfassungsgesetz — zu einer befriedigenden Lösung kommen. Die Mitbestimmungsfrage wird nicht ausgeklammert.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Durch die Arbeiten an der Mitbestimmung darf nicht die Aufgabe vernachlässigt werden, die Rechtsstellung der Arbeitnehmer entsprechend der sozialen Wirklichkeit in einer modernen Industriegesellschaft neu zu gestalten. Die Arbeiten am Sozialgesetzbuch werden ebenso wie die Arbeiten am Arbeitsgesetzbuch intensiv fortgesetzt. Die Schaffung eines umfassenden Arbeitsgesetzbuches ist eine anspruchsvolle und längerfristige Aufgabe, die nicht von heute auf morgen gelöst werden kann. Wir werden aber in dieser Legislaturperiode damit fortfahren, das gesetzliche Arbeitsrecht in den Bereichen fortzuentwickeln, in denen eine Initiative des Gesetzgebers besonders dringlich ist. Ich meine hier vor allem das Recht des Arbeitsverhältnisses.
    Ferner wollen wir den Schutz der arbeitnehmerähnlichen Personen — wie etwa der Gruppen der freien Mitarbeiter an Tageszeitungen, bei Funk und Fernsehen, der Handelsvertreter und auch der freien Schriftsteller - dadurch stärken, daß auch für sie die Möglichkeit geschaffen wird, ihre Beschäftigungsbedingungen durch Tarifvertrag zu regeln. Dies steht nicht zuletzt in einem Zusammenhang mit den Bestrebungen der freiberuflich geistig und kulturell Schaffenden, sich zu organisieren, um eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen zu erreichen.
    Meine Damen und Herren, die Forderung nach einer sicheren, menschenwürdigen Umwelt beziehen Millionen von Arbeitnehmern mit Recht zuerst auf ihren Arbeitsplatz, auf ihre Arbeitsumwelt. Wir werden den Arbeitsschutz und die Arbeitssicherheit durch gesetzliche Regelungen, Forschung und Aufklärung weiter verbessern. Wir werden in Kürze den Gesetzentwurf über Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit wieder einbringen. Alle Betriebe sollen zum Ausbau des medizinischen und technischen Schutzes ihrer Arbeitnehmer verpflichtet werden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Besonders ernst nehme ich dabei die Sorge um die jugendlichen Arbeitnehmer. Die heutigen Vorschriften zum Jugendarbeitsschutz entsprechen nicht mehr den veränderten Verhältnissen im Arbeitsleben. So kommt z. B. häufig der Ausbildungsanspruch der Jugendlichen zugunsten der wirtschaftlichen Ansprüche der Betriebe zu kurz. Wir werden deshalb das Jugendarbeitsschutzgesetz novellieren und uns dafür einsetzen, daß seine Vorschriften besser eingehalten werden.
    Dem Ziel, die Position des Arbeitnehmers in der Gesellschaft zu festigen, dient auch die Vermögenspolitik der Bundesregierung. Die Marktwirtschaft, das zeigt die öffentliche Diskussion, bedarf der sozialen Korrektur. Eigentum am gemeinsam erarbeiteten Zuwachs des Produktivvermögens muß schon im Ursprung gerechter auf alle verteilt werden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die Vermögenspolitik wird in der neuen Legislaturperiode damit einen neuen Ansatz finden. Dabei werden wir an die Eckwertbeschlüsse der Bundesregierung vom Juni 1971 anknüpfen können. Dazu kommen die erheblichen Auswirkungen des 624-DMGesetzes, dessen Bedeutung auch in der nächsten Zeit noch weiter zunehmen wird.
    Mehr Gerechtigkeit und Leistungsfähigkeit brauchen wir auch in der sozialen Sicherung. Die Weiterentwicklung der Krankenversicherung gehört dazu. Hier stehen wir auch in der neuen Legislaturperiode vor zwingenden Aufgaben.
    Der Wandel unserer Lebens- und Arbeitsbedingungen stellt neue Anforderungen an die Gesundheitssicherung. Der medizinisch-technische Fortschritt schafft neue Möglichkeiten. Beides, meine Damen und Herren, bedeutet für lange Zeit erhebliche Kostensteigerungen. Das kann nicht ohne Folgen für Leistungen und Finanzierung der sozialen Krankenversicherung bleiben.
    Soziale Sicherung durch die gesetzliche Krankenversicherung wird für die heute noch ausgeschlossenen Personengruppen immer wichtiger. Deshalb müssen wir in den nächsten Jahren Möglichkeiten der Ausdehnung und der Öffnung prüfen.
    Leistungsverbesserungen sind insbesondere bei der Früherkennung von Krankheiten und bei der Gesundheitsvorsorge nötig. Andere Verbesserungen zeichnen sich ab, meine Damen und Herren, wenn ich z. B. an das neue Rehabilitationsgesetz oder an die Initiativen aus der Mitte des 6. Deutschen Bundestages erinnere.



    Bundesminister Arendt
    Die Sicherstellung der ärztlichen Versorgung in Stadtrand- und Landgebieten muß garantieren, daß alle Bürger möglichst gleiche Chancen in der Gesundheitssicherung haben.
    Bei all diesen Fragen wird die Bundesregierung großen Wert auf die Hilfe durch die Sachverständigenkommission zur Weiterentwicklung der Krankenversicherung legen.
    Auch nach der Reform der Rentenversicherung in der vorigen Legislaturperiode werden wir die Alterssicherung in den nächsten Jahren weiter verbessern.
    In der Rentenversicherung bleiben zunächst allerdings einige nötige Aufräumungsarbeiten aus der Verkrampfung der letzten Legislaturperiode im vorigen September.

    (Zurufe von der CDU/CSU.)

    Die finanziellen Auswirkungen der Rentenreform
    aus der vergangenen Legislaturperiode werden wir
    in den nächsten Jahren sorgfältig im Auge behalten.
    Neben einigen Anpassungen und Verbesserungen im Rentenbeitrags- und Leistungsrecht stehen wir vor der großen Aufgabe — meine Damen und Herren, wir alle —, gemeinsam nach Wegen für mehr eigenständige soziale Sicherung für die Frau zu suchen. Dazu wird die Sicherung der Frau im Falle der Ehescheidung ein wichtiger Baustein sein.
    In der betrieblichen Altersversorgung werden wir schon bald die in der vorigen Legislaturperiode vorbereiteten Absicherungen vorlegen. Dabei geht es vor allem um die Unverfallbarkeit der Versorgungszusagen bei Arbeitsplatzwechsel der Anspruchsberechtigten.
    Auch bei einem umfassenden System sozialer Sicherung müssen wir uns weiterhin den Problemen zuwenden, die sich aus der besonderen Situation einzelner Gruppen ergeben, die trotz Vollbeschäftigung und wirtschaftlichem Wachstum im Schatten stehen. Ich will dabei zwei Gruppen besonders erwähnen: die Schwerbeschädigten und die Behinderten. Wir haben schon im Jahre 1970 für die Behinderten unsere Vorhaben in einem Aktionsprogramm zusammengefaßt und der Öffentlichkeit übergeben. In der letzten Legislaturperiode waren wir dabei, dieses Aktionsprogramm Schritt für Schritt zu verwirklichen. Diesen Weg werden wir fortsetzen. Es werden Ihnen demnächst das Gesetz zur Angleichung medizinischer und .beruflicher Leistungen zur Rehabilitation und eine Novelle zum Schwerbeschädigtengesetz vorgelegt. Die Vorarbeiten hierzu sind schon sehr weit gediehen. Wir werden aber auch prüfen, wieweit die vielen, von Geburt an körperlich, geistig oder seelisch Behinderten in den Schutz der sozialen Sicherung einbezogen werden können. Ein Gesetz über die soziale Sicherung der Behinderten, die in beschützenden Werkstätten tätig sind, wird ein erster Schritt sein. Ein ausgebautes Netz von Rehabilitationseinrichtungen für alle Bereiche der Rehabilitation soll dazu beitragen, die betroffenen Menschen besser in unsere Gesellschaft und in den Arbeitsprozeß einzugliedern.
    Meine sehr verehrten Damen und Herren, Aufgaben besonderer Art stellen sich uns im Zusammenhang mit einer anderen Gruppe in unserem Lande: den ausländischen Arbeitnehmern. Fast 2½
    Millionen sind inzwischen in unserer Wirtschaft beschäftigt. Dabei wird immer deutlicher, daß die Aufnahmefähgkeit der sozialen Infrastruktur mit der Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes nicht Schritt hält. Die ausländischen Arbeitnehmer dürfen aber nicht zu einer Randgruppe unserer Gesellschaft werden.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU.)

    Wir werden deshalb bald prüfen, welche Maßnahmen erforderlich sind, um das Interesse an der Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer mit der Notwendigkeit ihrer angemessenen Eingliederung in unsere Gesellschaft in Einklang zu bringen. Die Zuwanderung von ausländischen Arbeitnehmern muß daher an die Aufnahmefähigkeit der sozialen Infrastruktur angepaßt werden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die Bundesregierung, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat bereits Schritte in dieser Richtung unternommen:
    Seit April 1971 sind die Richtlinien für angemessene Unterkünfte den modernen Mindestanforderungen angepaßt worden,
    Bis November 1972 war es den Staatsangehörigen von Anwerbeländern möglich, eine Beschäftigung in der Bundesrepublik aufzunehmen, ohne die Anwerbekomrnission der Bundesanstalt für Arbeit einzuschalten. Davon hat im Jahre 1971 rund ein Drittel aller neu Einreisenden Gebrauch gemacht. Dieser Weg ist grundsätzlich gesperrt worden. Nun ist die Einschaltung der Bundesanstalt für Arbeit zwingend erforderlich. Das hat zur Folge, daß bei der Vermittlung des weitaus größten Teils der ausländischen Arbeitnehmer die Unternehmer z. B. angemessene Unterkünfte für die anzuwerbenden Arbeitskräfte nachweisen müssen.
    Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird weitere Schritte unternehmen, um ein gesellschaftspolitisch sinnvolles Gleichgewicht zwischen der Aufnahmefähigkeit der Infrastruktur und den berechtigten Forderungen unserer ausländischen Mitbürger herzustellen. Einen Schwerpunkt werden dabei die Ballungsgebiete bilden, in denen Norm und Wirklichkeit am weitesten auseinanderklaffen.
    Auf dem Gebiet der internationalen Sozial- und Gesellschaftspolitik ist unser Blick vor allem auf die Europäische Gemeinschaft gerichtet. Die fortschreitende europäische Integration muß über eine Wirtschafts- und Währungsunion hinausgehen. Auf deutsche Initiative hin hat die Pariser Gipfelkonferenz im Oktober die Organe der Gemeinschaft aufgefordert, ein sozialpolitisches Aktionsprogramm zu erstellen. Stichworte, die dieses Programm auffüllen, sind: eine abgestimmte Politik auf dem Gebiete der Beschäftigung und der Berufsausbildung, eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen und die Mitwirkung der Arbeitnehmer in den Organen der Unternehmen.



    Bundesminister Arendt
    Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß folgendes unterstreichen. Wir brauchen keinen neuen Anfang auf dem Felde der Sozial- und Gesellschaftspolitik. Wir können uns auf das Vertrauen breiter Schichten unseres Volkes stützen. Wir wissen aber auch, daß das kein blindes Vertrauen ist. Die Bundesregierung hat in der letzten Legislaturperiode ihren Willen und ihre Leistungsfähigkeit zu Reformen in den wichtigen Bereichen der Gesundheitssicherung und der Alterssicherung, in der Vermögensbildung und der Betriebsverfassung bewiesen. Auf diesem Wege können, müssen und werden wir weitergehen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir können und wollen dies nicht im Alleingang tun. Im Rahmen der sozialpolitischen Gesprächsrunde werden wir das Gespräch mit den großen Gruppen in unserer Gesellschaft fortsetzen. Ich hoffe aber auch, meine Damen und Herren, auf die Mitarbeit der Opposition in diesem Hohen Hause.
    Im Herbst dieses Jahres werde ich dem Parlament wieder einen Sozialbericht vorlegen, der das gesellschaftspolitische Programm der Bundesregierung eingehend erläutert. Das Sozialbudget wird zeigen, daß die Sozialpolitik und die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung aufeinander abgestimmt sind. Sie alle, meine Damen und Herren, werden erkennen, daß es in der Sozial- und Gesellschaftspolitik in den nächsten Jahren keinen Stillstand geben wird.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)



Rede von Dr. Richard Jaeger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat Frau Bundesminister Dr. Focke.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Katharina Focke


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit einem Wort des Dankes für meine Vorgängerin Käte Strobel beginnen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ihre Arbeit erlaubt es mir, auf einer guten Grundlage weiterzubauen. Dies zu sagen ist für mich sowohl Ausdruck politischer Kontinuität wie persönliche Verpflichtung für meine zukünftige Tätigkeit. Käte Strobel hat gezeigt, daß es zwischen den Aufgaben sozialer Sicherung, wie sie vor allem durch den Ausbau z. B. der Renten- und Krankenversicherung wahrgenommen werden, und denen der Bildungsreform mit den Schwerpunkten Schule, Hochschule und Berufsbildung eigenständige gesellschaftspolitische Aufgaben gibt, die noch mehr als in anderen politischen Bereichen den jungen wie den älteren Bürger als Individuum ansprechen und für seine sehr persönliche Qualität des Lebens sorgen. Soziale Hilfen in besonderen Lebenslagen auf Grund eines ganz persönlichen Schicksals wird es auch bei einem noch so vollkommenen Ausbau unseres Systems der sozialen Sicherung allein deshalb immer geben müssen, weil keine politische Bemühung den Faktor Glück oder Unglück im menschlichen Leben und das, was dieser Faktor für Chancengleichheit — oder besser -ungleichheit — bedeutet, sozusagen schematisch ausgleichen könnte.
    Jugendhilfe und Hilfe für ältere Menschen zur Ergänzung und Stärkung der Solidarität zwischen den Generationen — und damit, Frau Wex, natürlich auch der Integrationsfähigkeit der Familien — erfordert über die Sicherung der materiellen Existenz hinaus ein ganzes Bündel von Maßnahmen — beratende, erzieherische, soziale, medizinische —, und sie verlangen das Zusammenwirken von staatlichen und privaten Kräften — ich betone es hier noch einmal — auf allen Ebenen. Anstöße und Hilfen in solcher übergreifender Zusammenarbeit zu geben, wobei es nicht zuletzt und gerade auch immer wieder darauf ankommt, die jungen und die älteren Mitbürger beim Zusammenwirken hierbei zu beteiligen, gehört zu den wichtigen Aufgaben des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit.
    Dies gilt selbstverständlich auch und ganz besonders für die Eingliederung der Behinderten und Schwerbeschädigten, auf die die Regierungserklärung einen ebenso entschiedenen Akzent gesetzt hat wie auf die Fortsetzung des Kampfes gegen den Drogen- und Rauschmittelmißbrauch. Über letzteren dachte ich eigentlich, seien wir in diesem Hause alle einig. Dann müssen wir ja wohl auch alle zusammen wissen, daß dem Problem mit Polizei und Gesetzen allein nicht beizukommen ist und es bisher leider auch Grenzen in der Wirksamkeit aufklärender, beratender, medizinischer und sozialer Maßnahmen gibt. Es erscheint mir deshalb wenig hilfreich, Herr Barzel, daß Sie in dem ZDF-Interview vom vergangenen Sonntag den Eindruck zu erwecken suchten, als hätte es die Bundesregierung bisher bei Worten bewenden und an Taten fehlen lassen, und es dabei doch einzig und allein auf einen ganz bestimmten Paragraphen, der mehr Härte, mehr Starrheit in den Strafbestimmungen des Opiumgesetzes vorsah, abgestellt hatten.
    Meine Damen und Herren, ich kann hier heute leider nicht so lange stehen, wie ich gern sprechen möchte. Daß ich mich trotzdem humpelnd auf den Plan gerufen fühlte, so lag das an dem Diskussionsbeitrag von Frau Wex. Er hat Vorwürfe und Ängste enthalten, die mir doch erheblich an der tatsächlichen Politik und an den Absichten dieser Koalition vorbeizuzielen schienen.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Das mag vielleicht nicht einmal so schlimm sein. Schlimmer finde ich, daß Sie eigentlich erheblich an der Wirklichkeit der Familienmitglieder in der heutigen Bundesrepublik Deutschland vorbeigezielt haben.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ich glaube nicht, daß die Mitglieder der heutigen Familien im Lande das, was eine Regierung, was eine Koalition für die Familie in unterschiedlichsten Funktionen tut, daran messen, wie oft das Wort Familie in einer Regierungserklärung vorkommt,

    (Beifall bei den Regierungsparteien)

    wobei ich übrigens — damit das ganz korrekt dasteht — daran erinnern möchte, daß der Bundeskanzler in einem Zusammenhang sehr deutlich an Familiensinn appelliert hat.



    Bundesminister Frau Dr. Focke
    Ich möchte also statt dessen eher darauf vertrauen, daß der Wahlausgang des 19. November 1972 eigentlich sehr deutlich zu erkennen gegeben hat, daß die Familienmitglieder in diesem Lande und die Frauen sehr wohl wissen, wer ihre Interessen, so wie das den heutigen Bedürfnissen entspricht, wahrnimmt.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Wenn ich auch verstehen kann, Frau Wex, daß gerade Sie nach diesem Wahlausgang die Frauen neu entdeckt haben, so habe ich doch große Zweifel, ob der Ansatz, der heute in diesem Diskussionsbeitrag geboten worden ist, das ist, was die Frauen dazu bewegen könnte, ihre Interessen besser bei der CDU/CSU aufgehoben zu sehen. Ich bin sicher, daß sich meine Fraktions- und Koalitionskolleginnen mit dem Familiengemälde abseits der Gesellschaft in einem geborgenen Winkel und den Gefahren, die dieser Familie drohen — wie Sie sie geschildert haben —, noch ausführlich auseinandersetzen werden.
    Mir liegt daran, bevor ich das Rednerpult verlasse, doch auch noch einmal auf die auch von Ihnen wieder angeknüpfte Diskussion über die Bedeutung von Leistung in unserer Gesellschaft zurückzukommen, eine Diskussion, die wir gestern schon geführt haben, die sich aber immer wieder wie ein roter Faden als eine gewisse grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen uns durch die Aussprache über die Regierungserklärung zieht. Genaugenommen, Herr Barzel, ist es dabei ein Satz aus Ihrer ersten Erwiderung auf die Regierungserklärung — ausgesprochen am 18. Januar 1973 —, der mich besonders hellhörig gemacht hat. Sie sagten nämlich am vergangenen Donnerstag, daß von allen Verteilungsprinzipien die Verteilung nach der Leistung immer noch die gerechteste sei.
    Die CDU/CSU hat sich die Frage, nach welchen Kriterien eine solche Leistung eigentlich gemessen werden sollte, schon gefallen lassen müssen. Herr Barzel, ich räume ein, daß Sie gesagt haben, Leistung könne man sicher nicht ausschließlich nach dem Entgelt bewerten.
    Aber darüber hinaus würde ich Sie gern fragen, wie Sie sich eigentlich das Verteilungsprinzip „Leistung" für die Zuteilung von Gesundheit, Umweltschutz, Bildungschancen in der Familie oder in der frühkindlichen Erziehung überhaupt,

    (Beifall bei der SPD)

    von Rehabilitationschancen für Behinderte oder Rauschgiftsüchtige vorstellen. Ich habe nur ein paar Güter herausgegriffen, für deren gerechte Verteilung das Prinzip „Leistung" doch sicher vollkommen versagt.

    (Beifall bei der SPD.)

    Es liegt mir fern, Leistung und Leistungsbereitschaft gering zu schätzen. Auch ich erinnere daran, daß der Herr Bundeskanzler davon gesprochen hat, daß Demokratie Leistung braucht. Aber ebenso, wie mein Kollege Erhard Eppler schon gestern Herrn von Weizsäcker auf die Fragwürdigkeit oder zumindest Mißverständlichkeit seiner Leistungsphilosophie angesprochen hat, so möchte ich gern Sie, Herr Barzel, fragen, wogegen Sie sich eigentlich wehren, wenn Sie eine bürokratische Zuteilung von Lebenschancen — so haben Sie es in diesem Zusammenhang auch ausgedrückt — ablehnen. Ich hoffe, Sie wehren sich nicht dagegen, daß durch politische Entscheidungen, die dann allerdings auch durch Bürokratien verschiedener Art durchgeführt werden müssen, Jugendhilfe für diejenigen jungen Menschen gewährt wird, denen ihre Familiensituation keine hinreichenden Lebenschancen eröffnet.

    (Abg. Dr. Barzel: Das ist unser Gesetz!)

    — Sie sprachen davon, daß Sie sich gegen die bürokratische Zuteilung von Lebenschancen wehren. Ich frage: Ist das nicht auch etwas, was — auf Grund einer politischen Entscheidung — Bürokratien mit verwirklichen müssen, um Lebenschancen besser zu verteilen?

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Dasselbe gilt für meine Frage, ob Sie sich dagegen wehren, daß das Sozialhilfegesetz reformiert und entsprechend angewandt wird — durch was sonst außer durch Bürokratien —, um noch mehr Fällen von sozialer Not gerecht werden zu können.
    Dasselbe gilt für die Frage, ob die Voraussetzungen für eine Besserung der sozialen Dienste — ich stimme mit Ihnen überein, Frau Wex, daß das ein I wichtiger Punkt ist —, nicht im Bundesministerium für Familie, Jugend und Gesundheit geprüft und, soweit wir etwas dazu beitragen können, auch geschaffen werden. Das alles gehört mit dazu, daß Lebenschancen verbessert werden.
    Das gilt auch für die Chancen vieler Frauen bezüglich einer ihnen gemäßen Lebensgestaltung durch ein ganzes Bündel von Maßnahmen, über die die Bundesregierung gegen Ende der letzten Legislaturperiode in dem Bericht über die Verbesserung der Situation der Frauen ja auch ausführlich Rechenschaft gegeben hat.
    Ich möchte hier hinzufügen, Frau Wex, daß wir eben nicht unterschiedliche Rollen der Frauen werten und sagen: Dieses ist diejenige Rolle, die nach unserer politischen Meinung Priorität genießt. Wir wollen vielmehr die Möglichkeit der Frauen unterstützen und vergrößern, frei zu wählen, was sie tun wollen und was sie in bezug auf ihre Lebensgestaltung für richtig halten.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Ist es nicht etwa auch eine Mitwirkung von Bürokratien an der Verbesserung von Lebenschancen, Herr Barzel,

    (Abg. Dr. Barzel: Wer ist denn gegen die Mitwirkung?)

    wenn wir den Verbraucherschutz durch ein neues Lebensmittelrecht und durch mehr Arzneisicherheit verbessern und kontrollieren, wenn wir auch dafür sorgen — als öffentliche Aufgabe —, daß sich ältere Menschen mehr als bisher selber unabhängig behaupten und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können?



    Bundesminister Frau Dr. Focke
    Ich erinnere auch daran, daß das ganze Problem der Gesundheitssicherung durch mehr Vorsorge und Früherkennung, durch bessere Krankenhausversorgung, durch ein regional und sozial gerechteres Angebot an modernen medizinischen Leistungen für alle Menschen nur dann gelöst werden kann, wenn, nach entsprechenden politischen Entscheidungen, auch durch Bürokratien — ich weiß nicht, warum dies ein so abwertendes Wort sein muß — dafür gesorgt wird, daß die Zuteilung gerechter erfolgen kann.