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ID0700910800

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Metadaten
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    Vokabeln: 6
    1. Das: 1
    2. Wort: 1
    3. hat: 1
    4. Herr: 1
    5. Bundesminister: 1
    6. Arendt.: 1
  • tocInhaltsverzeichnis
    Deutscher Bundestag 9. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1973 Inhalt: Verzicht des Abg. Augstein (Hamburg) auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag 243 A Fortsetzung der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung Opitz (FDP) . . . . . .. . . 243 B Dr. Wulff (CDU/CSU) . . . . . . 244 D Dr. Eppler, Bundesminister (BMZ) . 246 A, 249 D Dr. Freiherr von Weizsäcker (CDU/CSU) . . . . . . . . . 249 B Dr. Barzel (CDU/CSU) . . 250 B, 252 C, 257 A, 263 B Brandt, Bundeskanzler . 251 B, 262 B Wehner (SPD) . . . . 253 C, 262 B Scheel. Bundesminister (AA) . . . 257 A Dr. Mikat (CDU/CSU) . . . . . . 262 A Dr. Ehmke, Bundesminister (BMP) . 264 A Mischnick (FDP) . . . . . . . . 264 C Dr. Friderichs, Bundesminister (BMW) 264 D Dr. Narjes (CDU/CSU) . . . . . 268 D Junghans (SPD) 273 D Dr. Graf Lambsdorff (FDP) . . . 277 B Frau Dr. Wex (CDU/CSU) . . . 280 B Arendt, Bundesminister (BMA) . . 283 C Frau Dr. Focke, Bundesminister (BMJFG) . . . . . . . . 286 B Katzer (CDU/CSU) 288 D Dr. Schellenberg (SPD) 293 D Frau Funcke (FDP) 296 D Frau Eilers (Bielefeld) (SPD) . . 300 D Genscher, Bundesminister (BMI) . 303 B, 323 D Dr. Dregger (CDU/CSU) 307 C Dr. Schäfer (Tübingen) (SPD) . . 312 C Vogel (Ennepetal) (CDU/CSU) . . 318 A Dr. Hirsch (FDP) . . . . . . . 321 A Dr. Meinecke (Hamburg) (SPD) . 324 D Dr. Martin (CDU/CSU) 327 C Frau Schuchardt (FDP) . . . . . 331 A Dr. von Dohnanyi, Bundesminister (BMBW) 333 A Nächste Sitzung 336 C Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 337* Deutscher Bundestag — 7. Wahlperiode — 9. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. Januar 1973 243 9. Sitzung Bonn, den 25. Januar 1973 Stenographischer Bericht Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Adams * 26. 1. Dr. Ahrens ** 27. 1. Alber ** 27. 1. Amrehn ** 27. 1. Augstein (Hattingen) 26. 1. Behrendt * 26. 1. Blumenfeld ** 27. 1. Dr. Dollinger 10. 2. Dr. Enders ** 27. 1. Flämig * 26. 1. Gerlach (Emsiand) * 26. 1. Hösl ** 27. 1. Jung ** 27. 1. * Für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments ** Für die Teilnahme an Sitzungen der Beratenden Versammlung des Europarates Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordneter) beurlaubt bis einschließlich Kahn-Ackermann ** 27. 1. Dr. Kempfler ** 27. 1. Dr. h. c. Kiesinger 27. 1. Lampersbach 25. 1. Lemmrich ** 27. 1. Memmel * 26. 1. Dr. Miltner 2. 2. Dr. Müller (München) ** 27. 1. Pawelczyk ** 27. 1. Richter ** 27. 1. Roser ** 27. 1. Schmidt (Wattenscheid) 25. 1. Schmidt (Würgendorf) ** 27. 1. Dr. Schulz (Berlin) ** 27. 1. Sieglerschmidt ** 27. 1. Dr. Slotta 2. 2. Springorum * 26. 1. Stücklen 26. 1. Dr. Todenhoefer 24. 2. Frau Dr. Walz ** 27. 1. Westphal 26. 1. Frau Will-Feld 24. 2. Wolfram * 26. 1.
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    Rede von Dr. Helga Wex


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierungserklärung spricht von der Solidarität gegenüber dem Nächsten, von der Bereitschaft zum Mitleiden, von der Geborgenheit und sogar von der exakten Witterung für die Notwendigkeit, Grundwerte des Lebens zu bewahren. Gemeint sind u. a. der vitale Bürgergeist, die moralische Kraft eines Volkes. Solidarität, Mitleiden, Geborgenheit sind Kennzeichen eines Ethos, dessen Ursprung und vitalen Kern man nach dieser Regierungserklärung gar nicht dort suchen würde, wo er eigentlich liegt, nämlich in der Familie. Nach dieser Einsicht sucht man in der Regierungserklärung vergebens, soweit ich sehe. Liegt das nur am knappen Raum, der für die Themen Familie, Jugend, Erziehung und Gesundheit überhaupt zur Verfügung stand? Viel wichtiger, scheint mir, ist die Akzentverlagerung, die unter dem Wortschleier von familiären Tugenden vorgenommen wurde. Wo ist in einer solchen Perspektive, meine Damen und Herren, der Ort der Jugend, der Familie? Wie sieht man auf seiten der Bundesregierung die verschiedenen Rollen der Frau? Wie steht es um die brennenden gesundheitspolitischen Fragen?
    Der Herr Bundeskanzler spricht davon, daß es um die Freiheit im Alltag gehe. Dem können wir natürlich zustimmen. Aber was ist davon zu halten, wenn nicht mit einem Wort davon gesprochen wird, wie im Alltag diese Freiheit bewahrt werden kann, wenn man nicht mit einem Wort von der Institution spricht, die im Mittelpunkt dieses Alltags steht, von der Familie selbst?

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Es wäre wohl notwendig gewesen, ein Wort zur zukünftigen Rolle der Familie in der gesellschaftlichen Entwicklung zu sagen, z. B. wie bei der gegenwärtigen Preissituation die wirtschaftliche Grundlage auch der unvollständigen Familie gesichert werden soll, wie die Regierung die Kleinfamilie und die Mehrkinderfamilie und ihre Situation beurteilt, welche Aufgabe vor allem der Familie für die Erziehung der Kinder zukommt und welche Bedeutung sie der Frau als Hausfrau und Mutter zubilligt.

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

    Meine Frage ist: Folgt die Regierungserklärung der Wahlplattform der SPD vom Oktober 1972? Dort ist die Familie in den gesellschaftlichen Rahmen folgendermaßen eingeordnet:
    Unser Leben wird durch die zwischenmenschlichen Beziehungen unter Freunden und Bekannten, in Familie und Betrieb, in gesellschaftlichen Gruppen und im Staat geprägt.
    Diese Einordnung der Familie an der dritten Stelle nach Freunden und Bekannten ist, wie ich meine, wohl kein Zufall. Ist es ein Zeichen dafür, daß die Regierung die außerordentlich moderne Bedeutung der Familie für unsere gesellschaftliche Entwicklung nicht genügend erkannt hat? Denn moderne Familienpolitik kann nicht davon ausgehen, die Familie in den Rahmen anderer gesellschaftlicher Verbindungen hineinzupressen; sie nur als eine unter anderen zwischenstaatlichen Beziehungen gleichsam gleichwertig einzuordnen.



    Frau Dr. Wex
    Theodor Heuss hat die Familie „Herberge der Menschlichkeit" genannt. Dieser Satz ist aktueller und gültiger denn je. Sicherlich ist die Familie kein Selbstzweck, aber sie ist die Grundlage von Staat und Gesellschaft, das einzige Gegengewicht gegen den Trend, ,den Menschen zu kollektivieren und ihn zur Funktion der Gesellschaft, ,des Betriebs, der Wirtschaft zu degradieren. Es darf nicht darum gehen, die Familie und den einzelnen in noch straffere gesellschaftliche Organisationen einzupassen, sondern darum, die Freiheit im Alltag, wie es der Bundeskanzler ausgedrückt hat, zu verwirklichen. Dieser Freiheitsraum kann entweder in der Familie und mit der Familie geschaffen werden, oder aber er geht verloren.

    (Beifall bei ,der CDU/CSU.)

    In den letzten Jahren ist sehr viel von Reformen gesprochen worden, und dem Reformwillen stimmen wir ausdrücklich zu. Ich bin aber überzeugt, alle Reformen werden scheitern, wenn sie nicht auf der Grundlage einer intakten Familie aufbauen können.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Die Regierungserklärung, ,die für die neue Mitte, den vitalen Bürgergeist, die Lebensqualität und die gute Nachbarschaft viele Worte findet, schweigt oder murmelt allenfalls, wenn es um den zentralen Ort dieser Werte geht. Sie schweigt noch auffälliger, wenn man nach dem Wege fragt, auf dem die Bereitschaft zum Mitleiden, der solidarische Geist, die Geborgenheit erworben werden. Kann man ernsthaft meinen, dazu gehörte, statt ,der Erziehung in der Familie, in der Schule, in der Vielfalt menschlicher Gruppen, nur die Schärfung des politischen Bewußtseins?
    Wer in derart verkürzter Perspektive über Jugend, Familie und Erziehung spricht oder nicht spricht, dokumentiert damit doch den Willen, diese wichtige Wirklichkeit auszublenden. Das ist jedenfalls dann keine Frage ,der Redezeit, wenn soviel familiäre Töne über die Heimat der Gesellschaft, über das Recht auf Geborgenheit angeschlagen werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wer sparsam die Worte setzt, den muß man wörtlich nehmen. Dann ist die Tatsache, daß die Kernfragen der Familie und Erziehung völlig außer acht gelassen' werden, doch sehr beachtlich.
    Dies gilt auch für den Zusammenhang, in dem von der Reform des § 218 gesprochen wird:
    Neben einem Abbau kinderfeindlicher Tendenzen und dem Ausbau der Familienplanung bedarf es in dieser Legislaturperiode einer Reform des § 218.

    (Lebhafter Beifall bei Abgeordneten der Regierungsparteien.)

    Das bedeutet doch hoffentlich nicht, daß dieses fundamentale Problem unter dem Gesichtspunkt etwa der Familienplanung gesehen wird.

    (Zuruf von der SPD: Auch!)

    Mit dem Hinweis auf Familiensinn, Familienplanung, Familienlastenausgleich sind die Grundlagen der Familie nicht ausreichend fixiert.
    Dasselbe gilt für die Rolle, die man der Frau zuschreibt. So richtig ,die Bemerkung des Herrn Bundeskanzlers ist, die Gleichberechtigung der Frau sei über den Abbau rechtlicher Benachteiligung nur in einem verbesserten gesellschaftlichen Klima zu verwirklichen, so nötig wäre gerade bei dem sorgfältig formulierten, aber vielsagenden Lob des neuen Selbstbewußtseins und des politischen Engagements unter den Frauen ein aufmerksames Wort für die Hausfrauen gewesen. Die sind doch — wenn man
    so fragen darf — auch in dieser Gruppe der selbstbewußten und politisch engagierten Frauen zugelassen?

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Das ist keine polemische Frage. Denn wir gehen von der Gleichwertigkeit der berufstätigen Frau und der Hausfrau aus. Auch darf es nicht so sein, daß etwa die Kleinfamilie und die berufstätige Frau zum alleinigen Maßstab der Familienpolitik gemacht werden.
    Ich hoffe, daß die Bundesregierung mit uns einer Meinung ist, wenn ich sage, daß es für die Persönlichkeitsbildung der Frau nicht etwa unabdingbare Voraussetzung ist, sie von der Haushaltsführung und der Erziehung der Kinder zu befreien, sondern daß sie auch in der Erziehung der Kinder und dem Zusammenhalt der Familie eine bisher noch unersetzbare Aufgabe erfüllen kann. Aus diesem Grunde können wir auch keine Tendenzen unterstützen, die diese Funktion nur auf sogenannte gesellschaftliche Kräfte übertragen wollen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Auch der berufstätigen Frau sollte die Möglichkeit erhalten werden, ihre Kinder selbst zu erziehen. Dabei ist mir völlig klar, wie schwer das im Einzelfall sein wird.
    Gleichberechtigung! Wir stimmen wohl darin überein, daß zur Verwirklichung der Gleichberechtigung zunächst die Voraussetzungen für ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Mann und Frau geschaffen werden müssen. Partnerschaft heißt aber nach unserem Verständnis: mehr Verantwortungsbewußtsein füreinander. Es darf nicht etwa heißen, das Eheverhältnis oder den Familienverband leichter auflösen oder lockern zu können. Dieser Maßstab sollte auch die entscheidende Rolle spielen, wenn wir in den nächsten Monaten in diesem Hause über eine Änderung des Ehescheidungsgesetzes und über eine Änderung des § 218 beraten. Dabei muß darauf geachtet werden, daß nicht alte Abhängigkeiten durch neue ersetzt werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    In diesen Zusammenhang gehört die Abschaffung der Leichtlohngruppen, um den arbeitenden Frauen in unserem Lande das Gefühl der Minderbewertung zu nehmen. Dazu hat der Herr Bundeskanzler leider nichts gesagt. Aber dieses Thema beschäftigt uns ja schon seit Jahrzehnten. Ich möchte den Bundeskanzler an dieser Stelle an einen Brief vom 8. Juni



    Frau Dr. Wex
    1971 erinnern, auf den Frau Focke geantwortet hat. Er betrifft einen Entschließungsantrag des Europäischen Parlaments vom 19. April 1971, der sich mit der Verwirklichung des Grundsatzes des gleichen Arbeitsentgelts für Männer und Frauen, wie er in Art. 119 des EWG-Vertrages niedergelegt ist, befaßt. Ich möchte heute an diesen Brief erinnern, damit die vielen Initiativen auf diesem Gebiet endlich einmal zu einem Erfolg führen. Ich sage das in diesem Zusammenhang, weil der Herr Bundeskanzler in Paris von einem „sozialen Europa" gesprochen hat. Gerade dieses Gebiet möge in dieser Initiative nicht vergessen werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Der Bundeskanzler hat die soziale Sicherung der Frau erwähnt. Das ist der zweite wichtige Punkt zur Herstellung der Gleichberechtigung. Man sollte dieses Problem nicht allein in das Fach „Langfristig" einordnen, sondern es vielmehr mit dem Stempel „Vordringlich" versehen. Wir sind der Auffassung, daß die eigenständige soziale Sicherung der Frau unter den gegenwärtigen Bedingungen nur in Stufen verwirklicht werden kann, um sie bei Invalidität, Krankheit und im Alter zu sichern. An erster Stelle muß nach unserer Auffassung der Schutz der Hausfrau vor Invalidität stehen. Deshalb sollte eine eigenständige Pflichtunfallversicherung eingeführt werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Weiter muß die soziale Sicherung der Frau im Krankheitsfalle verbessert werden. Eine berufstätige Mutter, die ein krankes Familienmitglied zu Hause pflegt, sollte von der Krankenversicherung ein Pflegegeld in Höhe des Krankengeldes erhalten.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Schließlich sollte eine ausreichende soziale Sicherung jeder Frau im Alter angestrebt werden. Hier stellen wir uns vor, daß das Prinzip der Zugewinngemeinschaft auch im Sozialversicherungsrecht gelten sollte. So entsteht ein vom Mann unabhängiger Rentenanspruch.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Beim Studium der Regierungserklärung fällt auf, daß an keiner Stelle das Wort „Erziehung" zu finden ist. Statt dessen wird von Menschen gesprochen, „die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten". Das sind alles wichtige Eigenschaften. Aber wie, so frage ich mich, wollen Sie denn zu diesem Bürger kommen, wenn sie ihn nicht auf diese Aufgabe vorbereiten

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    und ihn nicht fit machen, in unserer Gesellschaft zu bestehen, in der ja auch nach den Worten des Bundeskanzlers Leistung eine bedeutende Rolle spielen soll? Etwa durch „Abwesenheit von Erziehung?" Sie sprechen davon, daß wir dem angelsächsischen „citizen" und dem französischen „citoyen" nähergerückt seien. Aber wir wissen doch alle, was für eine Rolle die Erziehung in diesen Ländern spielt.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Wir sollten uns auch in der Bundesrepublik nicht davor scheuen, zu fragen, was die Erziehung für den einzelnen, für die Familie, die Gesellschaft und für den Beruf bedeutet.
    Wir sehen in den Worten des Bundeskanzlers „Demokratie braucht Leistung" wohl einen wichtigen Ansatzpunkt. Aber wir können von der jungen Generation keine Leistung und keine Partnerschaft erwarten, wenn ihr nicht auch in der Erziehung diese Prinzipien nähergebracht werden.
    Unter diesem Gesichtspunkt gilt es den Erziehungsauftrag der öffentlichen Einrichtungen neu zu definieren. Es darf nicht einfach hingenommen werden, daß viele Schulen vor ihrer Erziehungsaufgabe kapitulieren, wofür — das weiß ich sehr genau — die Gründe sehr differenziert sind. Ich will die Gründe in diesem Zusammenhang nicht näher untersuchen, aber ich meine doch, wir dürfen nicht länger zusehen, daß die Lehrerbildung zum Teil in einer Weise betrieben wird, die die Eltern verschreckt und die Kinder nicht zum Urteil, sondern zum Vorurteil erzieht. Wie sollen wir als Politiker unserer Verantwortung gegenüber den jungen Menschen gerecht werden, wenn wir es zulassen, daß Schule und Elternhaus nicht miteinander, sondern zum Teil gegeneinander arbeiten, und wenn wir es zulassen, daß Schulen ein Feindbild vom Elternhaus zeichnen? Ist es dann ein Wunder, wenn Leistungsverweigerung und Realitätsverlust bis hin zur Droge eintreten? Eine der Ursachen hierfür liegt in der Unsicherheit, was und wie Erziehung heute sein sollte. Ein Angebot konkreter Inhalte sollte vorhanden sein und Vorrang vor jeder Organisationsveränderung haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Der Bundeskanzler hat in der Regierungserklärung gesagt: „Man muß wieder lernen, Solidarität gegenüber dem Nächsten zu üben." Damit sind wir voll einverstanden. Aber auch dies ist eben eine Frage der Erziehung.
    Auf die Bildungs- und Jugendpolitik werden die Kollegen Martin und Rollmann im Laufe der Debatte noch eingehen.
    Erziehung zur Solidarität und zur Hilfe am Nächsten wird sich in unserer Gesellschaft positiv auswirken, z. B. im Bereich der sozialen Dienste.
    Die Situation in den Krankenhäusern und in den Beratungsstellen sowie in den Betreuungsstätten für alte Menschen zwingt, vom Mitleiden zum politischen Handeln überzugehen. Politisch heißt hier, den in diesem Dienste Tätigen Anreize, auch materielle Anreize neben der Erziehung zu der Bereitschaft, soziale Dienste zu übernehmen, zu bieten,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    etwa ein Anrecht auf eine Wohnung im sozialen Wohnungsbau oder bevorzugte Berücksichtigung bei der Vergabe von Studien- und Ausbildungsplätzen. Denn je mehr unsere Gesellschaft die Form einer Dienstleistungsgesellschaft annimmt, um so dringender ist diese Gesellschaft auf die Bereit-



    Frau Dr. Wex
    schaft ihrer Mitbürger angewiesen, diese Leistungen wirklich zu erbringen.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Auf diesem Gebiet leisten die sozialen Einrichtungen der karitativen Organisationen und der freien Wohlfahrtspflege schon hervorragende Arbeit, die wir dankbar anerkennen. Der Bundeskanzler hat dies auch erwähnt: Diese sollen vom Staat nicht angetastet werden. Aber eine solche Formulierung ist nicht klar genug. Sie sollten vom Staat nicht nur nicht angetastet werden, sondern vom Staat als vollwertige Partner bei den Zukunftsaufgaben akzeptiert und eingeschaltet werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Von der Weiterentwicklung und den politischen Maßnahmen im Bereich der sozialen Dienste wird die Funktionsfähigkeit unseres Gesundheitswesens abhängen. Ohne diese Bereitschaft zu den sozialen Diensten wird unser Gesundheitswesen überhaupt nicht weiterentwickelt werden können. Vor dem Hintergrund der Tagungen von Marburg und Köln sowie der Heidelberger Studie zum Gesundheitswesen hat das Wort des Herrn Bundeskanzlers „Am Grundsatz der freien Arztwahl und einer freien Ausübung der Heilberufe wollen wir festhalten" eine gewachsene Bedeutung. Wir vermissen aber bei der gegenwärtigen Lage ein Wort dazu, daß das Verhältnis zwischen Arzt und Patient nicht durch Entwicklungen belastet werden darf, die mit Wissenschaft und Medizin nur noch zum Teil etwas zu tun haben und dabei Gefahr laufen, den einzelnen Menschen aus dem Auge zu verlieren. Er nämlich muß es sein, der im Mittelpunkt der gesundheitspolitischen Diskussion steht, auch bei der notwendigen Verbesserung der Struktur des Krankenhauses und der Effizienz des Gesundheitswesens.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Mit Ihrer Regierungserklärung haben Sie, Herr Bundeskanzler, auch in diesen Bereichen ein sozusagen wohltemperiertes Weltbild gezeichnet, in dem einiges angedeutet ist, dem aber insgesamt eine aussagekräftige Struktur fehlt, besonders auf diesem wichtigen Gebiet der Gesellschaftspolitik. Weder sind für uns die inneren Verbindungslinien zu erkennen, noch wird das Ziel einer auf Grundsätzen beruhenden Gesellschaftspolitik deutlich. Deutlich wird das Bestreben, die Gesellschaft der Bundesrepublik mit einer neuartigen, übergreifenden und umformenden Art — lassen Sie mich das in diesem Zusammenhang sagen — von Familienideologie auszustatten.

    (Beifall bei der CDU/CSU.)

    Sie haben mit erstaunlichem Mut die gegenwärtige Situation der Gesellschaft ausgeklammert und drängende Fragen offengelassen. Sie haben zwar versprochen, den Staat zum Besitz aller zu machen, aber wir werden aufpassen müssen, daß der Staat nicht zum Besitzer aller wird.

    (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)



Rede von Dr. Richard Jaeger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat Herr Bundesminister Arendt.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Walter Arendt


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Aussprache über die Regierungserklärung dürfen Grundsätze und Aufgabenstellungen der Bundesregierung nicht verloren gehen. Lassen Sie mich deshalb zu Beginn meiner Ausführungen einen Überblick über unsere sozial- und gesellschaftspolitischen Zielsetzungen geben. In der vergangenen Legislaturperiode lag neben der Schaffung einer neuen, einer besseren Betriebsverfassung ein besonderer Schwerpunkt unserer Arbeit auf dem Gebiet der sozialen Sicherung: ihre Ausdehnung auf bisher nicht geschützte Personenkreise, ihre Anpassung an die wirtschaftliche Entwicklung, die Modernisierung des Leistungsrechts und die Stärkung der Vorsorge. Das Rentenreformgesetz, die Dynamisierung der Kriegsopferversorgung und die Weiterentwicklung der Krankenversicherung stehen als markante Beispiele.
    Die Grundsätze der Sozialpolitik der 6. Legislaturperiode werden insoweit auch Richtschnur für die nächsten vier Jahre sein. Die sozialpolitische Arbeit des neuen Gesetzgebungsabschnittes wird aber ihren eigenen spezifischen Akzent haben. Ich darf das an Hand einiger Thesen erläutern.
    Meine Damen und Herren, wir wollen die Stellung des Arbeitnehmers in unserer Gesellschaft festigen und ausbauen. Der zentrale Punkt wird dabei die Ausdehnung der Mitbestimmung sein.
    Wir wollen uns besonders der Arbeitsumwelt annehmen. Wo staatliches Handeln möglich ist, will die Bundesregierung das ihre zur Humanisierung des Arbeitslebens beitragen. Sie wird sich dabei auf die Kräfte der Tarifparteien und der Selbstverwaltung stützen.
    Wir wollen unsere Wirtschaftsordnung gerechter gestalten. Deshalb wollen wir breite Schichten am Zuwachs des gemeinsam erarbeiteten Produktivvermögens beteiligen.
    Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten, daß unsere Gesellschaft menschlicher wird. Wir werden uns deshalb verstärkt den Behinderten, den vom Strukturwandel betroffenen Menschen und den ausländischen Arbeitnehmern zuwenden.
    Wir wollen uns dafür einsetzen, daß die Europäische Gemeinschaft eine demokratische und soziale Komponente erhält, daß Europa mehr als bisher zur Heimstatt der Arbeitnehmer wird.
    Wenn Sie, meine Damen und Herren, dazu noch die Weiterentwicklung der sozialen Sicherung nehmen, die ich bereits erwähnt habe, so haben Sie einen Überblick liber unsere Gesamtkonzeption für diese Legislaturperiode.
    Nun, meine Damen und Herren, zu den einzelnen Punkten.
    Die Rechte und Entfaltungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer in unserer Gesellschaft müssen ausgebaut und gefestigt werden. Im Mittelpunkt steht für mich dabei die humane und gerechte Gestaltung der Verhältnisse in der Arbeitswelt. Wir wollen den mündigen Bürger. Bei dieser Zielsetzung darf der Bereich des Arbeitslebens nicht ausgespart blei-



    Bundesminister Arendt
    ben. Es widerspräche den Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft, wollte man Mitgestaltungsansprüche des Bürgers etwa nur auf seinen Freizeitbereich verweisen. Millionen von Arbeitnehmern sind durch die Erfahrungen im Arbeitsleben geprägt: durch ihre Chancen, sich beruflich und persönlich zu entfalten; durch ihre Möglichkeiten, auf die Bedingungen der Arbeit Einfluß zu nehmen; durch die Sorge, ausreichend finanziell, sozial und rechtlich gesichert und gesundheitlich geschützt zu sein.
    Deshalb wird die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen Kernstück unserer Sozialpolitik in den kommenden vier Jahren sein.
    Nachdem die Mitwirkung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer innerhalb der Betriebe in der vorigen Legislaturperiode durch das neue Betriebsverfassungsgesetz entscheidend verbessert worden sind, soll nunmehr der Grundsatz der Gleichwertigkeit und Gleichgewichtigkeit von Arbeit und Kapital auch auf der Ebene des Unternehmens seinen Ausdruck finden.
    Meine Damen und Herren, es ist bekannt, daß zwischen den gesellschaftlichen Gruppen diese Mitbestimmung durchaus kontrovers beurteilt wird. Es gibt verschiedene Mitbestimmungsmodelle. Man weiß von unterschiedlichen Auffassungen auch innerhalb der CDU/CSU-Fraktion.
    Die Regierungskoalition verhehlt nicht, daß auch in ihren Reihen die Diskussion noch nicht abgeschlossen ist. Ich bin aber sicher, meine Damen und Herren: Wir werden — wie beim Betriebsverfassungsgesetz — zu einer befriedigenden Lösung kommen. Die Mitbestimmungsfrage wird nicht ausgeklammert.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)

    Durch die Arbeiten an der Mitbestimmung darf nicht die Aufgabe vernachlässigt werden, die Rechtsstellung der Arbeitnehmer entsprechend der sozialen Wirklichkeit in einer modernen Industriegesellschaft neu zu gestalten. Die Arbeiten am Sozialgesetzbuch werden ebenso wie die Arbeiten am Arbeitsgesetzbuch intensiv fortgesetzt. Die Schaffung eines umfassenden Arbeitsgesetzbuches ist eine anspruchsvolle und längerfristige Aufgabe, die nicht von heute auf morgen gelöst werden kann. Wir werden aber in dieser Legislaturperiode damit fortfahren, das gesetzliche Arbeitsrecht in den Bereichen fortzuentwickeln, in denen eine Initiative des Gesetzgebers besonders dringlich ist. Ich meine hier vor allem das Recht des Arbeitsverhältnisses.
    Ferner wollen wir den Schutz der arbeitnehmerähnlichen Personen — wie etwa der Gruppen der freien Mitarbeiter an Tageszeitungen, bei Funk und Fernsehen, der Handelsvertreter und auch der freien Schriftsteller - dadurch stärken, daß auch für sie die Möglichkeit geschaffen wird, ihre Beschäftigungsbedingungen durch Tarifvertrag zu regeln. Dies steht nicht zuletzt in einem Zusammenhang mit den Bestrebungen der freiberuflich geistig und kulturell Schaffenden, sich zu organisieren, um eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen zu erreichen.
    Meine Damen und Herren, die Forderung nach einer sicheren, menschenwürdigen Umwelt beziehen Millionen von Arbeitnehmern mit Recht zuerst auf ihren Arbeitsplatz, auf ihre Arbeitsumwelt. Wir werden den Arbeitsschutz und die Arbeitssicherheit durch gesetzliche Regelungen, Forschung und Aufklärung weiter verbessern. Wir werden in Kürze den Gesetzentwurf über Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit wieder einbringen. Alle Betriebe sollen zum Ausbau des medizinischen und technischen Schutzes ihrer Arbeitnehmer verpflichtet werden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Besonders ernst nehme ich dabei die Sorge um die jugendlichen Arbeitnehmer. Die heutigen Vorschriften zum Jugendarbeitsschutz entsprechen nicht mehr den veränderten Verhältnissen im Arbeitsleben. So kommt z. B. häufig der Ausbildungsanspruch der Jugendlichen zugunsten der wirtschaftlichen Ansprüche der Betriebe zu kurz. Wir werden deshalb das Jugendarbeitsschutzgesetz novellieren und uns dafür einsetzen, daß seine Vorschriften besser eingehalten werden.
    Dem Ziel, die Position des Arbeitnehmers in der Gesellschaft zu festigen, dient auch die Vermögenspolitik der Bundesregierung. Die Marktwirtschaft, das zeigt die öffentliche Diskussion, bedarf der sozialen Korrektur. Eigentum am gemeinsam erarbeiteten Zuwachs des Produktivvermögens muß schon im Ursprung gerechter auf alle verteilt werden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die Vermögenspolitik wird in der neuen Legislaturperiode damit einen neuen Ansatz finden. Dabei werden wir an die Eckwertbeschlüsse der Bundesregierung vom Juni 1971 anknüpfen können. Dazu kommen die erheblichen Auswirkungen des 624-DMGesetzes, dessen Bedeutung auch in der nächsten Zeit noch weiter zunehmen wird.
    Mehr Gerechtigkeit und Leistungsfähigkeit brauchen wir auch in der sozialen Sicherung. Die Weiterentwicklung der Krankenversicherung gehört dazu. Hier stehen wir auch in der neuen Legislaturperiode vor zwingenden Aufgaben.
    Der Wandel unserer Lebens- und Arbeitsbedingungen stellt neue Anforderungen an die Gesundheitssicherung. Der medizinisch-technische Fortschritt schafft neue Möglichkeiten. Beides, meine Damen und Herren, bedeutet für lange Zeit erhebliche Kostensteigerungen. Das kann nicht ohne Folgen für Leistungen und Finanzierung der sozialen Krankenversicherung bleiben.
    Soziale Sicherung durch die gesetzliche Krankenversicherung wird für die heute noch ausgeschlossenen Personengruppen immer wichtiger. Deshalb müssen wir in den nächsten Jahren Möglichkeiten der Ausdehnung und der Öffnung prüfen.
    Leistungsverbesserungen sind insbesondere bei der Früherkennung von Krankheiten und bei der Gesundheitsvorsorge nötig. Andere Verbesserungen zeichnen sich ab, meine Damen und Herren, wenn ich z. B. an das neue Rehabilitationsgesetz oder an die Initiativen aus der Mitte des 6. Deutschen Bundestages erinnere.



    Bundesminister Arendt
    Die Sicherstellung der ärztlichen Versorgung in Stadtrand- und Landgebieten muß garantieren, daß alle Bürger möglichst gleiche Chancen in der Gesundheitssicherung haben.
    Bei all diesen Fragen wird die Bundesregierung großen Wert auf die Hilfe durch die Sachverständigenkommission zur Weiterentwicklung der Krankenversicherung legen.
    Auch nach der Reform der Rentenversicherung in der vorigen Legislaturperiode werden wir die Alterssicherung in den nächsten Jahren weiter verbessern.
    In der Rentenversicherung bleiben zunächst allerdings einige nötige Aufräumungsarbeiten aus der Verkrampfung der letzten Legislaturperiode im vorigen September.

    (Zurufe von der CDU/CSU.)

    Die finanziellen Auswirkungen der Rentenreform
    aus der vergangenen Legislaturperiode werden wir
    in den nächsten Jahren sorgfältig im Auge behalten.
    Neben einigen Anpassungen und Verbesserungen im Rentenbeitrags- und Leistungsrecht stehen wir vor der großen Aufgabe — meine Damen und Herren, wir alle —, gemeinsam nach Wegen für mehr eigenständige soziale Sicherung für die Frau zu suchen. Dazu wird die Sicherung der Frau im Falle der Ehescheidung ein wichtiger Baustein sein.
    In der betrieblichen Altersversorgung werden wir schon bald die in der vorigen Legislaturperiode vorbereiteten Absicherungen vorlegen. Dabei geht es vor allem um die Unverfallbarkeit der Versorgungszusagen bei Arbeitsplatzwechsel der Anspruchsberechtigten.
    Auch bei einem umfassenden System sozialer Sicherung müssen wir uns weiterhin den Problemen zuwenden, die sich aus der besonderen Situation einzelner Gruppen ergeben, die trotz Vollbeschäftigung und wirtschaftlichem Wachstum im Schatten stehen. Ich will dabei zwei Gruppen besonders erwähnen: die Schwerbeschädigten und die Behinderten. Wir haben schon im Jahre 1970 für die Behinderten unsere Vorhaben in einem Aktionsprogramm zusammengefaßt und der Öffentlichkeit übergeben. In der letzten Legislaturperiode waren wir dabei, dieses Aktionsprogramm Schritt für Schritt zu verwirklichen. Diesen Weg werden wir fortsetzen. Es werden Ihnen demnächst das Gesetz zur Angleichung medizinischer und .beruflicher Leistungen zur Rehabilitation und eine Novelle zum Schwerbeschädigtengesetz vorgelegt. Die Vorarbeiten hierzu sind schon sehr weit gediehen. Wir werden aber auch prüfen, wieweit die vielen, von Geburt an körperlich, geistig oder seelisch Behinderten in den Schutz der sozialen Sicherung einbezogen werden können. Ein Gesetz über die soziale Sicherung der Behinderten, die in beschützenden Werkstätten tätig sind, wird ein erster Schritt sein. Ein ausgebautes Netz von Rehabilitationseinrichtungen für alle Bereiche der Rehabilitation soll dazu beitragen, die betroffenen Menschen besser in unsere Gesellschaft und in den Arbeitsprozeß einzugliedern.
    Meine sehr verehrten Damen und Herren, Aufgaben besonderer Art stellen sich uns im Zusammenhang mit einer anderen Gruppe in unserem Lande: den ausländischen Arbeitnehmern. Fast 2½
    Millionen sind inzwischen in unserer Wirtschaft beschäftigt. Dabei wird immer deutlicher, daß die Aufnahmefähgkeit der sozialen Infrastruktur mit der Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes nicht Schritt hält. Die ausländischen Arbeitnehmer dürfen aber nicht zu einer Randgruppe unserer Gesellschaft werden.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU.)

    Wir werden deshalb bald prüfen, welche Maßnahmen erforderlich sind, um das Interesse an der Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer mit der Notwendigkeit ihrer angemessenen Eingliederung in unsere Gesellschaft in Einklang zu bringen. Die Zuwanderung von ausländischen Arbeitnehmern muß daher an die Aufnahmefähigkeit der sozialen Infrastruktur angepaßt werden.

    (Beifall bei der SPD.)

    Die Bundesregierung, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat bereits Schritte in dieser Richtung unternommen:
    Seit April 1971 sind die Richtlinien für angemessene Unterkünfte den modernen Mindestanforderungen angepaßt worden,
    Bis November 1972 war es den Staatsangehörigen von Anwerbeländern möglich, eine Beschäftigung in der Bundesrepublik aufzunehmen, ohne die Anwerbekomrnission der Bundesanstalt für Arbeit einzuschalten. Davon hat im Jahre 1971 rund ein Drittel aller neu Einreisenden Gebrauch gemacht. Dieser Weg ist grundsätzlich gesperrt worden. Nun ist die Einschaltung der Bundesanstalt für Arbeit zwingend erforderlich. Das hat zur Folge, daß bei der Vermittlung des weitaus größten Teils der ausländischen Arbeitnehmer die Unternehmer z. B. angemessene Unterkünfte für die anzuwerbenden Arbeitskräfte nachweisen müssen.
    Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird weitere Schritte unternehmen, um ein gesellschaftspolitisch sinnvolles Gleichgewicht zwischen der Aufnahmefähigkeit der Infrastruktur und den berechtigten Forderungen unserer ausländischen Mitbürger herzustellen. Einen Schwerpunkt werden dabei die Ballungsgebiete bilden, in denen Norm und Wirklichkeit am weitesten auseinanderklaffen.
    Auf dem Gebiet der internationalen Sozial- und Gesellschaftspolitik ist unser Blick vor allem auf die Europäische Gemeinschaft gerichtet. Die fortschreitende europäische Integration muß über eine Wirtschafts- und Währungsunion hinausgehen. Auf deutsche Initiative hin hat die Pariser Gipfelkonferenz im Oktober die Organe der Gemeinschaft aufgefordert, ein sozialpolitisches Aktionsprogramm zu erstellen. Stichworte, die dieses Programm auffüllen, sind: eine abgestimmte Politik auf dem Gebiete der Beschäftigung und der Berufsausbildung, eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen und die Mitwirkung der Arbeitnehmer in den Organen der Unternehmen.



    Bundesminister Arendt
    Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß folgendes unterstreichen. Wir brauchen keinen neuen Anfang auf dem Felde der Sozial- und Gesellschaftspolitik. Wir können uns auf das Vertrauen breiter Schichten unseres Volkes stützen. Wir wissen aber auch, daß das kein blindes Vertrauen ist. Die Bundesregierung hat in der letzten Legislaturperiode ihren Willen und ihre Leistungsfähigkeit zu Reformen in den wichtigen Bereichen der Gesundheitssicherung und der Alterssicherung, in der Vermögensbildung und der Betriebsverfassung bewiesen. Auf diesem Wege können, müssen und werden wir weitergehen.

    (Beifall bei der SPD.)

    Wir können und wollen dies nicht im Alleingang tun. Im Rahmen der sozialpolitischen Gesprächsrunde werden wir das Gespräch mit den großen Gruppen in unserer Gesellschaft fortsetzen. Ich hoffe aber auch, meine Damen und Herren, auf die Mitarbeit der Opposition in diesem Hohen Hause.
    Im Herbst dieses Jahres werde ich dem Parlament wieder einen Sozialbericht vorlegen, der das gesellschaftspolitische Programm der Bundesregierung eingehend erläutert. Das Sozialbudget wird zeigen, daß die Sozialpolitik und die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung aufeinander abgestimmt sind. Sie alle, meine Damen und Herren, werden erkennen, daß es in der Sozial- und Gesellschaftspolitik in den nächsten Jahren keinen Stillstand geben wird.

    (Beifall bei den Regierungsparteien.)